Stoner von John Williams

Die Leute flippen ja förmlich aus. Ein Roman, dessen Qualität so außerordentlich ist, dass er alles überragt; einer der großartigstens Romane, die in den letzten fünfzig Jahren veröffentlicht wurden (The Dallas Morning News), ein vollkommener Roman (New York Times Book Review)- fehlt nur noch, dass jemand dieses Buch, das doch schon eben besagte fünfzig Jahre auf dem Buckel hat, zum größten allerzeiten ausruft. So viel vorweg: ich werde das bestimmt nicht sein!

stoner cover dtv john williamsWilliam Stoner ist der einzige Sohn eines Bauern irgendwo in den Weiten der Farmen im Mittleren Westen der USA. Sein Vater schickt ihn auf die Universität, damit der Junge Agrarwirtschaft studieren kann. Als Einzelgänger schlägt er sich durch die ersten Semester, bis er durch Zufall seine Liebe zur Literatur entdeckt, besser eine Liebe zur Literatur entwickelt. Zurückhaltend und in allen Lebensbereichen passiv, kommt Stoner nur langsam voran und mausert sich doch über die Jahre zum Professor, findet eine Frau, kauft ein Haus, hat ein Kind und eine Affäre. Unglücklich verheiratet, Zank an der Universität mit seinem Vorgesetzen und immer wieder Versagensängste, das Verharren im Mittelmaß macht William Stoner sein Leben bis zum Ende nicht leicht.

Auf den ersten 100 Seiten ist mir der Protagonist in seiner Einfalt und seiner Behäbigkeit so unsympathisch, seine Entwicklung so stockend, dass ich mit dem Gedanken gespielt habe das Buch abzubrechen, auch wenn auf manchen Seiten Potenzial durchschien. Auf Seite 115 dann aber:

Sloane besaß keine Familie, sodass sich nur Kollegen und einige Stadtleute an der schmalen Grube versammelten, um dem Priester ehrfürchtig, verlegen oder respektvoll zu lauschen. Und da keine Familie und niemand, der ihn liebte, um sein Dahinscheiden trauerte, war es Stoner allein, der weinte, als der Sarg in die Erde gelassen wurde, als könnten seine Tränen die Einsamkeit dieses letzten Augenblicks lindern. Nur wusste er nicht, ob er um sich selbst weinte, um den Teil seiner Geschichte und Jugend, der mit dem Sarg in die Erde versank, oder um die arme, dürre Gestalt, die einmal jener Mann gewesen war, den er verehrt hatte.

“So wie Du das vorliest, klingt es kitschig“, sagt meine Madame am Telefon und sie hat Recht, das ist nah am Kitsch. Bricht dies aber aus einer Person heraus, die auf den letzten 114 Seiten recht tumb durch die Welt stolperte, rührt es auf angenehme Weise an; auch mich, dessen kann ich mich nicht erwehren. Später aber:

Die Liebe zur Literatur, zur Sprache, zum Mysterium des Verstandes und des Herzens, wie sie sich in den kleinen, seltsamen und unerwarteten Kombinationen von Buchstaben und Wörtern zeigte, in der schwärzesten, kältesten Druckertinte – die Liebe, die er verborgen gehalten hatte, als wäre sie gefährlich und verboten, diese Liebe begann er nun offen zu zeigen, zögerlich zuerst, dann mutiger und schließlich voller Stolz.

Klar eine Liebeserklärung an die Literatur, von einem bildungsfernen Bauernjungen, genau das was unser Bildungssystem (vom amerikanischen wollen wir gar nicht sprechen) nicht zu schaffen vermag, schafft er aus eigenen Stücken. Aber nun ist es klar, es ist Kitsch! Trotzdem vermag Stoner mich eine zeitlang zu packen. In der Mitte machte mir dieses Buch wirklich Spaß, lief am Ende aber wieder recht unspektakulär aus.

Mein Problem liegt gar nicht unbedingt dabei, dass Stoner schlecht wäre, denn das ist es nicht. Vielmehr liegen mir die überbordenden Lobpreisungen schwer im Magen. Die Geschichte eines, so scheint es, genügsamen Lebens, in dem dennoch die großen Dinge ihren Widerhall fanden: Leidenschaft, Freundschaft, Ehe, Familie, Krieg, Liebe. Wenn man mit Widerhall meint, dass diese Dinge irgendwie vorkommen, mag das sein. Widerhall finden nach diesen Maßstäben auch Hunde, Kinder, Schule, Bücher, Shakespeare, Felder, Bauern, Schuhe und Kartoffeln. Verkauft mir jemand ein Buch unter der Prämisse, es sei der größte Verlust der letzten halben Dekade gewesen, dass es vergessen wurde, muss mehr kommen. Das hier ist gehobenes Mittelmaß mit Ausflügen in aphoristische Esoterik.

Einer der bedeutensten Romane aus Amerika (Stadtlichter Lüneburg!, tatsächlich bei dtv als Referenz angegeben) – ganz sicher nicht! Hätte man mir stattdessen das Buch mit den Worten “Ein nette, unterhaltende Lektüre” ans Herz gelegt, könnte ich ohne den Gram dieser Rezension zustimmen, denn es liest sich durchaus locker, packt mich, wie gesagt, tatsächlich in seiner Mitte und hat starke Stellen, die einen Bildungs- oder Entwicklungsroman ausmachen, aber eben nicht die, die ein Meisterwerk ausmachen. Aber auch wieder Stellen, die in ihrer Nutzlosigkeit inhaltsleere Phrasen wie diese produzieren:

In seinem dreiunvierzigsten Jahr erfuhr William Stoner, was andere, oft weit jüngere Menschen vor ihm erfahren hatten: dass nämlich jene Person, die man zu Beginn liebt, nicht jene Person ist, die man am Ende liebt, und dass Liebe kein Ziel, sondern der Beginn eines Prozesses ist, durch den ein Mensch versucht, einen anderen kennenzulernen.

Nein, sowas steht nicht in einem Meisterwerk, sowas steht bei Paula Coelho und Konsorten. Etwas mehr Demut beim Anpreisen so manch eines Werkes, bitte.

Kategorien Allgemein Rezensionen

Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.

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