Siegfried Lenz und ich sind Neu-Hamburger; er als er 1951 herzog, ich heute. Wir sind, in seinem Fall besser waren, Zugezogene in einer Stadt, die sich selbst als schönste Stadt der Welt bezeichnet, einer in welcher der Schmuddel von St. Pauli auf die weißen Direktorenvillen an der Alster trifft, der derbe Hafenarbeiter auf den pikfeinen Großbürger. Mich hat Hamburg, ohne es zu merken, herzlich aufgenommen, ein reiches Kulturprogramm, eine bunte Szene auf der Schanze und in Eimsbüttel (passenderweise wohne ich auf der Grenze der beiden Stadteile), ein Elbjazz Festival, verschiedene Konzerte und bereits viele unverhoffte Treffen mit interessanten und netten Menschen in den ersten zwei Monaten, viel mehr braucht es nicht, um mich fürs erste zu überzeugen. Und doch merkt auch der Zugezogene schnell, dass es in dieser Stadt brodelt. Gentrifizierung und Grabenkämpfe um die Rote Flora, ständiges Verkehrschaos und die bräsige Zufriedenheit mit dem status quo, vor allem aber die Kluft zwischen Arm und Reich in einzelnen Stadtteilen.
Besonders eklatant wird dieser nun durch die Politik herausgestellt: in der Sophienstraße in Harvestehude soll ein Asylbewerberheim angesiedelt werden und die gutbetuchten Anwohner laufen Sturm, mal offen fremdenfeindlich, mal unter dem Deckmantel des Schutzes der armen Armen, die sich einem solchen Überfluss des Luxusses ausgesetzt sehen, nicht mal einkaufen können. Außerdem werde doch Neid geschürt, Diebstähle und Raubüberfälle würden die logische Folge sein.
Statt diese Entwicklung, die Argumente der Gegner und Befürworter politisch bewerten zu wollen, will ich lieber von einer 40 Jahre alten Geschichte berichten, die sich auch ins Heute übertragen ließe. Vielleicht bringt sie die einen zum Schmunzeln über “Die da oben” und die anderen zum Umdenken und etwas Selbstironie
Passenderweise saß ich im Haynspark an der Alster als ich die Erzählung Meine Straße von Siegfried Lenz aus Die Flut ist pünktlich las. Im Jahr 1973 suchte Siegfried Lenz in Hamburg eine neue Wohnung. Jedes Viertel wäre ihm recht gewesen, nur nicht der Elbvorort, diese Luxusgegend Othmarschen, in der er heute wohnt. Schon damals war Lenz gefeierter Autor, Deutschstunde war bereits erschienen, ebenso viele seiner berühmten Kurzgeschichten. Als Lenz nun in das neue Viertel zieht, muss er sich dieses, vor allem die neue Nachbarschaft, erst erschließen, nur langsam kommen er und seine Frau an: doch wer unsere Nachbarn wirklich waren, das erfuhren wir lange nicht. Aus der Draufsicht des Fremden in diesem Viertel beschreibt Lenz die Gegend, beobachtet die Menschen und kauft beim Fischsalon oder beim Milchmann ein. Erst nach sechs Jahren lernt das Ehepaar Lenz die ehemaligen Prokuristen und Direktoren einer Zigarettenfabrik wirklich kennen, die um sie herum wohnen, den Zahnarzt und die verwitwete Inspektorenfrau, die überaus reizende dänische Frau eines hervorragenden Müllverbrennungsspezialisten. Lenz analysiert den Sperrmüll vor den Villen und staunt über die Größe der Geldscheine, mit denen hier bereits die Kinder zahlen.
Die Beobachtungsgabe des Ostpreußen Lenz, die bereits aus diesen zwanzig Seiten heraustritt, ist das Geheimnis seiner vielen Erzählungen und Kurzgeschichten. Das Besondere an Meine Straße ist der Humor, ohne offene Bösartigkeit wird sich über die Nachbarn echauffiert und ihr Dünkel enttarnt. Der Autor ist so sympathisch, weil er offensichtlich nicht dazugehört und das auch nicht will, er beobachtet nur. Er frotzelt, aber er ist nicht neidisch.
Die verläßliche Freundlichkeit der Gastarbeiter beeindruckt mich noch jedesmal. Sie sind allemal dabei, wenn in meiner Straße gebaut wird, wenn Leitungen verlegt oder repariert werden. Was müssen sie entbehren, wenn sie auf ein knappes Kopfnicken schon mit ausschweifender Freundlichkeit antworten? Wie muß ihnen die Straße vorkommen, in der Leute im Tennisdreß einkaufen oder, über den großen Onkel latschend, Reitkostüm und Gerte spazierenführen? Welche Gedanken erfüllen sie beim Anblick der teuren Rassehunde, die zwar keine Rolexuhren tragen, doch mitunter aufgeputzt sind, als gingen sie zu einem Hunde-Cocktail?
Man kann dem Menschenfreund Lenz nur wünschen, dass sein Asylgesuch in Othmarschen inzwischen positiv beschieden wurde oder er kann zu uns nach Eimsbüttel ziehen, wir haben ein Schlafsofa. Vielleicht können wir dann auch mal gemeinsam durch Harvestehude schlendern und eine besonders vielversprechende Villa für unseren ersten gemeinsamen Bruch auskundschaften.