Roberto Bolaño: 2666

978-3-446-23396-6 Ich habe aufgegeben. Ich habe tapfer bis etwa zur Mitte des Buches durchgehalten, bis in das vierte Kapitel hinein, das weitgehend mit der Aufzählung diverser Frauenmorde angefüllt ist. Dann habe ich noch kursorisch im letzten Kapitel herumgelesen und es dann aufgegeben. Ich habe nicht verstanden, warum ich das lesen soll; es hat mich aufrichtig nicht interessiert. Mag sein, ich habe da etwas nicht verstanden, mag auch sein, es gibt da nichts zu verstehen, sondern man soll all diesen Text hinnehmen, wie man auch das Leben hinnimmt. Nur dass das ein Irrtum wäre – ein Buch ist nicht das Leben, und es wäre auch überflüssig, wenn es das wäre. Und das Leben ist viel, viel witziger als dieses Buch.

Das Buch zerfällt auf natürlichem Wege in fünf Teile. Teil 1 langweilt uns mit der Erzählung von vier Literaturwissenschaftlern – einer Frau und drei Männern –, dem harten, internationalen Kern der Archimboldi-Forschung. Benno von Archimboldi ist ein fiktiver deutscher Autor, dessen Biografie wir in Teil 5 zu lesen bekommen. Teil 2 erzählt aus dem Leben des Philosophieprofessors Amalfitano, dem drei der vier oben genannten Archimboldi-Forscher in der nordmexikanischen Stadt Santa Teresa begegnet sind. Amalfitano hängt ein Geometriebuch an einer Wäscheleine auf. Teil 3 stellt uns einen US-amerikanischen Journalisten vor, der einen verstorbenen Kollegen vertreten muss und in Santa Teresa von einem Boxkampf berichten soll. Er lernt dort unter anderem Rosa Amalfitano kennen, die Tochter des Professors. Teil 4 ist hauptsächlich angefüllt mit der unverbundenen Aufzählung zahlreicher Morde an Frauen in Santa Teresa, von denen immer wieder vermutet wird, sie würden miteinander zusammenhängen, obwohl dies augenscheinlich nicht der Fall ist – so wie die Teile des Romans. Teil 5 erzählt auf gut 300 Seiten das Leben von Hans Reiter, der sich als Schriftsteller Benno von Archimboldi nennt.

Das ganze ist in einer etwas umständlichen Sprache geschrieben, die hier und da zu Ausreißern neigt:

… als würde ein Schwall stinkender Luft in eine Damen-Bindenwerbung fahren …

Oder:

Der Abendhimmel erinnerte an eine fleischfressende Pflanze.

Glücklich, wer sich dabei etwas Konkretes vorstellen kann.

Das Buch soll in der spanischsprechenden Welt und den USA ein riesiger Erfolg gewesen sein, was ich nicht bezweifle. Was ich bezweifle oder nicht recht verstehe, ist, wer das Buch lesen soll, wem es Spaß macht, dieser mäandernden Erzählung über mehr als 1.000 Seiten zu folgen, ohne dass ein Ziel erkennbar wäre, eine Ordnung des Erzählten oder auch nur der Hauch eines Sinns. Wie schon gesagt: Wahrscheinlich habe ich das Buch nicht verstanden oder irgendwo irgendeine entscheidende Wendung verpasst. Ich jedenfalls habe aufgegeben.

Roberto Bolaño: 2666. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. München: Carl Hanser, 2009. Bedruckter Pappband, Farbschnitt an drei Seiten (nur bei der ersten Auflage), Fadenheftung, Lesebändchen, 1096 Seiten. 29,90 €.

Aus meinem Poesiealbum (I)

Die Trompeten der Apokalypse ertönen seit einigen Jahren vor unseren Toren, und wir verstopfen uns die Ohren. Diese neue Apokalypse galoppiert, wie die alte, in Gestalt von vier Reitern heran, die Überbevölkerung – als erstem, als dem Anführer, der das schwarze Banner schwenkt –, der Wissenschaft, der Technik und der Medien. All die anderen Übel, die über uns hereinbrechen, sind nur deren Folgen. Die Medien rechne ich ohne Zögern zu den apokalyptischen Reitern.

Luis Buñuel

Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita

978-3-630-62093-0 Der Roman scheint mir, obwohl er als einer der bedeutendsten russischsprachigen des 20. Jahrhunderts gilt und die deutsche Übersetzung seit 1975 konstant im Druck gewesen zu sein scheint, immer noch so etwas wie ein Geheimtipp zu sein. Ich habe ihn vor fast genau 23 Jahren während des Studium zum ersten Mal gelesen, wobei ich jetzt feststellen musste, dass von der Erstlektüre nur eine äußerst vage Erinnerung geblieben war.

Erzählt wird von der Ankunft des Teufels und seines Anhangs von Dienern im atheistischen Moskau der 1930-er Jahre. Was er eigentlich dort will, außer einmalig in einem Varietee auftreten und anschließend einen Teufelsball zu veranstalten, bleibt unklar. Allerdings verursacht er unter den Einwohnern Moskaus ein ziemliches Chaos: Zahlreiche Bürger enden im Irrenhaus, zwei verlieren sogar ihr Leben. Diese Ereignisse scheinen aber nur den Hintergrund zu bilden für die Erzählung, die der Titel des Romans bezeichnet: die Liebesgeschichte zwischen einem Schriftsteller, genannt »Der Meister«, und seiner Geliebten Margarita. Der Meister hat einen Roman über Pontius Pilatus geschrieben, für den er aber keinen Verleger gefunden und ihn aus Verzweiflung darüber verbrannt hat. Scheinbar nur ein einziges Kapitel hat Margarita aus den Flammen retten können; allerdings ist der Teufel letztlich in der Lage, das komplette Werk aus den Flammen zurückzuholen.

Verknüpft werden die beiden Erzählstränge dadurch, dass Margarita vom Teufel zur Königin seines Balls erwählt wird, zur Hexe wird und am Ende des Balles einen Wunsch frei hat. Sie wünscht sich ihren Meister zurück, den sie verloren glaubt, der aber tatsächlich ebenfalls in der Moskauer Irrenanstalt einsitzt. Der Meister und Margarita finden schließlich gemeinsam Frieden, wenn auch auf eine eher überraschende Art und Weise.

Durchsetzt ist die phantastische Erzählung mit Kapiteln aus dem Pilatus-Roman des Meisters, die die Verurteilung Jesu, seine Hinrichtung und weitere Ereignisse in der Folge seines Todes umfassen. In ihnen erscheint Jesus als ein Mensch mit der Gabe außergewöhnlicher Einfühlung, nicht als Prophet oder Sohn Gottes. Diese Kapitel stehen mit ihrem melancholischen Ton in einem deutlichen stilistischen Kontrast zur humoristisch-phantastischen Rahmenerzählung.

Auch wenn einem als Nichtkenner der russischen Geschichte sicherlich die ganze satirische Schärfe des Romans entgeht, ist die Lektüre allen engagierten Lesern auf jeden Fall uneingeschränkt zu empfehlen.

Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Sammlung Luchterhand 62093. München: Luchterhand, 2005. 512 Seiten. 10,– €.

Nicholas Boyle: Kleine deutsche Literaturgeschichte

978-3-406-58663-7 Der Band entstammt der Reihe der Oxford University Press A Very Short Introduction, aus der hier zuletzt Bände von Leofranc Holford-Strevens und Harry Sidebottom vorgestellt wurden. Nicholas Boyle ist in Deutschland bekannt durch seine großangelegte, bislang aber fragmentarisch gebliebene Goethe-Biografie. Seine Kleine deutsche Literaturgeschichte zielt wohl in der Hauptsache auf Studenten des Blütenfachs Germanistik an englischen und amerikanischen Universitäten. Es ist daher verständlich, dass Boyle einen bedeutenden Teil des Bändchens darauf verwendet, die historischen und sozialen Bedingungen zu vermitteln, unter denen die deutsche Literatur entstand. Dabei werden die Literaturen Österreichs und der Schweiz in kurzen getrennten Kapiteln behandelt, die allein vom Umfang her nur als ungenügend bezeichnet werden können.

Aber auch die im engeren Sinne deutsche Literatur wird in einer so abstrakten und oberflächlichen Weise vorgeführt, dass bezweifelt werden darf, ob das Buch überhaupt jemandem einen angemessenen Eindruck der deutschen Literatur vermittelt. So führt Boyle etwa die wichtigen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts, die sich heute in der deutschen Literatur als wirksam zeigen, ausschließlich auf einen Konflikt innerhalb des bürgerlichen Lagers zurück: Hier habe es einen gesellschaftlichen Gegensatz von Staatsbeamten einerseits, die eine rationalistische Aufklärung betrieben hätten, und einer bürgerlich-liberale Aufklärung andererseits gegeben. Eine solche Dichotomie, die als hauptsächliches Erklärungsmuster Boyles bis ins 19. Jahrhundert hinein dienen muss, greift für die komplexe Lage des geistigen Umbruchs im 18. Jahrhundert offenbar zu kurz. Sie negiert, dass sich die Emanzipation des Bürgertums gegen eine höfisch geprägte Kultur mit zahlreichen aufklärerischen Bestrebungen kreuzt und auf diese Weise die unterschiedlichsten Position hervorbringt. Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts etwa als »Demontage der christlichen Heiligen Schriften« zu charakterisieren, beweist ein grundlegendes Unverständnis für bedeutende Teile der deutschen Aufklärung, zu deren Hauptforce neben Lessing auch Kant gehörte. Während sich diese deutschen Aufklärer einem französischen Projekt der Ersetzung des Christentums durch einen Kult der Vernunft gegenübersahen, versuchten sie selbst zu zeigen, dass sich Vernunft und ein Kernbestand an göttlicher Offenbarung nicht widersprachen, sondern als einander ergänzend gelesen werden konnten.

Als ebenso fragwürdig muss der Versuch angesehen werden, die Romantik in eine kritisch-fortschrittliche und eine »preußisch-eskapistische« aufteilen zu wollen. Die Behandlung Tiecks, Hoffmanns und Eichendorffs als Vertreter letzterer Richtung, die auf nicht mehr als 1½ Seiten geschieht, wird weder deren Einzelwerken noch deren Entwicklung innerhalb der Romantik in irgendeiner Weise gerecht.

Da sich Boyle nicht nur der Belletristik widmet, sondern sich immer auch Ausflüge in die Philosophie erlaubt, lässt sich leicht denken, dass man eine Rezension des Bändchen allein mit der Aufzählung all jener Schriftsteller füllen könnte, die Boyle nicht einmal erwähnt. Wenn dem wenigstens eine empathische und sinnvermittelnde Behandlung der erwähnten Werke gegenüberstünde, so wäre dies verzeihlich. Da Boyles Darstellung aber abgehoben und akademisch bleibt, ist das Buch für deutsche Leser überflüssig, und für die englischsprachige Welt ist seine Existenz nur zu bedauern.

Nicholas Boyle: Kleine deutsche Literaturgeschichte. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. München: C. H. Beck, 2009. Pappband, 272 Seiten. 17,90 €.

Urs Bircher: Max Frisch

3-85791-286-3 Die bislang einzige umfangreiche biografische Darstellung des Lebens von Max Frisch, die inzwischen auch nicht mehr lieferbar ist. Wer sich derzeit über Frischs Leben informieren möchte, ist – wenn er nicht antiquarisch suchen will – auf die inzwischen ebenfalls mehr als zehn Jahre alte, dünne Rowohlt-Monographie von Volker Hage angewiesen. Das ist kein gutes Zeichen für einen Autor.

3-85791-297-9 Die beiden Bände von Urs Bircher behandeln sowohl die eigentliche Biografie als auch das Werk umfassend und – soweit ich das beurteilen kann – sorgfältig. Die Darstellung der Werke hat zumeist einführenden Charakter, was dem Rahmen des Buches aber ganz angemessen ist. Hier und da merkt man, dass das Buch von einem Fan geschrieben wurde, da kritische Stimmen zwar in Auswahl zitiert werden, die Zustimmung von Rezensenten und Kollegen zum Werk aber nahezu immer im Vordergrund steht. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Schwächen des Autors Frisch sollte man nicht erwarten. Auch eine Auseinandersetzung mit der Nachwirkung zumindest für das knappe Jahrzehnt nach Frischs Tod fehlt. Die zahlreichen Überschriften und ein Namen- und Werkregister in beiden Bänden erlauben den gezielten Zugriff auf bestimmte Themen oder Werke. Etwas lästig ist für den Leser allein die Marotte, die Legenden zu allen Bilder am Ende des jeweiligen Bandes zu versammeln.

Urs Bircher: Max Frisch 1911–1955. Vom langsamen Wachsen eines Zorns. Zürich: Limmat Verlag, 1997. Bedruckter Pappband, 287 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.

Ders.: Max Frisch 1956–1991. Mit Ausnahme der Freundschaft. Zürich: Limmat Verlag, 2000. Bedruckter Pappband, 276 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.

He, Joe, Quadrat I und II, Nacht und Träume, …

beckett_he_joeIn den gedruckten Werken Samuel Becketts gab es bis dato immer eine Werkgruppe, deren Präsentation unbefriedigend blieb. Anders als bei den Dramen Becketts hatte man bei den Texten, die jene späten, in Zusammenarbeit mit dem SDR entstandenen Fernsehstücke repräsentierten, stets den Eindruck, hier würde etwas Wesentliches fehlen. Das lag zum einen an der offensichtlichen Tatsache, dass Beckett bei ihnen auch selbst Regie geführt hatte und also die späten Stücke direkt auf diese spezielle Produktionssituation hingeschrieben hatte. Beckett hatte daher wohl bereits beim Schreiben ein bestimmtes visuelles Konzept für diese Stücke vor Augen, das den reinen Text überstieg. Zum anderen waren die Stücke zum Teil so grundsätzlich visuell – und zum Teil auch akustisch – fundiert, dass Texte prinzipiell unzureichend zur Darstellung bleiben mussten. Diese Lücke schließt nun eine DVD aus der filmedition suhrkamp.

Becketts Fernsehstücke wurden zwischen 1965 und 1985 beim SDR in direkter Zusammenarbeit mit dem Autor produziert und – zumeist zu später Stunde – in den 3. Programmen gesendet. Ich selbst kann mich gut an den umwerfenden Eindruck erinnern, den Quadrat I und II auf mich gemacht haben, als ich es noch zur Schulzeit gänzlich zufällig im Fernsehen gesehen habe. Ich hatte dergleichen nie gesehen und dennoch war mir das Stück unmittelbar einleuchtend. Von Beckett kannte ich zu der Zeit nur Warten auf Godot – dessen Komödien-charakter mir ebenso unvermittelt klar gewesen war – und ein weiteres Theaterstück, wahrscheinlich Glückliche Tage, zu dem ich aber keinen Zugang gefunden hatte. Erst das Erlebnis von Quadrat I und II löste meine erste intensive Auseinandersetzung mit Beckett aus, den ich bis heute für einen der bemerkenswertesten Autoren des vergangenen Jahrhunderts halte.

Die DVD enthält alle vom SDR produzierten Fernsehstücke. Das sind im Einzelnen (mit Jahr der Erstaustrahlung):

  • He, Joe (1966)
  • Schatten (1977)
  • Geister-Trio (1977)
  • … nur noch Gewölk … (1977)
  • Not I (1977)
  • He, Joe (1979)
  • Quadrat I und II (1981)
  • Nacht und Träume (1983)
  • Was Wo (1986)

Ergänzt werden die Filme durch den umfangreichen Essay Erschöpft von Gilles Deleuze (in deutscher Übersetzung durch Erika Tophoven), der schon 1992 eine französische Ausgabe der Fernseharbeiten Becketts begleitet hatte. Qualitativ vermitteln die Filme in etwa den Eindruck, den sie auch bei ihrer Erstausstrahulung gemacht haben dürften; von einer digitalen Überarbeitung hat man offenbar abgesehen.

Samuel Beckett: He, Joe, Quadrat I und II, Nacht und Träume, Geister-Trio … filmedition suhrkamp Nr. 3. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2008. 1 DVD (Länge: 156 Min.) und 1 Begleitheft (60 Seiten). 19,90 € (unverbindliche Preisempfehlung).

Monologe auf Mallorca + Die Ursache bin ich selbst

bernhard_monologe Thomas Bernhard ist sicherlich einer der bemerkenswertesten deutschsprachigen Schriftsteller der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Selbst seine Kritiker müssen ihm einen unbändigen Stilwillen zugestehen, eine Konsequenz und philosophische Grundierung seiner Stücke, Erzählungen und Romane, die unter seinen Kollegen ihresgleichen sucht. Er ist wohl auch derjenige unter seinen Zeitgenossen, der die meisten Nachahmer gefunden hat, ohne dass diese Nachahmer in irgend einem Sinn seine Schüler gewesen wäre. Und noch die Parodien seiner Texte tragen den Stempel seines Stils, den man zwar leicht auszuhöhlen, aber kaum zu desavouieren vermag. Es könnte sich durchaus einmal erweisen, dass Bernhard der einflussreichste deutschsprachige Autor seiner Generation war.

In seinem letzten Lebensjahrzehnt sind zwei große Fernseh-Interviews mit Thomas Bernhard entstanden: Eine Herausforderung: Monologe auf Mallorca (1980) und  Ein Widerspruch: Die Ursache bin ich selbst (1986). Beide wurden auf Bernhards ausdrücklichen Wunsch von Krista Fleischmann geführt und produziert. Obwohl beide »Gespräche« hauptsächlich als Monologe Bernhards angelegt sind, unterscheiden sie sich sehr stark voneinander: Im früheren erscheint Bernhard überraschend gelöst und entspannt. Alle Äußerungen scheinen ironisch grundiert, nur hier und da bestimmen Pessimismus und Misanthropie den Ton. Bernhard erscheint hier beinahe kokett. Das zweite Gespräch, das in der Hauptsache in Madrid entstand, ist im Grundton deutlich ernster, aggressiver und pessimistischer. Den Höhepunkt bildet hier sicherlich der Besuch eines Stierkampfs, bei dem die Kamera zugleich die Tötung des Stiers in der Arena und Bernhards immer hilflosere Reaktionen auf dieses Geschehen verfolgt. Durchsetzt sind die Monologe Bernhards in diesem Fall durch Zitate aus dem kurz zuvor erschienen Buch Auslöschung, gelesen von Bruno Ganz.

Über die Nützlichkeit dieser beiden Dokumentationen für das Verständnis des Bernhardschen Werkes kann sicherlich gestritten werden. Bernhard geht in beiden Fällen ganz bewusst mit dem Medium des Fernsehens um, inszeniert sich und wird zugleich inszeniert. Auf der einen Seite steht die Kalkulation des Autors auf eine bestimmte Wirkung, auf der anderen Seite wird die Kalkulation gekontert von der Einsicht, dass sich die Wirkung genau dieser Kalkulation entzieht. Es ließe sich spekulieren, ob das zweite Gespräch nicht versuche, dem falschen Bild des ersten ausgleichend ein anderes falsches Bild entgegenzusetzen, aber ein solcher Ansatz griffe sicherlich zu kurz, da er die weiteren Veröffentlichungen Bernhards in der Zwischenzeit ignorierte. Es kann in diesem Sinne Raimund Fellinger, der im Begleitheft den Kontext der Interviews umreißt, darin nur zugestimmt werden, dass diese beiden Gespräche Teil des literarischen Werks von Thomas Bernhard sind.

Thomas Bernhard / Krista Fleischmann: Monologe auf Mallorca + Die Ursache bin ich selbst. Die großen Interviews mit Thomas Bernhard. filmedition suhrkamp Nr. 4. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2008. 1 DVD (Länge: 94 Min.) und 1 Begleitheft (44 Seiten). 19,90 € (unverbindliche Preisempfehlung).

Bill Bryson: Eine kurze Geschichte von fast allem

bryson_geschichteEine gut lesbare, erstaunlich differenzierte und breit angelegte populärwissenschaftliche Darstellung des momentanen naturwissenschaftlichen Weltbildes. Mir ist klar, dass ich damit nichts originelles über das Buch sage, aber ich muss mich in diesem Fall einfach der allgemeinen Zustimmung anschließen. Das Buch zeichnet sich erst einmal dadurch aus, dass man seine 600 Seiten tatsächlich gern liest: Jedes Thema wird spannend präsentiert, und es gibt nirgends ein Nachlassen der Neugier des Autors, ganz gleich ob es um astronomische, physikalische, biologische oder geologische Themen geht. Vielleicht fühlen sich die Chemiker ein wenig vernachlässigt, denn ihr Gebiet kommt nur in Sinne einer Hilfswissenschaft z. B. bei der Erörterung biologischer Vorgänge innerhalb der Zelle vor.

Was mir das Buch so besonders bemerkenswert gemacht hat, ist aber nicht allein das in ihm aufbereitete Wissen, sondern die Tatsache, dass das Nichtwissen nahezu gleichberechtigt thematisiert wird. Bryson zeigt nicht nur auf, was in den wenigen hundert Jahren naturwissenschaftlicher Arbeit erkannt wurde, sondern er erzählt auch immer von den Schwierigkeiten, auf die neue Einsichten trafen, von der Neigung der Wissenschaftler zum Status quo ihres Fachgebiets, aber auch von dem, was uns an Erkenntnissen alles noch fehlt. Bryson macht klar, dass das heutige wissenschaftliche Weltbild nur einen Augenblick eines im Fluss befindlichen Projektes darstellt, dass sich mit jeder Antwort auf eine alte Frage zumindest eine, oft aber eine ganze Reihe neuer Fragen auftut und dass unser Wissen immer ein Fragment ist und bleiben wird. Ihm gelingt es auch, die ungeheure Aufgabe zu verdeutlichen, vor der die Naturwissenschaften stehen: Wie in der Biologie etwa allein die Menge der noch nicht beschriebenen Arten eine restlose Überforderung des Menschenmöglichen bedeutet, ganz abgesehen von der Tatsache, dass täglich Arten aussterben, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Oder wie Paläontologen aus einer nur als »dünn« zu bezeichnenden Fundlage versuchen, Jahrtausende evolutionärer Entwicklung zu rekonstruieren. Oder dass Geologen bislang nur ein sehr rudimentäres Verständnis der Vorgänge im Erdinneren haben. Und dieses »Nichtwissen in den Wissenschaften« wird von Bryson sehr oft in den Worten der Wissenschaftler selbst formuliert, denen die Lücken und Schwierigkeiten Ihres Fachs natürlich ungleich deutlicher vor Augen stehen als jedem Laien.

In diesem Sinne bietet Bryson sowohl eine lebendige Wiedergabe des aktuellen wissenschaftlichen Weltbildes als auch, in dem er die Entwicklung der einzelnen Fächer darstellt, eine kleine Wissenschaftsgeschichte. Sicherlich wären hier und da einige Kleinigkeiten anzumerken, aber alles in allem ist dies das beste allgemeinbildende Buch, das ich seit Langem in der Hand gehabt habe.

Bill Bryson: Eine kurze Geschichte von fast allem. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. Goldmann 46071. München: Wilhelm Goldmann, 2005. 664 Seiten. 9,95 €.

Alan Bennett: Four Stories

bennett_storiesNach meiner viel zu späten Entdeckung Alan Bennetts mit The Uncommon Reader, das inzwischen auch in Deutschland die Bestsellerlisten erobert hat, habe ich nun erst einmal eine Sammlung von vier seiner früheren Erzählungen gelesen. Alle diese Erzählungen liegen bei Wagenbach auch auf Deutsch vor; ich gebe unten die entsprechenden Hinweise.

Enthalten sind:

  1. The Laying on of Hands (dt. Handauflegen) – die Geschichte einer Totenmesse, bei der sehr unterschiedliche Menschen überrascht feststellen müssen, welch großen und zugleich intimen Bekanntenkreis ihr Masseur gehabt hat. Und als dann Einzelne ihre Erinnerungen an den Verstorbenen mitteilen, droht die Versammlung kurzzeitig aus den Fugen zu geraten.
  2. The Clothes They Stood Up In (dt. Cosi fan tutte) – erzählt von einem älteren, konservativen englischen Ehepaar, das nach einem Opernbesuch feststellen muss, dass ihre Wohnung komplett ausgeraubt wurde. Es erweist sich, dass dieser Vorfall dem Leben zumindest der Ehefrau eine bis dahin unbekannte Dynamik verleiht.
  3. Father! Father! Burning Bright (dt. Vater, Vater, lichterloh) – berichtet von einem überforderten Lehrer, dessen Vater nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert wird und dort im Sterben liegt. Der Sohn verbringt Tage und Nächte voller Schuldgefühl am Bett des Vaters, nur um schließlich doch wieder den wesentlichen Augenblick zu verpassen.
  4. The Lady in the Van (dt. Die Lady im Lieferwagen) – ist die unglaubliche und offenbar autobiografische Erzählung Bennets über eine alte Dame ohne festen Wohnsitz, die in einem Lieferwagen lebt, den sie eines Tages in seinem Vorgarten parkt. Von da an ist sie seine ständige Nachbarin, nicht nur unglaublich lästig, unfreundlich und aufdringlich, sondern am Ende auch ein Beispiel für ein ganz wundersames, wildes Leben in der Zivilisation des 20. Jahrhunderts. Diese ganz kurze Erzählung ist zu Recht Bennetts berühmteste!

Alan Bennett: Four Stories. London: London Review of Books, 52006. Paperback, 282 Seiten. Ca. 12,40 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (20)

Heute lag die Abrechnung der VG Wort für das Jahr 2007 mit beigefügtem Scheck im Briefkasten.

Ich veröffentlichte zu meinem vierzigsten Geburtstag eine Berechnung darüber, daß ich bis dahin aus meiner Literatur – „aus der gesamten Holz- und Faserindustrie“ – insgesamt im Durchschnitt monatlich 4,50 Mark verdient hätte, und damit war ich in mehrere europäische Sprachen übersetzt, heute wäre der Durchschnitt etwas höher, aber zum Leben auch unter den einfachsten Bedingungen zu gering.

Gottfried Benn