Wenn ich meine Notizen zu mehr als siebzig Fällen überfliege, in denen ich während der letzten acht Jahre die Methoden meines Freundes Sherlock Holmes studiert habe, so stelle ich fest, daß viele tragisch waren, einige komisch, eine große Anzahl schlicht seltsam, aber keiner gewöhnlich; da er nämlich eher aus Liebe zu seiner Kunst arbeitete, denn um Reichtum zu erwerben, lehnte er es stets ab, Teil an einer Nachforschung zu haben, die nicht in den Bereich des Ungewöhnlichen oder gar des Phantastischen fiel.
Das gesprenkelte Band
Viel ausgeprägt noch als die periodisch wiederkehrende Thoreau Renaissance, ist nur noch die Sherlock Holmes’. So gibt es beispielsweise einen eigenen Artikel bei Wikipedia namens “Sherlock Homes Medien”, der sich nur der fortlaufenden Rezeption dieser legendären Detektivfigur widmet: Hörspiele, neue Romane, Filme und Serien, Musik, Kunst, Gesellschafts- und Computerspiele. Allein die 217 Filme machen ihn zum Weltrekordhalter des Adaptiertwerdens, Ende nicht in Sicht. Einen besonderen Wirbel hat auch die gefeierte BBC-Serie Sherlock wieder in Deutschland ausgelöst, der Eigenbrödler im modernen London mit Smartphone und dem ewigtreuen Watson unterwegs, hat trotz der verhältnismäßig geringen Zahl an Episoden bereits eine große Anhängerschaft. Sat1 strahlt die Serie Elementary aus, in der Sherlock in New York nach einer Entziehungskur dem NYPD als beratender Detectiv zur Hand geht, an seiner Seite die weibliche Suchtbetreuerin Dr. Joan Watson (Lucy Liu).
Inmitten dieser Flut von Neubearbeitungen sollte man aber, statt Episodenguides und Vorankündigungen, mal wieder die Originale von Sir Arthur Conan Doyle zur Hand nehmen. Vereinfachte englischsprachige Geschichten las ich in der siebten Klasse, die Lektüre eines Sammelbandes dürfte inzwischen auch deutlich über zehn Jahre zurückliegen und so habe ich mir mal wieder die Primärquellen zu Gemüte geführt. Mit einem modernen Thriller oder Krimi haben diese Geschichten außer dem Genre nicht viel gemein. Arbeiten Krimiautoren heute an immer besser konstruierten Fällen und Verwicklungen, neuen Schockern und Wendungen, ist die Lösung eines Falles hier – deus ex machina – meist nur auf die Genialität des großen SH zurückzuführen. Scheint seine Gabe der Deduktion in den obengenannten Serien meist deutlich überzeichnet, ist sie doch 1:1 der Vorlage entnommen. Watson und der Leser können nur staunen, “wie hat er das wieder gemacht?”. Leser von Spannungsliteratur dürften immer wieder enttäuscht werden, zum Mitknobeln gibt es hier nichts und die Haare stellen sich einem auch nicht zu Berge. Wenn man dem Meisterdetektiv aber vertraut, wird man immer wieder bestens unterhalten.
Selbst bei zwölf Geschichten am Stück kommt keine Langeweile auf, vielmehr liest man eine nach der anderen. Denn die Stimmung im nebligen London, der kongeniale Partner Watson und die abstrusen Fälle, von denen sich aber viele, ganz Zeitgeist, immer wieder um arme Frauen, die von bösen Ehemännern um ihr Erbe gebracht werden sollen (hierzu lese man unbedingt auch Wilkie Collins’ – Die Frau in Weiß!), schaffen ihre ganz eigene Stimmung und Spannung.
Daher lebt der Meisterdetektiv als Klassiker, als Prototyp des Schnüfflers, immer schlauer als die Polizei, bis heute in immer neuen Formen fort, weil er in seiner Verschrobenheit so sympathisch bleibt, weil seine Fälle so obskur wie zeitlos sind, dass sie sich keiner Neuinterpretation verweigern. Und wer die alten Sherlock Holmes Geschichten wiederliest, findet nicht nur viele Parallelen zu den neuen Serien, sondern kann vielleicht auch bei diesen verbotenerweise spoilern. Sherlock Holmes will never go out of style.