Ein Prüfling

Ich spreche hier von längst vergangenen Tagen, wie Sie zu bemerken geruhen. Eine solche Prüfung sah etwa folgendermaßen aus: Man ruft beispielsweise Wojnizyn auf. Wojnizyn, der eben noch reglos und kerzengerade auf seiner Bank gesessen hat, erhebt sich schweißgebadet, langsam und stumpfsinnig in die Runde schauend, knöpft hastig seinen Uniformrock bis oben hin zu und schleicht, sich windend, zum Tisch der Examinatoren. »Ziehen Sie bitte ein Kärtchen«, sagt der Professor liebenswürdig. Wojnizyn streckt die Hand aus und berührt mit bebenden Fingern den Stapel mit den Fragekarten. »Aber bitte nicht auswählen«, sagt in schneidendem Ton ein nicht für ihn zuständiger, doch leicht aufbrausender alter Mann, Professor einer anderen Fakultät, den plötzlich eine Abneigung gegen den unglücklichen […] erfasst hat. Wojnizyn fügt sich in sein Los, nimmt eine Karte, gibt die Nummer an, setzt sich ans Fenster, bis sein Vorgänger die ihm gestellte Frage beantwortet hat. Am Fenster lässt Wojnizyn kein Auge von der Karte, nur hin und wieder schaut er wie zuvor langsam in die Runde, im Übrigen aber rührt er sich nicht. Sein Vorgänger hat mittlerweile geendet; man sagt ihm: »Gut, Sie können gehen« oder gar »Gut, sehr gut«, je nach seiner Leistung. Nun wird Wojnizyn aufgerufen; er steht auf und nähert sich festen Schrittes dem Tisch. »Lesen Sie die Frage vor«, heißt es. Wojnizyn hält sich das Kärtchen mit beiden Händen direkt vor die Nase, liest langsam vor und lässt dann, ebenso langsam, die Arme sinken. »Nun, mein Herr, dann antworten Sie bitte«, sagt der Professor bedächtig, lehnt sich zurück und kreuzt die Arme über der Brust. Grabesstille. »Was haben Sie denn?« Wojnizyn schweigt. Der alte Professor von der anderen Fakultät verliert die Geduld. »So sagen Sie doch etwas! « Mein Wojnizyn schweigt wie ein Grab. Sein rasierter Nacken ragt steil und reglos vor den neugierigen Blicken der Kameraden auf. Dem alten Professor quellen beinahe die Augen aus dem Kopf: er hasst Wojnizyn nun endgültig. »Das ist aber seltsam«, bemerkt ein anderer Examinator, »wieso stehen Sie da, als wären Sie stumm? Wissen Sie es denn nicht? So sagen Sie es doch!« — »Erlauben Sie mir, ein anderes Kärtchen zu ziehen?« fragt der Unglückliche tonlos. Die Professoren werfen sich Blicke zu. »Gut, tun Sie das«, antwortet der Hauptprüfer und macht eine wegwerfende Bewegung. Wojnizyn zieht ein neues Kärtchen, geht wieder zum Fenster, kehrt wieder zum Tisch zurück und schweigt wieder wie ein Toter. Der Professor von der anderen Fakultät ist drauf und dran ihn lebendig zu verspeisen. Schließlich schickt man ihn fort und trägt eine Null ein. Sie denken, dass er zumindest jetzt hinausgeht? Aber nein! Er kehrt zurück auf seinen Platz und bleibt wie zuvor reglos sitzen, bis die Prüfungen zu Ende sind, und ruft beim Fortgehen: »Die machen einem aber die Hölle heiß! Was das für Aufgaben waren!« Und dann wandert er den ganzen Tag durch Moskau, fasst sich hin und wieder an den Kopf und verwünscht bitter sein unglückliches Los. Mit den Büchern beschäftigt er sich natürlich nicht, und anderntags wiederholt sich dieselbe Geschichte von vorn.

Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers. München: Hanser, 2018. S. 379 ff.

Iwan Turgenjew: Das Adelsgut

Letztlich ist alles möglich. Vor allem hier bei Ihnen in Russland.

Es ist ja seit einiger Zeit Mode, Neu­über­set­zun­gen dadurch zu markieren, dass man Ihnen einen neuen Titel mitgibt; so auch hier: Aus dem Adelsnest (Dworjanskoje gnesdo) wird das semantisch sicherlich ebenso korrekte Adelsgut, was ein wenig verwundern darf, denn nicht nur nimmt es dem Titel das Heimische zusammen mit dem Provinziellen, es spielt im ganzen Roman ein Adelsgut auch keine bedeutende Rolle. Aber erfahrene Leser wissen, dass über die Titel der Bücher nicht immer die Übersetzerin entscheidet, auch wenn sie die Entscheidung nachträglich zu rechtfertigen hat. Lassen wir es auf sich beruhen.

Das Adelsgut (erschienen 1859) ist Turgenews zweiter Roman und sicherlich derjenige, der ihn in Russland als Romanautor fest etabliert hat. Erzählt werden eine Ehe- und eine Liebesgeschichte, beide unglücklich, die der etwas träge Fjodor Iwanytsch Lawrezki durchlebt. Lawrezki entstammt einer Mesalliance zwischen seinem adeligen Vater und einer Bedienten, die jener geschwängert und dann nur geheiratet hatte, um damit wiederum seinem Vater einen Tort anzutun. Lawrezki wächst unter der rationalistischen Fuchtel seines Vaters auf, versucht nach dessen Tod in Moskau zu studieren, verkuckt sich in Warwara Pawlowna, die lebenslustige Tochter eines Generals a.D., die ihn nicht nur heiratet, sondern von seinem Geld auch ein großes Haus in Paris führt, ihn in seinen Studien einschläfert und nebenbei nach Strich und Faden betrügt. Als Lawrezki entdeckt, dass er betrogen wird, läuft er einfach davon, zuerst nach Italien und dann zurück nach Russland, wo er sich der Bewirtschaftung seines Gutes widmen will. Unterwegs macht er Station bei entfernten Verwandten im Städtchen O., in dessen Nähe er über ein kleines Gut verfügt.

Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Lawrezki, inzwischen 35 Jahre alt, verliebt sich in die 19jährige Tochter des Hauses, Lisaweta Michailowna. Es fällt ihm nicht schwer, die Gegenliebe der jungen Frau zu gewinnen, und als er aus einer Zeitungsmeldung vom vorgeblichen Tod seiner Gattin erfährt, ist die offene Liebeserklärung gleich gemacht. Aber natürlich kommt es, wie es kommen muss: Als die beiden Liebenden reif sind, einander in die Arme und andere Körperteile zu fallen, taucht unvermittelt die tot geglaubte Warwara mit dem gemeinsamen Töchterchen wieder auf. Herzzerreißend verzichten die Liebenden auf einander, zähneknirschend vergibt Lawrezki seiner Frau und stimmt zu, für eine Weile mit ihr unter einem Dach zu leben, um seiner Tochter nicht den Weg in die gute Gesellschaft zu verbauen. Auf jegliches weltliche Glück verzichtend geht die fromme und weltfremde Lisa ins Kloster, während sich Warwara so gut wie bisher zu amüsieren versteht. Am Ende ist sie die Einzige, die aus dem allgemeinen Elend glücklich hervorgeht und bekommt, was sie will.

An diese insgesamt etwas seichte und flache Geschichte, der auch nicht durch die in ihr spielenden Charaktere aufgeholfen wird– nur die Figur Warwaras sticht mit ihrem amoralischen Erfolg etwas aus der literarischen Einheitsware heraus –, klebt Turgenew einen unerträglich Epilog, der acht Jahre nach der Haupthandlung den Gutsbesitzer Lawrezki an den Ort seines Unglücks zurückkehren lässt. Dort lebt nun eine neue Generation, fröhlich umeinanderspringend wie junge Hunde, deren Hauptbeschäftigung im Lachen und Hopsen besteht und die daher die positive Zukunft darstellt. Man sollte sich die Lektüre dieser abschließenden Dummheit ersparen!

Dass dieser Roman inhaltlich schwächelt bzw. deutlich dem damaligen populären Literaturgeschmack huldigt, bemerkte schon die zeit­­g­enös­sische Kritik (auch Turgenew selbst macht sich an einer Stelle ein wenig darüber lustig). Hoch gelobt wurde er aber wegen seiner sprachlichen Aus­ge­stal­tung, die man nun leider in einer anderen Sprache immer nur bedingt wiedergeben kann. Die Neuübersetzung von Christiane Pöhlmann ist angenehm zu lesen und so beweglich, dass sie in jeder Szene auf der Höhe des Erzählten ist. Auch mildert sie im Epilog das Pathos des Erzählers nicht ab, um einer heutigen Lesererwartung entgegenzukommen. Alles in allem hinterlässt der deutsche Text einen sehr runden Eindruck. Wenn nur der Inhalt etwas weniger klischeehaft wäre …

Iwan Turgenjew: Das Adelsgut. Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann. Zürich: Manesse, 2018. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 382 Seiten. 25,– €.

Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers

Und wir gingen auf die Jagd.

Das russische Subgenre der Aufzeichnungen umfasst eine erhebliche Breite erzählerischer Formen, die im Wesentlichen nur dadurch miteinander verbunden sind, dass es sich um autobiographische oder wenigstens pseudo-autobiographische Texte handelt. Turgenews Aufzeichnungen eines Jägers umfassen 25 Erzählungen, die nahezu alle zuvor in Zeitschriften abgedruckt wurden und nur sehr locker über eine gemeinsame Erzählerfigur miteinander verbunden sind. Die Sammlung erschien erstmals 1852, wobei sie nur knapp der Zensur entging – Turgenew spekulierte zu Recht darauf, dass der damalige Moskauer Zensor seine Arbeit eher schlampig erledigte –, allerdings politisch so wirksam war, dass man Turgenew bei nächster publizistischer Gelegenheit in Haft nahm und später auf sein Gut in der Provinz verbannte. Die Aufzeichnungen machten ihren Autor jedenfalls auf einen Schlag berühmt.

Die nur nebenbei mitgeteilte Rahmenhandlung der Aufzeichnungen ist die eines Adeligen, der in der engeren und weiteren Umgebung seines Gutes auf die Vogeljagd geht. Zahlreiche Erzählungen liefern dabei Portraits wunderlicher Personen aus den unterschiedlichsten Schichten der russischen Gesellschaft: Ein verrückter Adeliger kommt ebenso vor wie ein moralischer Förster, eine jahrelang von einer Krankheit ans Bett gefesselte Bediente, arme Leibeigene ebenso wie wohlhabende, handfeste Bauern, ein korrupter und menschenschindender Verwalter ebenso wie sein eitler, selbstgefälliger Gutsherr. Allein die Fülle an vorgeführten Figuren ist erstaunlich; hinzu kommen abenteuerliche Anekdoten, romantische Naturschilderungen, ein Räsonnement über den Stoizismus der Russen angesichts des Todes, unglückliche Lie­bes­ge­schich­ten, die Schilderung bäuerlichen Elends – immer mit exakt so viel Distanz gezeichnet, dass sich die Kritik des Erzählers nur zeigt, aber nirgends ausdrücklich ausgesprochen wird – und was der Dinge mehr sind. All das kommt gänzlich frisch und originell daher und ist doch für den, der die europäische Erzähl-Tradition kennt, von einer beeindruckenden literarischen Breite und Tiefe. Formal findet sich alles, was gut und wichtig ist: Neben den schon genannten Figuren-Portraits und den im­pres­sio­nis­ti­schen Naturschilderungen findet man Satire, die moralische Novelle, echte Jagd-Anekdoten, eine Sammlung von Geistergeschichten, Parodien (so etwa auf die romantischen Meistersinger), reine Erinnerungsprosa und Stücke von echtem gesellschaftskritischem Pathos. Die Sammlung zeigt Turgenew als vollständig ausgebildeten, souveränen Erzähler, der nicht nur aufgrund seiner politischen Position, sondern auch wegen seiner literarischen Qualität seinen plötzlichen Ruhm voll und ganz verdient.

Es überrascht daher nicht, dass die Aufzeichnungen eines Jägers das am häufigsten übersetzte Buch Turgenews ist. Vera Bischitzky zählt in ihrem Nachwort allein zwölf Vorläufer-Übersetzungen, von denen mir immerhin drei vorliegen. Die von Hermann Wotte (Berlin u. Weimar: Aufbau, 1968) ist deutlich gealtert und besteht den Vergleich mit den beiden neuesten Übersetzungen von Peter Urban (Zürich: Manesse, 2004) und Vera Bischitzky (München: Hanser, 2018) nicht gut. Urban und Bischitzky stehen in lebendiger Konkurrenz und haben wohl beide ihre Verdienste.

Urban und Bischitzky lassen zahlreiche russische Wörter, für die sie keine ausreichend genaue Entsprechung im Deutschen zu finden meinen, transkribiert in der Ursprache stehen: Beide übersetzen zum Beispiel den Titel und die Anrede „Barin“ nicht mit Gutsherr oder Gnädiger Herr. Urban geht dabei deutlich weiter als Bischitzky: Den „Burmistr“ des Originals (offensichtlich ein korrumpierter deutscher Bürgermeister) lässt Urban stehen, wo ihn Bischitzky durch den Dorfschulzen ersetzt. Für Bischitzkys Himbeerquell bleibt bei Urban der russische Eigenname „Malinovaja voda“ erhalten. Zudem wählt Urban bei Eigennamen eine Transkription, die stärker der wissenschaftlichen angenähert ist als die eher traditionellen deutschen Lesegewohnheiten entgegenkommende Bischitzkys.

Was den Erzähltext insgesamt angeht, so finden beide originelle und überzeugende Lösungen:

Der dünne obere Rand des ausgestreckten Wölkchens glitzert von kleinen Schlangen; ihr Glanz gleicht dem Glanz von geschmiedetem Silber.

Urban, S. 138.

Der obere, zarte Saum der in Schlangenlinien gewundenen Wolke funkelt; ihr Glanz erinnert an gehämmertes Silber.

Bischitzky, S. 127

Er lebte im Sommer in einem Flechtkäfig, hinter dem Hühnerstall, im Winter im Vorraum der Badestube; bei strengem Frost übernachtete er auf dem Heuboden. Man war an seinen Anblick gewöhnt, gab ihm manchmal auch einen Fußtritt, aber niemand sprach mit ihm, und er selbst schien von Geburt an nie den Mund aufgemacht zu haben.

Urban, S. 50.

Den Sommer über hauste er in einem Verschlag hinter dem Hühnerstall und im Winter im Vorraum des Badehauses; war strenger Frost, übernachtete er auf dem Heuboden. Man hatte sich an seinen Anblick gewöhnt, manchmal bekam er einen Fußtritt, doch nie sprach jemand mit ihm, und auch er selbst hatte wohl noch nie im Leben den Mund aufgetan.

Bischitzky, S. 47.

Da sich der Erzähler im weiteren Verlauf mit der hier charakterisierten Figur lebhaft unterhält, ist in diesem Fall Urbans Formulierung wohl vorzuziehen.

Oft wählt Urban den kürzeren, lakonischeren, herberen Ausdruck, was im Gegenzug den Naturbeschreibungen bei Bischitzky durchaus zugutekommt. Allein auf der Basis der deutschen Texte kann kaum einer der beiden Übersetzungen der Vorzug eingeräumt werden; und einen Blick ins Original zu werfen, verhindert meine mangelnde Sprachkenntnis.

In welcher Übersetzung auch immer: Turgenews Erstling ist allemal eine Entdeckung oder Wiederentdeckung wert. Wer nur einmal hineinschauen möchte, um sich ein Bild zu machen, dem rate ich zur Lektüre von Bežin lug / Die Beshin-Wiese, einer impressionistisch beginnenden, leichthin Dante anspielenden Naturerzählung, die dann in eine Sammlung volkstümlicher Geistererzählungen übergeht, und dem schon erwähnten Der Burmistr / Der Dorfschulze, der aufzeigt, wie weit Turgenew in seiner Sozialkritik gerade noch gehen konnte, bzw. wo er bereits zu weit gegangen war.

Ivan Turgenew: Aufzeichnungen eines Jägers. Aus dem Russischen von Peter Urban. Zürich: Manesse, 2004. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 704 Seiten. 24,90 €.

Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. München: Hanser, 2018. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 640 Seiten. 38,– €.

Aus meinem Poesiealbum (XXVI) ‒ Romantische Liebe

… und hätte sie sich nicht zweitens in einen jungen, durchreisenden Studenten verliebt, mit dem sie sogleich in einen emsigen, leidenschaftlichen Briefwechsel trat; in ihren Episteln erteilte sie ihm ihren Segen für ein gottgefälliges, herrliches Leben, wie das in derartigen Fällen üblich ist, brachte »ihr ganzes Sein« zum Opfer, verlangte nichts als seine Schwester zu sein, erging sich in Naturbeschreibungen, ließ auch Goethe, Schiller, Bettina und die deutsche Philosophie nicht unerwähnt und stürzte den armen jungen Mann schließlich in schiere Verzweiflung. Doch die Jugend nahm sich ihr Recht: eines schönen Tages erwachte er mit einem derart brennenden Hass auf seine »Schwester und beste Freundin«, dass er rasend vor Zorn um ein Haar seinen Kammerdiener verprügelt hätte und noch lange Zeit danach bei der geringsten Anspielung auf eine erhabene und selbstlose Liebe in Wut geriet …

Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers. München: Hanser, 2018. S. 285

Juan Eduardo Zúñiga: Iwan S. Turgenjew

Als ich neulich wieder einmal bei Turgenew vorbeikam, fiel mir auch dieses lang eingestaubte Insel-Taschenbuch in die Hand. Diesmal habe ich hineingeschaut; ich hätte es besser gelassen.

Der Text wurde in Deutschland als Biographie verkauft, obwohl ihn sein Autor im Vorwort völlig zu Recht einen Essay nennt, und man darf hier ungeniert an Tucholsky denken: „Und wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay.“ Das Büchlein präsentiert weitgehend nichts als wirres Geschwätz, zusammengesuchte Einsichten, die in lockerer assoziativer Manier aneinandergereiht werden, ohne dass sich aus ihnen mehr ersehen ließe, als dass eben dieser und jener mal dies oder das über Turgenew gesagt habe und was man sonst noch so denken könne.

Von sehr jung an war er sich bewußt, daß er auf Frauen attraktiv wirkte, und in einigen Fällen lässt sich beobachten, wie er diese Macht sogar bei denen ausübt, die reine ›Vermittlerinnen‹ waren, eine Kategorie, in welche die Frau von Traditionen und weltlichem Leben gerne eingereiht wird.

Und solche Sätze sind bei weitem nicht die Schlimmsten.

Das ganze Buch ist ein unlesbares Gewäsche. Dass es überhaupt übersetzt und gedruckt wurde, lässt mich einen internationalen Mangel an soliden Turgenew-Biographien vermuten; wenigstens scheint auf Deutsch derzeit überhaupt nichts Vernünftiges lieferbar zu sein. Hinweise dazu wären sehr willkommen.

Juan Eduardo Zúñiga: Iwan S. Turgenjew. Eine Biographie. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. it 2744. Frankfurt/M.: Insel, 2001. Broschur, 277 Seiten. Zum Glück nur noch antiquarisch greifbar.

Orlando Figes: Die Europäer

Da Turgenew durch das schlechte Wetter ans Haus gebunden war, setzte er sich an den Schreibtisch in seinem Zimmer und begann ein Meisterwerk. Er hatte nichts anderes zu tun.

Das Unglück mit diesem Buch beginnt schon im Untertitel: Aus dem Three Lives and the Making of a Cosmopolitan Culture des Originals macht die deutsche Übersetzung Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung der europäischen Kultur. Nun ist die Entstehung der europäischen Kultur sicherlich nicht im 19. Jahrhundert zu verorten, und was ein kosmopolitisches Leben sein soll, ist auch nicht so leicht auszudenken. Wahrscheinlich ist dieser Missgriff nicht dem Übersetzer anzulasten, aber auch ohne das steht es um dessen Arbeit nicht überall zum Besten.

Die drei Leben, von denen das Buch angeblich in der Hauptsache handelt, sind die der Sängerin Pauline Viardot und des Schriftstellers Iwan Turgenew. Das dritte, von dem das Buch definitiv nicht handelt, ist das von Paulines Ehemann Louis Viardot, von dem zwar hier und da die Rede ist, der es aber – allein was die reine Textmenge angeht – zum Beispiel nicht mit der Entstehung und Nutzung des europäischen Eisenbahnnetzes im 19. Jahrhundert aufnehmen kann. Nun ist es sicherlich möglich, auf 560 Seiten eine solide Doppelbiographie zu liefern, doch wenn man gleichzeitig versucht, eine Geschichte der europäischen Kultur des 19. Jahrhunderts – und zwar der Musik, Literatur und Malerei; einzig die Bildende Kunst und Architektur kommen zu kurz –, des Einflusses der Eisenbahn auf die Entwicklung dieser Kultur, der Entstehung des Tourismus und nicht zuletzt der „Schaffung eines europäischen Marktes für die Künste im 19. Jahrhundert“, wie es das Vorwort in aller Bescheidenheit ankündigt, zu liefern, so kann es schon einmal geschehen, dass keiner dieser Aspekte anmessen behandelt werden kann.

So ist denn aus dem allem ein ganz amüsantes Pottpüree geworden, ein Durcheinander unterschiedlichster Ansätze und Absichten, was zum Teil zu Kapiteln führt, die als gelungene Illustration der Hilflosigkeit des Autors gelten können (ich empfehle zur Probe den Abschnitt 2 des 4. Kapitels (S. 260–284) zu lesen). Bei Themen, mit denen sich der Leser auskennt, wimmelt das Buch von Oberflächlichkeiten und Fehlern, die anderen nimmt er amüsiert zur Kenntnis nach dem Motto „So stellt sich also der kleine Orlando das europäische 19. Jahrhundert vor“. Wer sich aber dafür interessiert, welche Schriftsteller und Komponisten es „gelernt haben“, während einer Eisenbahnfahrt zu arbeiten, wird aufs Beste bedient.

Für Leser mit zu viel Zeit oder zu wenig Ahnung sicherlich eine amüsante Lektüre. Für alle anderen Zeitverschwendung. Leider das zweite Buch von Orlando Figes, dem ich ein solches Urteil ausstellen muss.

Orlando Figes: Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung der europäischen Kultur. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin: Hanser Berlin, 2020. Pappband, Lesebändchen, 640 Seiten. 34,– €.

Hans von Trotha: A Sentimental Journey

Und wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay.

Kurt Tucholsky

Am 18. März vor 250 Jahren starb mit Laurence Sterne einer der bekanntesten, einflussreichsten und umstrittensten Schriftsteller seiner Zeit. Er ist nur 54 Jahre alt geworden, von denen er nur die letzten gut 8 Jahre als Schriftsteller bekannt war. In dieser Zeit machte er eine glanzvolle Karriere, die er selbst geschickt anzuheizen verstand, mit zwei Romanen, die die zeitgenössischen literarischen und sittlichen Grenzen mit Humor und  Geschicklichkeit austesteten. Wie groß der Erfolg seiner Bücher war, lässt sich auch daran messen, wie umgehend sie in andere europäische Sprachen übersetzt wurden: Zum Ende seines Lebens hin wartete man etwa in Deutschland so dringend auf den neuen Sterne, dass die Bücher immer schon im Erscheinungsjahr der Originale auch auf Deutsch vorlagen. Und gerade in Deutschland fanden sich zahlreiche treue Epigonen seines Stils, auch solche, die es verstanden, weit über ihn hinauszukommen.

Anlässlich dieses Jubiläums ist bei Wagenbach in der hübschen SALTO-Reihe ein Essay von Hans von Trotha erschienen. Das Büchlein bemüht sich, eine Art von Hommage an Sterne zu liefern, in dem es wenigstens in Teilen vorgibt eine Sentimentale Reise von London nach Coxwold, dem letzten Wohnort Sternes in Yorkshire, zu beschreiben. Ganz im Sinne Sternes wird das alles natürlich konterkariert durch das, was dem Autor sonst noch einfällt, und das hat hier und da auch schon mal nur wenig oder gar nichts mit Sterne zu tun, liest sich aber immer nett, und wenn man vom 18. Jahrhundert, Sterne und England nur wenig weiß und es mit Wahrheit und Stil nicht so genau hält, ist das sicherlich eine nette Lektüre.

Mir ist besonders der erste Teil, in dem der Autor versucht, sich abwechselnd dumm und schlau zu stellen, erheblich auf die Nerven gegangen, nicht nur wegen seines schiefen Bildes der Aufklärung, nicht nur, weil er die Geschichte des englischen Königshauses falsch wiedergibt, nicht nur wegen seines aufgeblasenen und oft inhaltsfreien Stils, nicht nur wegen des falschen Deutschs, das ihm offenbar keiner im Verlag korrigieren konnte, nicht nur wegen seiner hohlen Pauschalisierungen, sondern besonders deswegen, weil ich trotz alledem spätestens auf jeder dritten Seite eine Kleinigkeit gefunden habe, die ich zuvor nicht wusste oder irgendwann schon wieder vergessen hatte. So gern ich das Buch zugeklappt und weggelegt hätte, immer war ich zu neugierig, was mich um die Ecke der nächsten Seite erwartet. Und auch das ist sternesch im besten Sinne.

Ein im Kern schöner Essay in einem schrecklich gewollten und missratenen Stil, den ich trotzdem nur empfehlen kann, besonders da er, so weit ich sehe, konkurrenzlos dasteht.

Hans von Trotha: A Sentimental Journey. Laurence Sterne in Shandy Hall. Berlin: Wagenbach, 2018. Leinen, Fadenheftung, 140 Seiten. 17,– €.

Zur Besprechung der Sterne-Werkausgabe bei Galiani

Uwe Timm: Rot

Bald […] werden die Herbstbilder Pegasus, Fische und Walfisch gut zu sehen sein. Und in dem Walfisch ist der [τ] Cet, der unserer Sonne so ähnlich sein soll, weil auch er Planeten hat. Vielleicht das wahre Utopia, ohne angemaßte Herrschaft, ohne unnötiges Leid, das würde schon reichen.

timm-rotEin außergewöhnlich gut konstruierter und detailreicher Roman über den Abschied von den Idealen der 68er-Studentbewegung; für die eine oder den anderen dürfte er vielleicht sogar ein wenig zu konstruiert sein. Der Ich-Erzähler Thomas, ein Alt-68er, der im bürgerlichen Leben nie recht Fuß gefasst hat, liegt buchstäblich auf der Straße, die er bei Rot überquert hatte, weshalb er angefahren wurde. Wahrscheinlich stirbt er während des Erzählens und färbt mit seinem Blut die Straße unter sich; neben ihm liegt ein Päckchen Sprengstoff, das gerade aus seiner Aktentasche gefallen ist.

Beruflich ist Thomas Grabredner, einer jener, die gebeten werden, in den Fällen über dem Toten zu sprechen, wenn keine der Konfessionen sich als zuständig betrachtet oder vom Toten gern gesehen würde. Und so hält Thomas in seinen letzten Minuten auf Erden eine Grabrede auf sich und seine ehemaligen Freunde aus der Studentenbewegung: Zum Beispiel Edmond und Vera, die aus der Frankophilie Edmonds einen lukrativen Weinimport gemacht und sich als neureiche Alkoholiker in einer Neubau-Villa niedergelassen haben. Die Ehe kriselt, Vera ist im Entzug, Edmond sitzt im von seiner Frau leergeräumten Haus, säuft Wein aus dem Suppenteller und schlägt seinen Kopf vor die Wand. Oder Krause, der mit Lisa, einer Norwegerin, in Mecklenburg-Vorpommern in ländlicher Idylle mit Streuselkuchen und Schlagsahne lebt. Beide sind Lehrer, und Krause betreibt nebenbei ein Antiquariat, das auf die Theorie der Studentenrevolution spezialisiert ist.

Am wichtigsten aber ist Aschenberger, der gerade verstorben ist und Thomas testamentarisch als seinen Grabredner verpflichtet hat. Auch Aschenberger scheint sich bürgerlich etabliert zu haben – er hat bei seiner Heirat den Namen seiner Frau angenommen und heißt nun Lüders. Er verdient sein Geld mit alternativen Stadtführungen durch Berlin, lebt in einer mit Büchern vollgestopften Wohnung und plant einen letzten großen Coup: Er will die Berliner Siegessäule als Symbol der missratenen deutschen Geschichte in die Luft sprengen und sich anschließend der Polizei stellen. Aus seinem Nachlass stammt der Sprengstoff, der Thomas bei seinem Unfall aus der Tasche gefallen ist.

Die Wiederbegegnung mit Aschenberger setzt Thomas sichtlich zu, der selbst sich vor einigen Jahren nach einer Midlife-Crisis radikal von der eigenen Vergangenheit getrennt hat, in dem er allen persönlich Besitz verkauft oder weggeworfen hat und seitdem in einer kargen Wohnung sein Leben von Tag zu Tag verbringt. Doch sein unreligiöses Mönchstum wird derzeit heftig gestört: Thomas hat eine Affäre mit der verheirateten Iris, die eine Generation jünger ist als er. Iris ist Bühnenbildnerin und Lichtgestalterin, sie lebt also davon, ästhetische Illusionen zu verkaufen. Die Affäre spitzt sich kurz vor Thomas Unfall zu, als Iris schwanger wird, ihren Mann Ben verlässt und mit Thomas eine Familie gründen will. Ihre offene Emotionalität überwältigt Thomas immer mehr, der kurz davor steht, sich auf Iris Pläne einzulassen, als der Unfall all dem ein Ende setzt.

Außer dieser Hauptlinie der Erzählung glänzt der Roman mit zahlreichen weiteren Nebenfiguren und Kleinsterzählungen, etwa der depressiven Animateurin Tessy, der politisch engagierten Türkin Nilgün oder dem Maler Horch – wahrscheinlich der spannendsten Figur im ganzen Roman. Man findet heute nur wenige Erzähler, die tatsächlich soviel zu erzählen haben und denen es gelingt, ihre divergierenden Stoffe dennoch auf die großen literarischen Themen – Tod, Liebe, Geburt – zu fokussieren, ohne dass es peinlich wird. Ein wirklich gelungenes Stück!

Uwe Timm. Rot. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001/2005. Bedruckter Pappband, 428 Seiten. 15,– Euro. (Auch als dtv-Taschenbuch lieferbar.)

Aus gegebenem Anlass (XVIII) – Es wird Herbst, die Blätter werden brauner!

Rosen auf den Weg gestreut

Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!
Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!
Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!
Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: »Ja und Amen – aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!«
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.
Und schießen sie –: du lieber Himmel,
schätzt ihr das Leben so hoch ein?
Das ist ein Pazifisten-Fimmel!
Wer möchte nicht gern Opfer sein?
Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen . . .
Und verspürt ihr auch
in euerm Bauch
den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –:
Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,
küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft –!

Kurt Tucholsky

Lew Tolstoi: Anna Karenina

Tolstoi_AnnaZum ersten Mal habe ich „Anna Karenina“ noch zu Schulzeiten gelesen, so habe ich damals wenigstens geglaubt. Es handelte sich um eine Ausgabe des Lingen-Verlages, der damals schon preiswerte Lizenzausgaben für Zeitungsverlage herstellte. Unter anderem gab es auch eine ganze Reihe von Klassikern der Weltliteratur, alle in sehr hässliches grünes Kunstleder eingebunden und auf sehr handfestem Papier gedruckt. Die Ausgabe der „Anna Karenina“ hatte in dieser Reihe knapp 430 Seiten. Als ich das Buch dann zum zweiten Mal während des Studiums las – ich versuchte, mir einen Überblick über die wichtigen Ehe-Romane des 19. Jahrhunderts zu verschaffen – war es der Text der Winkler-Ausgabe, übersetzt von Fred Ottow, im Einband der dtv-Weltliteratur. Hierbei handelte es sich angeblich um eine vollständige Ausgabe und sie hatte immerhin gut 970 Seiten, also deutlich mehr als das Doppelte an Text. Damals ist mir die Lektüre ungewöhnlich schwer gefallen, denn in Ottows Übersetzungen erschienen mir alle Hauptfiguren wie Karikaturen wirklicher Menschen und so die gesamte Konstruktion des Romans wenig überzeugend. Ob das an meiner damaligen Verfasstheit oder tatsächlich an der Übersetzung lag, habe ich nicht noch einmal geprüft. Bei der jetzigen, dritten Lektüre habe ich die Neuübersetzung durch Rosemarie Tietze gelesen, in der es der Roman auf stattliche 1227 Seiten bringt. Dieser Ausgabe glaube ich nun auch, dass sie tatsächlich vollständig ist.

Allerdings muss ich gleich eingestehen, dass ich mich mit dieser dritten Lektüre recht schwer getan habe und sie, läge ihr nicht eine didaktische Verpflichtung zugrunde, wahrscheinlich nicht abgeschlossen hätte. Es lag nicht allein an der Länge des Buches, aber auch. Denn es erscheint mehr als verständlich, dass gerade „Anna Karenina“ ein massives Opfer der Textbearbeitung bzw. -kürzung geworden ist: Tolstoi verschränkt in diesem Buch zwei Romane miteinander, von denen nur einer zu Recht den Titel „Anna Karenina“ trägt. Die Fabel um Konstantin Lewin, die den anderen Roman ausmacht, kann für sich allein kaum einen berechtigten Anspruch auf Interesse machen und ist zudem so mit Reflexionen über Religion, Ökonomie und Philosophie überladen – immer durch den nicht wirklich umfassenden Horizont Tolstois beschränkt –, dass die meisten Leser sicherlich dankbar sind, nur den Roman um die Titelfigur vorgelegt zu bekommen und von all dem anderen weitgehend verschont zu bleiben. Andererseits muss man natürlich respektieren, dass Tolstoi die tragische Skandalgeschichte um Anna als Vehikel benutzt hat, um eine ihm wichtige Position zum Prozess der Säkularisierung der europäischen Kultur zu thematisieren. Dass gerade dieser Anteil für den überwiegenden Teil seiner heutigen Leser eher obsolet geworden ist, hat er zwar ahnen, aber nicht wirklich berücksichtigen können.

Es werden also eigentlich zwei Geschichten erzählt: Die bekanntere und vielfach verfilmte ist die der Ehebrecherin Anna Karenina. Anna verliebt sich wider Willen in den jungen, noch etwas unreifen Offizier Wronski, der eigentlich ihrer Nichte Kitty den Hof macht. Auch Wronski, der zu Anfang glaubt, sich auf ein gewöhnliches Abenteuer einzulassen, wird bald von seinen Gefühlen überwältigt. Die Affäre gerät zum Skandal, als Anna schwanger wird und in einem Moment emotionaler Aufgeregtheit ihrem Mann bestätigt, was dieser längst vermutet. Was folgt, ist das lange Leiden und schließlich der Zusammenbruch Annas: Sie stirbt beinahe bei der Geburt ihrer Tochter mit Wronski, erholt sich aber wieder, geht mit Wronski nach Italien, kehrt nach Russland zurück, versucht von ihrem Mann die Scheidung zu erreichen, leidet immer mehr daran, dass sie Wronski nicht durch eine Heirat an sich binden kann und tötet sich schließlich in einem sich wahnhaft zuspitzenden Anfall von Eifersucht und Verzweiflung, indem sie sich unter einen Zug wirft.

Die Geschichte Konstantin Lewins dagegen hängt mit der Annas nur darüber zusammen, dass Lewin wie Wronski einer der Bewerber um Kittys Gunst ist. Sein Antrag wird von Kitty abgewiesen, die zu dem Zeitpunkt noch glaubt, sie werde Wronski heiraten. Als diese Hoffnung in der Affäre Wronskis mit Anna untergeht, erkrankt Kitty ernsthaft und wird von ihrer Familie zur Erholung nach Westeuropa gebracht. Es dauert sehr lange, bis sich Kitty und Lewin wiedersehen; in dieser Zeit lässt der Autor seinen Zweithelden auf seinem Gut ökonomischen Theorien nachhängen und diese mit anderen Gutsbesitzern diskutieren. Als sich die beiden vom Autor für einander Bestimmten endlich erneut treffen, einigt man sich rasch. Anschließend muss die Hochzeit vorbereitet und abgehalten werden, und dann müssen die Eheleute ein Eheleben für sich finden. Zwischzeitlich stirbt ein Bruder Lewins, was ihn auf die Frage nach dem Leben nach dem Tode stößt. Schließlich durchläuft Lewin eine intensive Phase von Selbstzweifel und Sinnsuche, die sich am Ende des Romans in eine Epiphanie christlicher Einsicht auflöst. Es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass Tolstoi gerade dieser letzte Teil, der seine eigene Rückwendung zum Christentum thematisiert, der wichtigste Teil des Romanes war. Es kann ebensowenig Zweifel daran bestehen, dass er schon 1878 obsolet und wenig überzeugend war und bis heute nicht an Kraft gewinnen konnte. Natürlich ist die Säkularisierung der europäischen Kultur eines der gewichtigsten Themen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber Tolstois Lösung ist letztlich resigantiv und rückwärtsgewandt. Es nimmt wenig Wunder, dass Tolstoi mit dieser Position einer der säkularen Heiligen des späten 19. Jahrhunderts geworden ist.

Die neue Übersetzung von Rosemarie Tietze ist gut zu lesen und bietet einem Leser wie mir, der das Original nicht zum Vergleich heranziehen kann, kaum Widerstände. Der Gesamteindruck hat sich – sieht man von der oben bereits gemachten Einschränkung ab – um Welten von dem der Übersetzung Ottows unterschieden; nur ist der Roman eben unmäßig lang geraten. Was kein Plädoyer für die gekürzten Ausgaben darstellt; wer Tolstoi lesen will, muss schlicht in den sauren Apfel der ausschweifenden Philosopheme beißen, sonst soll er sich eben eine der zahlreichen Verfilmungen des Stoffs ansehen oder etwas anderes lesen.

Lew Tolstoi: Anna Karenina. Übersetzt von Rosemarie Tietze. München: Hanser, 2009. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1285 Seiten. 39,90 €. Auch als Taschenbuch (dtv 13995) lieferbar.