Lisa Halliday: Asymmetrie

Sei vorsichtig, hatte mich Alastair am Abend zuvor gewarnt, […] noch mehr als dein Bruder ist jemand wie du für diese Leute ein Hauptgewinn. Ein Schiit aus einer politischen Familie, die zwei der politischen Parteien angehört, die sie hassen, und mit Verbindungen in die grüne Zone und noch dazu amerikanischer Staatsbürger mit Familie in den USA und Ersparnissen in Dollar? Kannst du dir das vorstellen? »So viele Fliegen! Eine Klappe!«

Als dieses Buch 2018 erschien und wenig später auch auf Deutsch vorlag, wurde es in der Hauptsache damit beworben, dass es eine der letzten Affären von Philip Roth beschreibe. Da ich gegen solch voyeuristische Projekte eine gesunde Abneigung hege und die ersten Seiten mein Vorurteil noch bestärkten, habe ich es an mir vorübergehen lassen. Nun sind zwei Biographien über Roth erschienen, weshalb ich mich wieder an Hallidays Buch erinnert habe.

Das Text besteht aus drei Teilen: Die ersten beiden liefern jeweils ungefähr das, was heutzutage von der holzverarbeitenden Industrie als Roman ausgeschrieen wird, wobei diese beiden Teile motivisch sorgsam miteinander verknüpft sind; der dritte Teil enthält ein kurzes fiktives Radio-Interview mit dem männlichen Protagonisten des ersten Teils, Ezra Blazer. Er dient in der Hauptsache dazu, Blazer eine Biographie zu verpassen, die deutlich von der Roth’ abweicht, und außerdem vorzuführen, dass er auch mit 78 Jahren immer noch versucht, alles ins Bett zu kriegen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.

Der erste Teil – gut 130 Seiten – beschreibt etwa drei Jahre Beziehung zwischen der 27-jährigen Alice Dodge, Lektorin in einem New Yorker Verlag, und dem weltberühmten, 70-jährigen Autor Ezra Blazer. Nachdem Blazer Alice im Central Park angesprochen hat, kommt sehr rasch und ohne besondere Präliminarien zu einer Affäre zwischen beiden, die über die beschriebene Zeit immer enger und partnerschaftlicher wird. Alice nimmt von Anfang an Geschenke von Ezra entgegen, auch Geld für Kleidung oder eine Klimaanlage für ihr Apartment. Am Ende verbringt sie auch längere Zeit mit Ezra in dessen Insel-Refugium, in das er sich immer wieder zum Schreiben zurückzieht, lernt schließlich auch seine Familie kennen etc. pp. Die anfangs von beiden Seiten mit bewusster Distanz geführte Beziehung wird deutlich emotionaler, bis zum Schluss des ersten teils Alice einen emotionalen Zusammenbruch hat, als sie sich mit der Sterblichkeit Ezras, die durchgehend Thema des Textes ist, ganz unmittelbar konfrontiert sieht.

Der zweite Teil ist etwa gleich lang wie der erste und präsentiert offensichtlich einen Text, den die Schriftstellerin Alice Dodge verfasst hat. In seinem Mittelpunkt steht ein junger irakisch-amerikanischer Mann, der im Jahr 2009 von Los Angeles aus zu seinem Bruder in den Irak reisen will und beim Umsteigen in London am Flughafen von der Zollbehörde festgehalten wird. Amar Ala Jaafari hat sowohl die us-amerikanische als auch die irakische Staatsangehörigkeit; er hat in den USA gerade seine Dissertation als Wirtschaftswissenschaftler abgeschlossen und sehnt sich danach, endlich wieder seinen Bruder und dessen Familie zu besuchen. Er hatte geplant, in London zwei Tage mit einem befreundeten Journalisten verbringen, doch wird er bei der Ankunft festgehalten und ausführlich befragt; nach einiger Wartezeit wird ihm die Einreise nach Großbritannien ohne eine genaue Begründung verweigert. Immerhin darf er die Nacht im Flughafen verbringen, um am nächsten Tag Richtung Irak weiterreisen zu können. Diese Episode dient als Rahmen für eine Erzählung des Lebens Amars und seiner Familie. Sein älterer Bruder, der in den USA nie heimisch geworden ist, lebt inzwischen als Arzt im Nord-Irak; der Großteil der Familie lebt aber noch immer in Bagdad, und ihr Leben während und nach der amerikanischen Eroberung des Iraks durch die US-Amerikaner ist eines der bedeutenden Themen dieses zweiten Teils.

Abgeschlossen wird der Roman, wie schon gesagt, durch ein kurzes Interview der BBC mit Ezra, dessen Funktion oben schon kurz beschrieben wurde. Der gesamte Roman ist motivisch gut gearbeitet, er ist thematisch reich und mit bedeutender Souveränität konstruiert. Für einen Erstling ein erstaunlich objektives Buch, das sehr bewusst mit Distanz zu seinen Themen und den Distanzen zwischen seinen Figuren arbeitet. Es ist auch vollständig ohne den mitgelieferten voyeuristischen Schlüssel zu lesen und zu goutieren und durchweg auf der Höhe des von ihm verarbeiteten Stoffs. An den wenigen Stellen, die ich geprüft habe (ausschließlich im ersten Teil, die als Leseprobe greifbar ist), hat sich die Übersetzung bewährt.

Lisa Halliday: Asymmetrie. Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. btb 71958. München: btb, 2020. Broschur, 316 Seiten. 11,99 €.

Friedhelm Rathjen: Arno-Schmidt-Chronik

Im Jahr 2014 erschien zum 100. Geburtstag Arno Schmidts im Bargfelder Boten eine erste Fassung von Friedhelm Rathjens Arno-Schmidt-Chronik, die soeben in erweiterter und korrigierter Neuauflage in Rathjens eigenem Verlag, der Edition Rejoyce, wieder aufgelegt worden ist. Zumindest bis zum Erscheinen der Arno-Schmidt-Biographie von Sven Hanuschek, aber wahrscheinlich auch darüber hinaus ist dies die zuverlässigste kompakte Quelle für Informationen zum Leben Arno Schmidts. Die Neufassung ist ergänzt um vier Register (Werke Schmidts, Orte, Personen sowie Verlage, Medien, Nachschlagewerke), die es möglich machen, auch thematische Querbezüge herzustellen.

Rathjen verweist im Vorwort darauf, dass Schmidts Werk starke dynamische Veränderungen durch diverse Einflussfaktoren aufweist; Schmidts Lebensumstände waren selbstverständlich einer davon. Von daher liefert eine solche Chronologie eines der Gerüste, an denen entlang die Entwicklung von Schmidts Werk verständlich wird.

Aber das Buch kann nicht nur als Datenquelle benutzt werden, es ist durchaus auch von Anfang bis Ende als dichter biographischer Essay lesbar. Sicherlich werden sich dabei Leser, die Schmidts Werk schon ein wenig kennen, leichter tun als jene, die erst einen Zugang zu Schmidts literarischer Welt suchen.

Friedhelm Rathjen: Arno-Schmidt-Chronik. Daten zu Leben & Werk. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2021. Bedruckter Pappband, 186 Seiten. 30,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Zum 100. Geburtstag von John Rawls

Ich behaupte, daß die Menschen im Urzustand zwei ganz andere Grundsätze wählen würden: einmal die Gleichheit der Grundrechte und -‍pflichten; zum anderen den Grundsatz, daß soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, etwa verschiedener Reichtum oder verschiedene Macht, nur dann gerecht sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, insbesondere für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.

John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. stw 271. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 122001. S. 31 f.

Simon Raven: Fielding Gray

»Ich glaube … dass es mir um Wahrheit geht.«
»Ist das nicht eine Nummer zu groß?«
»Nicht von allem. Nur im Kleinen, nur für mich. In einem kleinen Eckchen werde ich versuchen, Wahrheit zu schaffen.«

Ein weiterer englischer Schulroman, den mir mein Buchhändler nahegelegt hat, als wir über Eine Frage der Erziehung gesprochen haben. Auch Simon Raven, der überhaupt ein äußerst produktiver Autor gewesen ist, liefert gleich einen Romanzyklus – Alms for Oblivion / Almosen fürs Vergessen –, der zehn Bände mit zusammen etwa 2.300 Seiten und die Zeit zwischen 1945 und 1973 umfasst. Im Gegensatz zu A Dance to the Music of Time wurden die Romane nicht entlang der inneren Chro­no­lo­gie geschrieben, so dass der Beginn der Ge­samt­hand­lung erst in dem hier besprochenen, 1967 veröffentlichten vierten Band der Dekalogie gemacht wurde. Die deutsche Übersetzung des gesamten Zyklus soll bis 2024 erscheinen, wobei sich der Verlag insgesamt an die innere Chronologie des Zyklus hält (nur die Bände 2 und 3 bilden eine Ausnahme).

Die Haupthandlung beginnt im Mai 1945, nachdem der Zweite Weltkrieg in Europa zum Ende gekommen ist. Der Ich-Erzähler Fielding Gray, als Offizier der britischen Armee in Griechenland stationiert, blickt aus dem Jahr 1959 zurück auf das letzte Jahr seiner Schulzeit: Er ist der Mus­ter­schü­ler seines Jahrgangs, sowohl akademisch als auch als Sportler (in diesem Roman wird selbstverständlich Kricket gespielt) erfolgreich und bei seinen Mitschülern offenbar beliebt. Gray hat, wenn auch nicht aus­schließ­lich, ho­mo­ero­ti­sche Neigungen, und in diesem Jahr ist er sogar eindeutig verliebt in seinen Mitschüler Christopher Roland, der diese Neigung einerseits zu teilen scheint, andererseits aber dann doch erschrickt und schließlich gänzlich aus der Fassung gerät, als es ein einziges Mal zwischen den beiden zu einer kurzen sexuellen Berührung kommt.

Als Gray in den Ferien nach Hause fährt, muss er erfahren, dass sein Vater, der immer schon gegen Fieldings Plan war, nach der Schule Latein und Griechisch zu studieren, nun konkrete Vorbereitungen trifft, ihn von der Schule zu nehmen und in Indien auf einer Teeplantage in eine kauf­män­ni­sche Ausbildung zu zwingen. Zwar stirbt der Vater ebenso spektakulär wie glücklich an einem Herzinfarkt, doch muss Gray feststellen, dass dies seine Situation wider Erwarten nicht verbessert. Während seine Mutter, solange der Vater am Leben war, ihn stets gegenüber dem Vater verteidigt hat, geht sie nun in das Lager des Feindes über und betreibt ebenfalls die Ver­hin­de­rung von Fieldings akademischer Laufbahn.

Fielding erreicht eine Art von Kompromiss: Während er seiner Mutter vorgeblich nachgibt und seinen Militärdienst antritt, weil ihn seine Schule hinauswirft, da inzwischen gerüchteweise seine Affäre mit Christopher bekannt geworden ist, der sich zwischenzeitlich das Leben genommen hat. Daneben betreibt Gray weiterhin heimlich seine Studienpläne, da einer seiner Lehrer bereit ist, ihm das Studium zu finanzieren. So scheint für einen Moment alles gut auszugehen, bis wenige Tage nach dem Antritt der Grundausbildung Fielding von seinem Freund und Mitschüler Peter Morrison mitgeteilt wird, dass sich auch diese Aussicht zerschlagen hat, da der betreffende Lehrer von dem Streit zwi­schen Fielding und seiner Mutter und dem Versuch Fieldings, seine Mutter über seine wahren Pläne zu täuschen, moralisch so abgestoßen ist, dass er sein Angebot eines Sti­pen­di­ums nicht weiter aufrecht hält. So entscheidet sich Gray für eine Karriere als Berufssoldat; eine letzte Begegnung mit Peter Morrison, den er 14 Jahre nicht gesehen hat und der inzwischen Berufspolitiker geworden ist, be­en­det das Buch und schließt den Rahmen der Erzählung.

Das Buch hat einen deutlich humoristischen Einschlag; sein Protagonist und Erzähler erweist sich immer erneut als im Sinne einer christlichen Moral indifferent, ja weitgehend gefühllos. Weder der Tod seines Vaters noch der Christophers gehen ihm nahe, er schlägt in Wut seiner Mutter ins Gesicht, ohne sich deshalb irgendwelche Vorwürfe zu machen, aber auch die Verhinderung seiner akademischen Karriere scheint ihn eher schul­ter­zu­ckend zurückzulassen. Seinen Nachnamen ererbt er nicht um­sonst von Oscar Wildes Dorian Gray, der auch noch, als sei es nicht auch ohne das deutlich genug, seine einzige moderne Lektüre darstellt. Wenn Fielding überhaupt einer Moral folgt, ist es die seiner Egozentrik; die wohl als Folie gedachte Antike, die sich in Grays Interesse für die antike Literatur widerspiegelt, hätte ihn für seine Indifferenz aber ebenso verurteilt wie seine Zeitgenossen.

Nicht alle Teile des Romans sind gleich gelungen; besonders die Dialoge sind eher schwach und erscheinen gekünstelt. Insbesondere dort, wo direkt über Moral gesprochen wird, sind sie flach und ermangeln der nötigen Reflexion. Aber das mag auch Absicht des Erzählers sein, um seine Verachtung für das moralisierende Geschwätz seiner Mitmenschen auszustellen.

Alles in allem ein Roman, der aus der Dutzendware des Jahrhunderts heraussticht, aber sicherlich nur auf seiner Position im Gesamtzyklus angemessen beurteilt werden kann.

Wird fortgesetzt …

Simon Raven: Fielding Gray. Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Franke. Berlin: Elfenbein, 22020. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 262 Seiten. 22,– €.

Jahresrückblick 2020

Das Lesejahr 2020 war zum Glück überwiegend positiv. Es waren eigentlich nur zwei Titel, bei denen ich die Lesezeit tatsächlich bereut habe:

  • August Lafontaines Quinctius Heymeran von Flaming wurde aufgrund einer späten Empfehlung Arno Schmidts erneut ediert. Das Buch selbst ist höchstens in historischer Perspektive von Interesse, an sich handelt es sich nur um routiniert geschriebene Unterhaltungsliteratur des 18. Jahrhunderts.
  • Orlando Figes’ Die Europäer ist ein weiteres oberflächliches, populär geschriebenes Buch aus der Feder eines Historikers, der es eigentlich besser wissen sollte.

Dem standen zahlreiche gute Lektüren gegenüber:

  • George Eliots Middlemarch hat das Lesejahr sicherlich überstrahlt: Der Roman, gegen den ich lange Zeit unbestimmte Vorbehalte gehegt hatte, erwies sich in der Neuübersetzung von Melanie Walz als eine große, humorvolle und realistische Erzählung, die die Literatur ihrer Zeit souverän überblickt.
  • Salman Rushdies Quichotte hat mich, nachdem ich eine Zeit gebraucht hatte, mich einzulesen, wahrhaftig überwältigt. Ein grandioser und phantasievoller moderner Roman von einem der wirklich großen Erzähler unserer Zeit.
  • Hinzu kommen die Fortsetzung der Dostojewskij-Lektüre mit Böse Geister und dem mich weniger überzeugenden Ein grüner Junge sowie die Lektüre der restlichen drei Bände der Serapionsbrüder E. T. A. Hoffmanns. Auch bei diesen Autoren wird die systematische Lektüre sicherlich fortgesetzt werden.
  • Als interessante Entdeckung standen am Ende des Jahres zwei Texte von Marguerite Duras, von der ich sicherlich noch das eine oder andere lesen werde.

Salman Rushdie: Quichotte

Solche Geschichten gehen alles in allem nicht gut aus.

Georg Christoph Lichtenberg hat einmal gemeint:

Ob ich gleich weiß, daß sehr viele Rezensenten die Bücher nicht lesen die sie so musterhaft rezensieren, so sehe ich doch nicht ein was es schaden kann, wenn man das Buch lieset, das man rezensieren soll.

Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe I. München: Hanser, 1968. S. 659. [J 46]

Woran allein man gut erkennen kann, dass Lichtenberg mit der Literatur unserer Zeit nicht hinreichend bekannt war. Denn die meisten Rezensionen zu Salman Rushdies neuem Roman, in die ich hineingeschaut habe, werden mit dem Buch spielend fertig, weil ihre Verfasser das Buch offenbar nicht oder wenigstens nur flüchtig gelesen haben. Hat man dagegen den Roman und halbwegs gründlich gelesen, sieht man sich vor die herkulische Aufgabe gestellt, das Buch in aller Kürze vorzustellen zu sollen, ohne es entweder in einem vollständig falschen Licht erscheinen zu lassen oder sich komplett in kryptisches Raunen zu verlieren. Versuchen wir es dennoch:

Erzählt wird diese Geschichte auf mindestens zwei fiktionalen Ebenen – Arno Schmidt hätte von einem Längeren Gedankenspiel gesprochen –, erstens der des fiktiven Schriftstellers Sam DuChamp (das ist nur sein Pseudonym, seinen wahren Namen erfahren wir nicht), eines mäßig erfolgreichen Verfassers von Agenten-Thrillern, der gerade dabei ist die Geschichte eines Quichottes des 21. Jahrhunderts zu schreiben, die die besagte zweite Ebene bildet. Dieser Schriftsteller, der wie die meisten Figuren dieser Ebene nur nach seiner verwandtschaftlichen Beziehung benannt wird, Bruder also, lebt in New York und ist seit vielen Jahren mit seiner Schwester, Schwester genannt, zerstritten, nachdem er ihr vorgeworfen hatte, sich am väterlichen Erbe betrügerisch bereichert zu haben. Schwester ist Rechtsanwältin und lebt, verheiratet mit einem Richter, mit dem sie die Tochter Tochter hat, in London. Sie steht kurz vor dem Gipfel der gesellschaftlichen Anerkennung, da sie Sprecherin des englischen Oberhauses werden soll. Aber auch hier ist nicht alles Gold, was glänzt.

Weder Bruder noch Schwester sind ihre Karrieren an der Wiege gesungen worden: Beide stammen – wie der sie erfindende Autor Salman Rushdie – aus Bombay. Auch der von Bruder erfundene Quichotte stammt aus dieser Stadt, lebt aber ebenfalls schon lange in den USA; er ist etwa 70 Jahre alt, wird zu Anfang des Buches von seinem Cousin zwangspensioniert – er hat zuletzt als Pharmavertreter gearbeitet. An seine Vergangenheit kann er sich nur lückenhaft erinnern, da er früher einmal einen Schlaganfall erlitten hat; seitdem ist er etwas wunderlich geworden, verbringt seine Freizeit hauptsächlich vor dem Fernseher (das sind seine Ritterromane!) und ist verliebt in die ebenfalls aus Indien stammende Talkshow-Moderatorin Salma R. (!) In die Freiheit des Ruhestandes entlassen, begibt er sich auf eine Quest, Salmas Liebe zu erlangen. Um den langen Weg nach New York nicht alleine zurücklegen zu müssen, erfindet er sich einen Sohn, Sancho, der auf gewisse Weise eine dritte fiktionale Ebene in das Buch einzieht. Dieser erfundene Sohn, obwohl zuerst eindeutig ein Gedankenprodukt Quichottes, gewinnt rasch an Selbstständigkeit und wird zur dritten Hauptfigur des Romans. Er erweist sich dabei weniger als ein Abbild des Sancho Pansa des Cervantes, sondern ist offenbar an Collodis Pinocchio entlang erfunden.

Das Buch erzählt in alternierenden Abschnitten die Geschichten Quichottes, Bruders und schließlich auch Sanchos. Dabei nutzt Rushdie alle Freiheiten des traditionellen pikarischen Romans: Immer wieder finden sich Nebengeschichten und unvorbereitete Abschweifungen, Pfade der Erzählung, die letztlich nirgends hin führen, fantastische Einschübe, albtraumhafte Sequenzen und was der Tricks mehr sind. Die Flut der Anspielungen auf Literatur, aber besonders auch auf Film und Fernsehen ist überwältigend – allein mit der Aufzählung der Offensichtlichsten ließen sich Seiten füllen –; ganz nebenbei wird ein Agententhriller eigebaut, in den Bruders Sohn Sohn verwickelt ist; es wird die Opioid-Sucht in der amerikanischen Gesellschaft thematisiert; der alltägliche Rassismus in den USA kommt ebenso vor wie das Problem des Kindesmissbrauchs in Familien; und nicht zuletzt sind auch Verschwörungstheoretiker prominent vertreten und ein wirtschaftlich erfolgreiches Genie, das den Weltuntergang prophezeit und die Menschheit auf die Erde eines Paralleluniversums hinüber retten will. Und bei all diesen Wendungen und Themen findet Rushdie immer erneut einen Weg, sie auf den Ritter von der traurigen Gestalt und seinen verzweifelten Kampf gegen die Realität zu­rück­zu­be­zie­hen.

Ich weiß wohl, dass Rushdies Bücher immer so sind, wenn ich auch von seinen Romanen zu wenige gelesen habe, um dieses Vorurteil tatsächlich inhaltlich füllen zu können, aber es hat mich überwältigt. Dieses Buch ist von einem Reichtum an Erfindung, einer Freiheit der Phantasie, einer Stringenz des Gedankens und nicht zuletzt einem so souveränen Humor, dass ihm eine Besprechung wohl nicht gerecht werden kann. Um auch mit Lichtenberg zu schließen, sei einmal mehr gesagt:

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.

Ebd. S. 359. [E 79]

Salman Rushdie: Quichotte. Aus dem Englischen von Sabine Herting. München: C. Bertelsmann, 2019. Pappband, 461 Seiten. 25,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (116)

Und wenngleich er niemals vollständig orthographisch schreiben lernte, so war er doch ein dichterisches Gemüt, wie sein berühmter Handwerksgenosse aus der »Mausfalle« zu Nürnberg, und las, soviel er nur irgend konnte. Was er las, verstand er meistens auch; und wenn er aus manchem den Sinn nicht herausfand, welchen der Autor hineingelegt hatte, so fand er einen andern Sinn heraus oder legte ihn hinein, der ihm ganz allein gehörte und mit welchem der Autor sehr oft höchst zufrieden sein konnte.

Wilhelm Raabe
Der Hungerpastor

Zum Tod von Philip Roth

(Thus, with only a moment’s more insanity on his part—a moment of insane excitement—he throws everything into his bag—except the unread manuscript and the used Lonoff books—and gets out as fast as he can. How can he not [as he likes to say]? He disintegrates. She’s on her way and he leaves. Gone for good.)

Philip Roth
Exit Ghost

Allen Lesern ins Stammbuch (99)

Der Bücherfreund

Ob ich Biblio- was bin?
Phile? »Freund von Büchern« meinen Sie?
Na, und ob ich das bin!
Ha! und wie!

Mir sind Bücher, was den andern Leuten
Weiber, Tanz, Gesellschaft, Kartenspiel,
Turnsport, Wein, und weiß ich was, bedeuten.
Meine Bücher – – – wie beliebt? Wieviel?

Was, zum Henker, kümmert mich die Zahl.
Bitte, doch mich auszureden lassen.
Jedenfalls: viel mehr, als mein Regal
Halb imstande ist zu fassen.

Unterhaltung? Ja, bei Gott, das geben
Sie mir reichlich. Morgens zwölfmal nur
Nüchtern zwanzig Brockhausbände heben – – –
Hei! das gibt den Muskeln die Latur.

Oh, ich mußte meine Bücherei,
Wenn ich je verreiste, stets vermissen.
Ob ein Stuhl zu hoch, zu niedrig sei,
Sechzig Bücher sind wie sechzig Kissen.

Ja natürlich auch vom künstlerischen
Standpunkt. Denn ich weiß die Rücken
So nach Gold und Lederton zu mischen,
Daß sie wie ein Bild die Stube schmücken.

Äußerlich? Mein Bester, Sie vergessen
Meine ungeheure Leidenschaft,
Pflanzen fürs Herbarium zu pressen.
Bücher lasten, Bücher haben Kraft.

Junger Freund, Sie sind recht unerfahren,
Und Sie fragen etwas reichlich frei.
Auch bei andern Menschen als Barbaren
Gehen schließlich Bücher mal entzwei.

Wie? – ich jemals auch in Büchern lese??
Oh, Sie unerhörter Ese – – –
Nein, pardon! – Doch positus, ich säße
Auf dem Lokus, und Sie harrten
Draußen meiner Rückkehr, ach dann nur
Ja nicht länger auf mich warten.
Denn der Lokus ist bei mir ein Garten,
Den man abseits ohne Zeit und Uhr
Düngt und erntet dann Literatur.

Bücher – Nein, ich bitte Sie inständig:
Nicht mehr fragen! Laß dich doch belehren!
Bücher, auch wenn sie nicht eigenhändig
Handsigniert sind, soll man hoch verehren.
Bücher werden, wenn man will, lebendig.
Über Bücher kann man ganz befehlen.
Und wer Bücher kauft, der kauft sich Seelen,
Und die Seelen können sich nicht wehren.

Joachim Ringelnatz

Shakespeares Geschichten

lamb-shakespeares-novellenAuf die Idee, die Handlungen von Shakespeares Dramen in kurzen Prosastücken nachzuerzählen, scheint Anfang des 19. Jahrhunderts der englische Schriftsteller Charles Lamb gekommen zu sein. Charles hatte eine zeitweilig geistig verwirrte Schwester Mary, die 1796 in einem Anfall von Raserei versehentlich ihre Mutter getötet hatte. Charles ließ seine Schwester nur in Zeiten extremer Reizbarkeit einweisen, die übrige Zeit kümmerte er sich daheim um sie. Zur heimischen Therapie gehörten auch Be­schäf­ti­gungs­pro­gram­me, darunter eben auch die Aufgabe, Shakespeares Komödien in Prosa nachzuerzählen. Er selbst steuerte die Tragödien bei, so dass die 1807 erstmals erschienenen Tales from Shakespeare insgesamt 20 Stücke präsentierten. Das Buch wurde ein sofortiger Erfolg – es wurde sowohl als Schauspielführer als auch als Orientierung für die heranreifende Jugend geschätzt – und gehört in England bis heute zum Grundstock der populären Literatur zu Shakespeare.

shakespeares-geschichten-2In den späten 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der Chemiker und Schriftsteller Walter E. Richartz die Idee einer modernisierten und ergänzten Neuausgabe der „Shakespeare Novellen“. Er fand die vorliegenden Übersetzungen nicht nur sprachlich steif, sondern ihn störte auch die zum Teil penetrant vorgetragene Moralisierung Shakespeares. Als Partner für sein Projekt suchte er sich Urs Widmer aus, der die von den Lambs vernachlässigten Stücke ergänzt hat: die Königsdramen, die in der Antike situierten Stücke und die von den Lambs ungnädig ausgelassene Komödie “Love’s Labour’s Lost”; sozusagen zum Ausgleich für die Aufnahme dieses Stücks fällt bei Richartz einmal mehr “Pericles, Prince of Tyre” in editorische Ungnade; in beiden Ausgaben fehlt natürlich “The Two Noble Kinsmen”. Wie Widmer in seinem Vorwort schreibt, hat er die Arbeit an den Stücken lange hinausgeschoben, aus übermäßigem Respekt vor Shakespeare, aber wohl auch, weil er ein Gutteil der Stücke nicht kannte.

shakespeares-geschichten-1Im Jahr 1978 erschienen dann die beiden Bände des deutschen Lamb bei Diogenes: Band 1 mit der Auswahl der Lambs (mit Ausnahme eben des „Perikles“), Band 2 mit 17 weiteren Erzählungen. Diese Ausgabe ist zumindest bis zum Anfang dieses Jahrhunderts kontinuierlich lieferbar gewesen; derzeit gibt es sie nur in einer Hörbuch-Fassung, allerdings eingelesen von Otto Sander, Bernd Rauschenbach und Urs Widmer selbst, was einiges an zusätzlichem Vergnügen bieten dürfte. shakespeares-koenigsdramenAnsonsten sind derzeit nur die Shakespeareschen Königsdramen im Druck, also im wesentlichen die Nacherzählung des Rosenkriegs (“Richard II.”, “Henry IV.” 1+2, “Henry V.”, “Henry VI.” 1–3 und “Richard III.”) sowie ergänzend „König Heinrich VIII.“ und der „König Johann“.

„Shakespeares Geschichten“ bieten nicht nur die Möglichkeit, sich rasch und unterhaltsam einen Überblick über Shakespeares Bühnenwerk zu verschaffen, sondern sie haben im Gegensatz zu anderen Einführungen in Shakespeare auch den Vorteil, weitgehend frei von in­ter­pre­ta­to­ri­scher Bevormundung zu sein. Sicherlich sind auch sie nicht frei von Moral, aber sie präsentieren Shakespeare ohne den Versuch einer bürgerlichen Nutzbarmachung, wie sie bei den Lambs sehr oft die Quintessenz bildet (und die sicherlich wesentlich zum Erfolg ihres Buches beigetragen hat – „man sieht doch, wo und wie“). Und wer keinen Überblick braucht, kann hier und da hineinspicken und sich für 10 Minuten mit Shakespeare amüsieren.

Es lohnt sich übrigens, antiquarisch nach der ersten, gebundenen Ausgabe von 1978 Ausschau zu halten: Leineneinband, solides Papier und Fadenheftung waren damals noch der Standard für solche Bücher, auch bei Diogenes.

Walter E. Richartz / Urs Widmer: Shakespeares Geschichten. Alle Stücke von Shakespeare. Mit zahlreichen Illustrationen von Kenny Meadows. Zwei Bände im Schuber. Zürich: Diogenes, 1978. Leinen, Fadenheftung, 324 + 274 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.