Über den Autor und weitere Mitwirkende
Peter Watts, geboren 1958, hat lange Jahre als Meeresbiologe gearbeitet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Mit seinen Romanen "Blindflug" und "Abgrund" hat er Leser wie Kritik begeistert. Er lebt mit seiner Familie in Toronto.
Leseprobe. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Alle Rechte vorbehalten.
Gesetzesbrecher
Wenn jemand das Augenlicht verloren hatte, erhielt er es in seinen Träumen wieder zurück - so hatte Achilles Desjardins zumindest gehört.
Und das galt nicht nur für Blinde. Jeder Mensch, der in seinem Leben Teile seines Körpers verloren hatte, war in seinen Träumen wieder vollkommen unversehrt. Leute, denen mehrere Gliedmaßen amputiert worden waren, liefen umher und spielten Fußball. Taube hörten Symphonien. Menschen, die einen schweren Verlust erlitten hatten, konnten wieder Liebe empfinden. Der menschliche Geist war einer gewissen Trägheit unterworfen - wenn er sich über Jahre an eine bestimmte Rolle gewöhnt hatte, trennte er sich nur ungern von alten Denkmustern.
Irgendwann geschah es dann aber doch. Die leuchtenden Bilder verblassten, die Musik verklang, die eingebildeten Sinneseindrücke wurden auf ein Maß heruntergefahren, das leeren Augenhöhlen und zerstörten Innenohrschnecken eher angemessen war. Doch das dauerte Jahre, Jahrzehnte - und während all dieser Zeit quälte sich der Geist immer wieder aufs Neue mit nächtlichen Erinnerungen an die Dinge, die er einstmals besessen hatte.
Bei Achilles Desjardins war es nicht anders. Er träumte davon, dass er ein Gewissen besaß.
Seine Träume führten ihn in die Vergangenheit zurück, als er noch ein gefesselter Gott gewesen war. Millionen von Menschenleben hatten damals in seinen Händen gelegen, und sein Einflussbereich hatte sich von der geosynchronen Umlaufbahn bis in die tiefsten Tiefen des Marianengrabens erstreckt. Er kämpfte wieder unermüdlich für das Wohl der Allgemeinheit, in Tausende Kanäle gleichzeitig eingeklinkt, seine Reflexe und Fähigkeiten zur Mustererkennung mithilfe von umgerüsteten Genen und maßgeschneiderten neurotropen Substanzen um ein Vielfaches verstärkt. Wenn das Chaos ausbrach, stellte er die Ordnung wieder her. Wenn zehn Menschen getötet werden mussten, um hundert zu retten, brachte er das Opfer. Überall auf der Welt isolierte er Krankheitsherde, löste Blockaden auf, vereitelte terroristische Anschläge und verhinderte den Zusammenbruch von Ökosystemen. Er schwebte auf Funkwellen dahin, schlüpfte durch die dünnsten Glasfaserkabel, war in einem Moment in einer Meeresfarm in Peru und im nächsten in einem koreanischen Nachrichtensatelliten. Er war wieder der beste Gesetzesbrecher der BRIKS, der das zweite Gesetz der Thermodynamik bis an seine Grenzen auszureizen vermochte und vielleicht sogar ein Stück weit darüber hinaus.
Er war der sprichwörtliche Geist in der Maschine - und damals war die Maschine allgegenwärtig gewesen.
Und dennoch waren es nicht Träume von Macht, die ihn Nacht für Nacht heimsuchten, sondern von Knechtschaft. Nur im Schlaf konnte er erneut die paradoxe Unfreiheit erfahren, die ganze Ströme von Blut von seinen Händen gewaschen hatte.
Man nannte es das Schuldgefühl, und es handelte sich dabei um eine ganze Reihe von künstlich erzeugten Neurotransmittern. Desjardins hatte sich nie die Mühe gemacht, sich ihre genauen Bezeichnungen zu merken. Schließlich konnte er mit einem einzigen Befehl Millionen Menschen töten. Und eine solche Macht verlieh man jemandem nicht, ohne ein paar Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Das Schuldgefühl machte es einem körperlich unmöglich, gegen das Wohl der Allgemeinheit zu handeln. Es kappte die Verbindung zwischen allumfassender Macht und uneingeschränkter Korruption. Jeder Versuch, seine Macht zu missbrauchen, hätte den allerschwersten epileptischen Anfall nach sich gezogen. Desjardins hatte nie nachts wach gelegen und die Rechtmäßigkeit seines Handelns oder die Reinheit seiner Motive angezweifelt. Beides war ihm von anderen, skrupelloseren Menschen in die Blutbahn geimpft worden.
Es war eine solche Erleichterung, vollkommen frei von Schuld zu sein!
Also träumte er von Knechtschaft. Und von Alice, die ihn befreit, seine Ketten gelöst hatte. In seinen Träumen wünschte er sich diese Ketten zurück.
Irgendwann verblassten die Träume schließlich, wie sie es immer taten. Die Vergangenheit verschwand, und an ihre Stelle trat die grausame Gegenwart. Die Welt geriet im Zeitlupentempo aus den Fugen: Eine apokalyptische Mikrobe kam aus der Tiefsee herauf, ließ sich im verseuchten Körper einer Tiefseetaucherin aus N'AmPaz mitnehmen. Die doch nicht ganz so allmächtigen Machthaber, die im Kielwasser der Mikrobe ins Schwimmen gerieten, tauften sie ßehemoth und verbrannten Menschen und Eigentum, in dem verzweifelten, sinnlosen Versuch, den drohenden Machtwechsel aufzuschieben. Nordamerika kapitulierte. Billionen mikroskopisch kleiner Fußsoldaten marschierten über das Land und zerstörten ohne Unterschied Erdreich und Lebewesen. Kriege flammten im Zeitraffer-Tempo auf und wurden ebenso schnell wieder beendet: der N'AmPaz-Feldzug, der kolumbianische Flächenbrand, der eurafrikanische Aufstand. Und Rio natürlich: der Dreißig-Minuten-Krieg, der Krieg, den das Schuldgefühl eigentlich hätte verhindern müssen.
Desjardins war auf die eine oder andere Weise an all diesen Kriegen beteiligt gewesen. Und während sich die verzweifelten Metazoa noch untereinander stritten, breitete sich der wahre Feind unerbittlich weiter über das Land aus, wie eine alles erstickende Decke. Nicht einmal Achilles Desjardins, der Stolz der Entropie-Patrouille, konnte ihn aufhalten.
Selbst jetzt noch, da ihn die Gegenwart beinahe wieder eingeholt hatte, empfand er ein leichtes Bedauern über all die Dinge, die er nicht getan hatte. Doch es war nur ein Phantomschmerz, der letzte Nachhall eines Gewissens, das ihm vor vielen Jahren abhanden gekommen war. Er erreichte ihn bloß noch ganz schwach, hier an der Grenze zwischen Schlaf und Wachsein, und einen Augenblick lang erinnerte er sich daran, dass er frei war, und wünschte sich zugleich, es nicht zu sein.
Dann öffnete er die Augen, und da war nichts mehr, das sich in irgendeiner Weise darüber hätte Gedanken machen können.
Mandelbrot hockte schnurrend auf seiner Brust. Er kraulte die Katze geistesabwesend, während er die morgendlichen Berichte aufrief. Die Nacht war relativ ruhig gewesen - die einzige interessante Meldung bestand darin, dass ein Haufen erstaunlich tollkühner Flüchtlinge versucht hatte, in das nordamerikanische Hoheitsgebiet einzudringen. Sie waren um 1:10 Uhr atlantischer Standardzeit im Schutze der Dunkelheit von Long Island aus auf einem umgerüsteten Müllboot losgesegelt. Innerhalb einer Stunde hatten bereits zwei Dutzend eurafrikanischer Interessengruppen darum gewetteifert, sich der Sicherheitslücke annehmen zu dürfen. Die armen Kerle hatten es kaum bis Cape Cod geschafft, bevor die Algerier (die Algerier?) sie ausgeschaltet hatten.
Das System hatte es nicht einmal für nötig gehalten, Desjardins deswegen zu wecken.
Mandelbrot erhob sich, streckte sich und brach zu ihrer morgendlichen Runde auf. Von ihrem Gewicht befreit, stand Desjardins auf und schlurfte zum Fahrstuhl. Fünfundsechzig Stockwerke leer stehender Büroflächen blieben unter ihm zurück. Vor ein paar Jahren noch war dies ein Zentrum der Schadensbegrenzung gewesen, in dem emsige Geschäftigkeit geherrscht hatte.
Prolog. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Alle Rechte vorbehalten.
GesetzesbrecherWenn jemand das Augenlicht verloren hatte, erhielt er es in seinen Träumen wieder zurück - so hatte Achilles Desjardins zumindest gehört.Und das galt nicht nur für Blinde. Jeder Mensch, der in seinem Leben Teile seines Körpers verloren hatte, war in seinen Träumen wieder vollkommen unversehrt. Leute, denen mehrere Gliedmaßen amputiert worden waren, liefen umher und spielten Fußball. Taube hörten Symphonien. Menschen, die einen schweren Verlust erlitten hatten, konnten wieder Liebe empfinden. Der menschliche Geist war einer gewissen Trägheit unterworfen - wenn er sich über Jahre an eine bestimmte Rolle gewöhnt hatte, trennte er sich nur ungern von alten Denkmustern.Irgendwann geschah es dann aber doch. Die leuchtenden Bilder verblassten, die Musik verklang, die eingebildeten Sinneseindrücke wurden auf ein Maß heruntergefahren, das leeren Augenhöhlen und zerstörten Innenohrschnecken eher angemessen war. Doch das dauerte Jahre, Jahrzehnte - und während all dieser Zeit quälte sich der Geist immer wieder aufs Neue mit nächtlichen Erinnerungen an die Dinge, die er einstmals besessen hatte.Bei Achilles Desjardins war es nicht anders. Er träumte davon, dass er ein Gewissen besaß.Seine Träume führten ihn in die Vergangenheit zurück, als er noch ein gefesselter Gott gewesen war. Millionen von Menschenleben hatten damals in seinen Händen gelegen, und sein Einflussbereich hatte sich von der geosynchronen Umlaufbahn bis in die tiefsten Tiefen des Marianengrabens erstreckt. Er kämpfte wieder unermüdlich für das Wohl der Allgemeinheit, in Tausende Kanäle gleichzeitig eingeklinkt, seine Reflexe und Fähigkeiten zur Mustererkennung mithilfe von umgerüsteten Genen und maßgeschneiderten neurotropen Substanzen um ein Vielfaches verstärkt. Wenn das Chaos ausbrach, stellte er die Ordnung wieder her. Wenn zehn Menschen getötet werden mussten, um hundert zu retten, brachte er das Opfer. Überall auf der Welt isolierte er Krankheitsherde, löste Blockaden auf, vereitelte terroristische Anschläge und verhinderte den Zusammenbruch von Ökosystemen. Er schwebte auf Funkwellen dahin, schlüpfte durch die dünnsten Glasfaserkabel, war in einem Moment in einer Meeresfarm in Peru und im nächsten in einem koreanischen Nachrichtensatelliten. Er war wieder der beste Gesetzesbrecher der BRIKS, der das zweite Gesetz der Thermodynamik bis an seine Grenzen auszureizen vermochte und vielleicht sogar ein Stück weit darüber hinaus.Er war der sprichwörtliche Geist in der Maschine - und damals war die Maschine allgegenwärtig gewesen.Und dennoch waren es nicht Träume von Macht, die ihn Nacht für Nacht heimsuchten, sondern von Knechtschaft. Nur im Schlaf konnte er erneut die paradoxe Unfreiheit erfahren, die ganze Ströme von Blut von seinen Händen gewaschen hatte.Man nannte es das Schuldgefühl, und es handelte sich dabei um eine ganze Reihe von künstlich erzeugten Neurotransmittern. Desjardins hatte sich nie die Mühe gemacht, sich ihre genauen Bezeichnungen zu merken. Schließlich konnte er mit einem einzigen Befehl Millionen Menschen töten. Und eine solche Macht verlieh man jemandem nicht, ohne ein paar Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Das Schuldgefühl machte es einem körperlich unmöglich, gegen das Wohl der Allgemeinheit zu handeln. Es kappte die Verbindung zwischen allumfassender Macht und uneingeschränkter Korruption. Jeder Versuch, seine Macht zu missbrauchen, hätte den allerschwersten epileptischen Anfall nach sich gezogen. Desjardins hatte nie nachts wach gelegen und die Rechtmäßigkeit seines Handelns oder die Reinheit seiner Motive angezweifelt. Beides war ihm von anderen, skrupelloseren Menschen in die Blutbahn geimpft worden.Es war eine solche Erleichterung, vollkommen frei von Schuld zu sein!Also träumte er von Knechtschaft. Und von Alice, die ihn befreit, seine Ketten gelöst hatte. In seinen Träumen wünschte er sich diese Ketten zurück.Irgendwann verblassten die Träume schließlich, wie sie es immer taten. Die Vergangenheit verschwand, und an ihre Stelle trat die grausame Gegenwart. Die Welt geriet im Zeitlupentempo aus den Fugen: Eine apokalyptische Mikrobe kam aus der Tiefsee herauf, ließ sich im verseuchten Körper einer Tiefseetaucherin aus N'AmPaz mitnehmen. Die doch nicht ganz so allmächtigen Machthaber, die im Kielwasser der Mikrobe ins Schwimmen gerieten, tauften sie ßehemoth und verbrannten Menschen und Eigentum, in dem verzweifelten, sinnlosen Versuch, den drohenden Machtwechsel aufzuschieben. Nordamerika kapitulierte. Billionen mikroskopisch kleiner Fußsoldaten marschierten über das Land und zerstörten ohne Unterschied Erdreich und Lebewesen. Kriege flammten im Zeitraffer-Tempo auf und wurden ebenso schnell wieder beendet: der N'AmPaz-Feldzug, der kolumbianische Flächenbrand, der eurafrikanische Aufstand. Und Rio natürlich: der Dreißig-Minuten-Krieg, der Krieg, den das Schuldgefühl eigentlich hätte verhindern müssen.Desjardins war auf die eine oder andere Weise an all diesen Kriegen beteiligt gewesen. Und während sich die verzweifelten Metazoa noch untereinander stritten, breitete sich der wahre Feind unerbittlich weiter über das Land aus, wie eine alles erstickende Decke. Nicht einmal Achilles Desjardins, der Stolz der Entropie-Patrouille, konnte ihn aufhalten.Selbst jetzt noch, da ihn die Gegenwart beinahe wieder eingeholt hatte, empfand er ein leichtes Bedauern über all die Dinge, die er nicht getan hatte. Doch es war nur ein Phantomschmerz, der letzte Nachhall eines Gewissens, das ihm vor vielen Jahren abhanden gekommen war. Er erreichte ihn bloß noch ganz schwach, hier an der Grenze zwischen Schlaf und Wachsein, und einen Augenblick lang erinnerte er sich daran, dass er frei war, und wünschte sich zugleich, es nicht zu sein.Dann öffnete er die Augen, und da war nichts mehr, das sich in irgendeiner Weise darüber hätte Gedanken machen können.Mandelbrot hockte schnurrend auf seiner Brust. Er kraulte die Katze geistesabwesend, während er die morgendlichen Berichte aufrief. Die Nacht