Wenn man sie lange genug beobachtet, sind die Menschen in den Alpen immer auf der Höhe des Zeitgeists gewesen. Sie haben stets die animalischen Spielregeln vom Fressen und Gefressenwerden eingehalten, der Sinn des Lebens bestand aus permanenter Jagd nach Fleisch oder Gold, wenn man schon genug Fleisch hatte.
Man darf sich das Leben in der Vorzeit nicht witzig vorstellen wie bei Fred Feuerstein, es war und ist immer todernst und vom Überlebenskampf durchzogen.
Das Leben in der Steinzeit war ähnlich organisiert wie das der Gegenwart, nur sagte man Höhl-an zum W-LAN, die Virologen wurden Schamanen genannt und die Schi waren aus Mammutknochen.
(Das Alpenfeuilleton hat übrigens Alpenfossilium geheißen und war in Knochen eingeritzt.)
Für uns Nachfahren jener knöchernen Epochen tut sich die bohrende Frage auf: Warum wissen wir das alles, was die damals in der Steinzeit gemacht haben?
Die Antwort liegt im Verzeichnis systemrelevanter Berufe verborgen.
Neben den Jägern, die das Fleisch des täglichen Bedarfs zu organisieren hatten, waren vor allem die Pistenbauer systemrelevant, da sie jene Schneisen in den Wald zu schlagen hatten, durch die man sich dann auf Mammutknochen an die Beute heranpirschen konnte.
Merke: Fleisch und Schi sind in den Alpen für das BIP relevant. In Gestalt des Touristen werden beide Zweige zu einer Wirtschaftseinheit zusammengeführt, die die das Überleben sichert.
Schon mehrmals sind die Bevölkerungen in den Alpen ausgestorben, aber nicht etwa, weil sie durch Klimaschwankungen keine passenden Ess-Tiere hatten, sondern weil die Touristen ausgeblieben waren. Nach solch mortalen Kahlschlägen musste immer wieder eine frische Bevölkerung angesiedelt werden, sodass wir gut daran tun, von einer alpinen Bevölkerung erst dann zu sprechen, wenn sie wirklich in den Alpen lebt.
Damit wir das alles wissen und uns Strategien zum Überleben ausdenken können, braucht es eine weitere systemrelevante Berufsgruppe: Die Archivare, Beamten und Dichter. Diese ABD-Typen sind dazu da, die Erfolge einer Gesellschaft aufzuzeichnen und für die Nachwelt zu speichern. Ein glückliches Leben gilt nämlich erst dann als abgerundet, wenn auch die Nachfahren davon wissen.
So wimmelt es in den Höhlen und Gesteinskasematten der Alpen von Knochen, in denen Magazine eingeritzt sind, von Grabbeigaben, die alle die Schaufelform eines Schis aufweisen, und von Höhlenmalereien, worauf man Helden auf Unterschenkelknochen des Mammuts in die Tiefe rauschen sieht.
Verblüffend ist die akribisch genormte Formensprache dieser Kunst- und Kulturausdrücke.
Aber das hängt mit jener Systemrelevanz zusammen, die für das Gelingen von Glück Voraussetzung ist. Wenn in der Geschichtsschreibung, Malerei oder Dramaturgie einmal eine bewährte Form vorhanden ist, darf sie nicht mehr verändert werden, sonst ist sie nicht mehr systemrelevant.
So sehen wir ähnliche Motive seit der Steinzeit in allen alpinen Kunstformen bis herauf in die Gegenwart.
Wer etwa das Theater der alpinen Gegenwart beobachtet, erkennt darin eine durchgehende Ausformung jener Monotonie, die Felixismus genannt wird. Seit der Steinzeit gibt es in den Alpen eben nur eine relevante Form, und daran hält sich auch der Kulturbetrieb der Gegenwart.
Für die Betreiber des Alpenfeuilletons freilich gibt es die gute Nachricht: Sie sind systemrelevant. Auch wenn die aktuelle Gesellschaft vielleicht an Pandemie oder Klimawandel sterben wird, die frisch von den Alpen angelockten Gesellschaften der nächsten Jahrhunderte werden sich an diesen Kulturäußerungen aufrichten und alles das weitermachen, was wir jetzt im Netz einlagern.
STICHPUNKT 21|16, geschrieben am 01.03. 2021