Alan Bennett: The Uncommon Reader

bennett_reader Der Titel spielt auf eine im angelsächsischen Raum recht bekannte zweibändige Essaysammlung Virginia Woolfs an, die The Common Reader überschrieben ist, was wiederum ein Ausdruck Dr. Johnsons ist. Im Mittelpunkt von Bennetts Erzählung steht nun allerdings eine äußerst ungewöhnliche Leserin: Queen Elizabeth II., die beim Gassigehen mit ihren Corgis hinter ihrem Palast zufällig auf einen Bücherbus stößt, der die Dienerschaft ihrer Majestät mit Lesestoff versorgt. Höflich, wie sie ist, betritt sie den Bus und trifft dort auf einen ihrer Küchenjungen, Norman Seakins. Und da sie nun einmal die Gelegenheit hat, entleiht sie als weiteres Zeichen ihrer königlichen Gnade einen Roman von Ivy Compton-Burnett, an deren Adelung sich die Königin noch gut erinnern kann.

Dies ist der Beginn einer neuen Beschäftigung der Queen: Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren liest sie einen Roman, liest einfach nur, um zu lesen. Der junge Norman Seakins wird zum Pagen befördert und mit den königlichen Lektürewünschen betraut. Und Elisabeth II. wird zu einer leiderschaftlichen Leserin; bald sind ihr die öffentlichen Obliegenheiten und Repräsentationspflichten nur mehr lästig, und ihre Majestät kehrt bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu ihren Büchern zurück. Und als sei all dies nicht schon schlimm genug, denkt sie schließlich darüber nach, selbst ein Buch zu schreiben, etwas im Stil Prousts vielleicht …

Diese kleine Erzählung hat einen wundervollen Humor und transportiert auf ihren etwa 120 Seiten viele Erfahrungen, die jeder ernsthafte Leser im Verlauf seiner Lesegeschichte auch selbst gemacht hat. Sowohl der Widerstand des Hofstaates gegen das veränderte Verhalten der Königin, als auch das gänzliche Unverständnis der königlichen Familie, bieten einen wundervoll ironischen Blick auf das Haus Windsor – besonders Prinz Philip hat mir viel Freude gemacht:

‘We have a travelling library,’ the Queen said to her husband that evening. ‘Comes every Wednesday.’
‘Jolly good. Wonders never cease.’
‘You remember Oklahoma?’
‘Yes. We saw it when we were engaged.’ Extraordinary to think of it, the dashing blond boy he had been.
‘Was that Cecil Beaton?’ said the Queen.
‘No idea. Never liked the fellow. Green shoes.’
‘Smelled delicious.’
‘What’s that?’
‘A book. I borrowed it.’
‘Dead, I suppose.’
‘Who?’
‘The Beaton fellow.’
‘Oh yes. Everybody’s dead.’
‘Good show, though.’
And he went off to bed glumly singing ‘Oh, what a beautiful morning’ as the Queen opened her book.

Das Büchlein erscheint im August in deutscher Übersetzung unter dem Titel Die souveräne Leserin bei Wagenbach.

Alan Bennett: The Uncommon Reader. London: Faber and Faber, 2008. Paperback, 121 Seiten. Ca. 11,– €.

Einiges über Heinrich von Kleist

Im Jahr 2007 sind zwei umfangreiche Kleist-Biografien erschienen: Zum einen von dem renommierten Germanisten Gerhard Schulz bei C. H. Beck, zum anderen vom Journalisten und Kulturwissenschaftler Jens Bisky bei Rowohlt Berlin. Diesen beiden Bänden tritt ein deutlich schmaleres Bändchen von Peter Staengle, Mitherausgeber der Brandenburger Kleist-Ausgabe, an die Seite, das 2006 beim Kleist-Archiv Sembdner in Heilbronn erschienen ist.

schulz_kleistAls gänzlich missraten muss leider Gerhard Schulzens Kleist-Biografie angesehen werden. Das Buch neigt zur Stilblüte, ist allgemein geschwätzig in dem Sinne, dass dem Autor zu irgend einem Detail im Lebens Kleists immer auch noch etwas anderes einfällt, was mit der Sache aber wenig bis nichts zu tun hat, bleibt im Einzelnen oberflächlich, weist zahlreiche offenbare Widersprüche auf, die unvermittelt nebeneinander stehen und was der Mängel mehr sind. Für all dies können hier nur Pars pro Toto einige Beispiel geliefert werden. Sätze wie etwa der folgende, finden sich durchgängig:

Kleist hatte allerdings schon früh in seiner Potsdamer Zeit die Klarinette gewählt und sich darin unterrichten lassen, jenes [sic!] Instrument, von dem man sagte, [sic!] daß es der menschlichen Stimme am nächsten komme, obwohl [sic!] es damals anders klang als heute.

Welche logische Beziehung mag hier durch das Wort »obwohl« ausgedrückt sein? Und was mag das nächste Zitat sagen wollen?

Und so war es damals auch eher förderlich für Kleist, daß sein eigener Aufsatz zunächst in der großen Verborgenheit des Ungedruckten blieb.

An anderer Stelle wird Kleists Abschied vom Militär mit Schillers Desertion in Beziehung gesetzt, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass beide zuvor im Militär waren und nachher nicht mehr. Da findet sich eine gute Seite Text zu Prinz Louis Ferdinand, auf der auch Theodor Fontanes bekanntes Gedicht zitiert wird, um nachher altklug anzumerken, es stimme »nur bedingt«, und in folgender Passage zu gipfeln:

Ob Kleist und Louis Ferdinand einander je begegnet sind, ist nicht überliefert. Sehr früh hat Kleist jedoch in Potsdam einen der «Genossen» des Prinzen kennengelernt: Peter von Gualtieri, der sich Pierre nannte, wie er es überhaupt vorzog, französisch zu sprechen und zu schreiben, selbst an Goethe.

Man denke: Auf Französisch selbst an Goethe! Das waren wilde Zeiten!

Was die kulturellen und intellektuellen Zeitumstände angeht, herrscht bei Schulz im besten Fall Verwirrtheit vor:

Im gleichen Jahre 1777, in dem Heinrich von Kleist geboren wurde, verfaßte sein Landesherr, der Preußenkönig Friedrich II., einen Essay über Regierungsformen und Herrscherpflichten. Darin betrachtete er «die große Wahrheit, daß wir gegen die anderen so handeln sollen, wie wir von ihnen behandelt zu werden wünschen», als «Grundlage der Gesetze» – elf Jahre später erhob Kant diese Wahrheit zum kategorischen Imperativ und «Grundgesetz» der «praktischen Vernunft», also der Sittlichkeit schlechthin.

Auch wenn es ein beliebter Irrtum ist, wird die Gleichsetzung von Goldener Regel und kategorischem Imperativ auch durch Wiederholung nicht richtiger.

An der Schwelle zum technisch-industriellen Zeitalter waren die Naturwissenschaften erst allmählich im Begriff, eigenständig zu werden und sich zu differenzieren – Physik schloß oft noch die Chemie mit ein. Demzufolge bildete Mathematik auch nicht die Zuträgerin von Anwendbarem, sondern war reine Wissenschaft aus der Denkschule vor allem von Leibniz.

Newtons die neue Physik begründendes Buch von 1687 trägt den Titel Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Und Daniel Bernoulli und Leonhard Euler dürften sich für die »Denkschule vor allem von Leibniz« auch herzlich bedankt haben.

Aber auch was Kleist selbst angeht, kann sich Schulz zu keiner auch nur einigermaßen stimmigen Meinung entschließen:

Kleist war seinem Wesen nach ein geselliger, der Freundschaft fähiger wie ihrer bedürftiger Mensch.

[…] der eher Menschenscheue […]

[…] so gesellig er war, so einsam konnte und wollte er zuweilen sein […]

Immer so, wie’s gerade passt, nicht wahr Gevatter?

Das alles sind wohlgemerkt nur wenige von zahlreichen Funden, die sich bereits auf den ersten 100 Seiten dieses Buches machen lassen. Auch dieses Werk wäre wohl besser »in der großen Verborgenheit des Ungedruckten« geblieben!

bisky_kleistIm Gegensatz dazu macht Jens Biskys Biografie einen soliden Eindruck. Auch Bisky liebt zwar die Abschweifung und die ausführliche Darstellung von Informationen zur Zeit Kleists, die man auch andernorts leicht finden könnte, doch insgesamt ist sein Buch ein Zeugnis beeindruckenden Fleißes. Das geht soweit, dass dem Leser an einigen Stellen gänzlich unnötig die absonderlichsten Theorien zu Kleist referiert werden, nur um anschließend zu betonen, all dies sei Spekulation oder Irrtum. Dies macht die Lektüre in manchen Passagen mühsam. Besonders der Fachmann hat Mühe, das Wesentliche unter dem Beiläufigen und Selbstverständlichen herauszufiltern, während der Laie die Lektüre angesichts der schieren Masse von Material wohl gern einstellen würde. An einigen Stellen neigt Bisky auch zur Überinterpretation, so etwa, wenn er versucht, Einheit und Sinn in Kleists frühe Briefe zu bringen, wo etwa Staengle sehr bodenständig und richtig urteilt:

Kleists Briefe in dieser Zeit beschwören ein Bild verzweifelter Orientierungslosigkeit.

Schwächen finden sich auch in der Darstellung der spezifisch deutschen Aufklärung – Lessings Position fehlt komplett; Kants Projekt wird weder von Kleist noch von Bisky richtig verstanden – und der zeitgenössischen Philosophie. Beides ist aber in Bezug auf Kleist zu verschmerzen.

Über einzelne sprachliche Eigenheiten (»Hier wird mit der Zauberrute der Analogie gedacht« oder »Hier liegt der Knüppel beim Hund«) mag man hinwegsehen wollen. Was schmerzlich fehlt ist ein Werkregister, das einen gezielten Zugriff auf die Analyse einzelner Texte Kleists erlauben würde. Die Interpretationen selbst sind nach meinem Geschmack zu oberflächlich und bleiben zu sehr dem offensichtlichen verhaftet, sind aber für jemanden, der sich über Kleist Orientierung verschaffen will, wahrscheinlich nützlich und eine eigene erste Lektüre stützend. Die Erzählungen kommen leider (einmal mehr) deutlich zu kurz.

staengle_kleist Peter Staengles Darstellung konzentriert sich in der Hauptsache auf das Leben Kleists und gibt zu den Werken und ihrer Interpretation eher verhalten Auskunft. Das, was wir über Kleists Leben wissen, wird knapp, präzise und korrekt referiert. Dort, wo Staengle Hinweise zur Interpretation der Werke gibt, sind sie ebenso kurz, wie in die richtige Richtung weisend. Man wünscht sich bald, Staengle und nicht Bisky hätte die umfangreichere Darstellung verfasst. Das Buch ist in dem, was es leisten will und leistet, nahezu als tadellos zu bezeichnen, allerdings liefert es oft eben nur die äußere Schale für das, weswegen Kleist für uns von Interesse ist: das Werk. Wie oben bereits gesagt, sind Staengles Zugriffe normalerweise bodenständig und sehr konkret; er benennt das, was wir wissen, ebenso direkt und ungekünstelt wie das, was wir nicht wissen. Insgesamt sicherlich die angenehmste Lektüre unter den drei Neuerscheinungen.

loch_kleist Es bleibt am Ende nur noch auf die bereits 2003 bei Wallstein erschienene Biografie Kleists von Rudolf Loch hinzuweisen: Sie ist unter den umfassenden Biografien immer noch die lesbarste und ausgewogenste, die den Anspruch einer Einführung in Leben und Werk zurzeit aufs Beste einlöst. Loch ist ein ausgewiesener Kenner Kleists, was besonders seinen Werkdeutungen zugute kommt. Sicherlich bleibt auch hier vieles ungesagt und die Interpretation zeigt alles in allem eine Neigung zur Glättung der Texte, aber eine radikale Problematisierung, wie sie für das Verständnis Kleists letztendlich nötig ist, kann von einer Gesamtdarstellung mit Fug nicht erwartet werden. Auch vom Inhalt abgesehen ist dies sicherlich das schönste Buch unter den hier vorgestellten: Nicht nur hat es einen sehr angenehmen Satzspiegel, es verfügt auch über lebende Kolumnentitel und ist fadengeheftet!

Wem also im Wesentlichen eine Lebensbeschreibung mit kurzen Abrissen zu den Werken genügt, greife zum Buch von Staengle, wer eine umfassendere Darstellung sucht, lasse die Finger von den beiden neueren Publikationen, sondern greife zum Buch von Loch.

Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2007. Leinen, Lesebändchen, 608 Seiten. 26,90 €.

Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie. Berlin: Rowohlt Berlin, 2007. Pappband, Lesebändchen, 528 Seiten. 22,90 €.

Peter Staengle: Kleist. Sein Leben. Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner, 2006. Broschur, 241 Seiten. 8,– €.

Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie. Göttingen: Wallstein, 2003. Pappband, fadengeheftet, 542 Seiten. 37,– €.

Gudrun Schury: Ich wollt, ich wär ein Eskimo

schury-busch Der Aufbau-Verlag legt zum Busch-Jahr eine umfangreiche neue Biografie des Malers, Dichters und Zeichners vor. Alles in allem ist das Buch recht gelungen, allerdings liefert das Buch für Leser früherer Biografien (z. B. der von Gert Ueding) keine wirklichen Überraschungen oder neue Einsichten. Im Gegenteil werden die dort gewonnenen Erkenntnisse oft in einem plaudernden Ton verwässert und popularisiert, so dass das Gesamtbild eher an Schärfe verliert. Dies wird aber wahrscheinlich nur die Germanisten unter den Lesern stören.

Das Buch ist durch eine abwechselnde Kapitelfolge strukturiert: Auf ein chronologisches Kapitel, das dem Lebensweg Buschs folgt, folgt immer ein eher thematisch gewichtetes Kapitel usw. Dieser grundsätzlich zu begrüßende Einfall wird zudem nicht pedantisch gehandhabt, so dass ein lockerer, gut lesbarer Text entstanden ist. Schurys Darstellung zeichnet sich dabei durch ihre unübersehbare Begeisterung für Busch aus, wenn sie auch nicht geneigt ist, Buschs grundlegend pessimistischer Weltsicht beizutreten. Einerseits ist diese Begeisterung sicherlich erfrischend, andererseits tendiert die Darstellung ein wenig zur Breite; eine Kürzung hätte vielen Kapiteln und dem Buch insgesamt sicherlich gut getan.

Hervorzuheben sind fraglos die Kapitel zur Arbeitsweise Buschs bei der Erstellung der Bildergeschichten und diejenigen zum »alten« Busch, der zuerst das Zeichnen, dann das Malen und schließlich auch das Dichten gänzlich einstellt. Man wünschte man sich aber, etwas mehr über den noch vorhandenen Bestand an Gemälden Buschs zu erfahren, nachdem man gelesen hat, dass Busch wohl mit einiger Regelmäßigkeit unter seinen späten Bildern Autodafés abgehalten hat.

Busch wird von Schury nicht nur, aber auch gemäß seinem Selbst­ver­ständ­nis dargestellt, nach dem er ein gescheiterter Künstler war: Seine Ambitionen, sich als Maler zu etablieren, kamen über die Anerkennung im Kollegenkreis nie wesentlich hinaus, und auch der Versuch, als ernsthafter Dichter aufzutreten, muss als aus guten Gründen gescheitert angesehen werden. Busch hat dieses Missverhältnis seines Ruhms lange geschmerzt, dass er für Werke berühmt und geliebt war, die er selbst nicht für voll nehmen konnte und wollte, die ihm höchstens als Nebenarbeiten galten. So hat sein Interesse an weiteren  Bil­der­ge­schich­ten schon früh nachgelassen, und nach Maler Klecksel (1884) sind sie nicht über erste Notizen und Entwürfe hinausgekommen. Schury betont zu Recht, dass es nicht jedem geben sei, Wiederholung und Selbstkopie zu vermeiden. Überhaupt gewinnt man mehr und mehr Respekt vor Buschs Fähigkeit, sich von Ruhm und finanziellem Erfolg nicht blenden zu lassen. Er hat von seiner Zeit und seinen Zeitgenossen alles in allem wenig gehalten, und seinen Erfolg bei ihnen sah er viel eher als eine Bestätigung denn als eine Widerlegung dieser Sichtweise an. Auch in diesem Sinne gehört Busch in die Reihe der großen Pessimisten des 19. Jahrhunderts.

Gudrun Schury: Ich wollt, ich wär ein Eskimo. Das Leben des Wilhelm Busch. Berlin: Aufbau, 2007. Pappband, bedruckter Vorsatz, 16 Farbtafeln u. zahlreiche Abbildungen, Lesebändchen, 412 Seiten. 24,95 €.

Ronan Bennett: Zugzwang

bennett-zugzwang Einer der seltenen Fälle, in denen ein englischsprachiges Buch einen deutschen Titel trägt: Das Wort Zugzwang stammt aus der deutschen Schachterminologie und ist heute weltweit gebräuchlich. Es bezeichnet Stellungen, in denen für den am Zug befindlichen Spieler jeder mögliche Zug zum Partieverlust führt; man sagt dann: »Der Spieler ist in Zugzwang.« Zugzwang entsteht am häufigsten in Endspielen und ist dort ein wichtiges, für beide Seiten schwer kalkulierbares taktisches Mittel.

Die deutsche Ausgabe ist von Bloomsbury mit einer beachtlichen Kampagne beworben worden, in der der Verlag neben den üblichen buchhändlerischen und journalistischen Kanälen auch die Schachmedien konsequent bedient hat. Das Buch hatte daher beim Erscheinen eine breite und beinahe durchweg positive Publicity, was wohl in der Hauptsache daran lag, dass kaum einer der Rezensenten es tatsächlich gelesen hatte. Nur in Einzelfällen ist darauf hingewiesen worden, dass das St. Petersburger Schachturnier des Jahres 1914 eher als Kulisse dient, als dass es eine tragende Rolle spielen würde. Doch zum schachlichen Anteil weiter unten noch einige Worte.

Erzähler des Romans ist der St. Petersburger Neurologe und Psychoanalytiker Dr. Otto Spethmann, der unter anderem auch einige Prominente behandelt. Wie schon angedeutet, spielt das Buch im Frühjahr 1914, kurz vor und während des berühmten St. Petersburger Turniers, das nicht nur vom russischen Zaren direkt gefördert wurde, sondern an dessen Ende auch die ersten offiziellen Großmeistertitel verliehen wurden. Allerdings beginnt Bennetts Geschichte erst einmal mit einem Mord: Am 14. März 1914 (man fragt sich unwillkürlich, ob nach julianischem oder gregorianischem Kalender, aber solche Feinheiten sind dem Autor gänzlich fern) wird der St. Petersburger Zeitungsherausgeber Gulko auf offener Straße ermordet. Wie wir wenige Seiten danach erfahren, ist dies nicht der einzige Mord des Tages, denn wenig später erhält Dr. Spethmann den Besuch des Polizeiinspektors Lychev, der ihn in einer Mordsache befragt, bei der beim Opfer eine Visitenkarte des Arztes gefunden wurde. Spethmann gibt wahrheitsgemäß Auskunft, dass ihm der Name des Ermordeten nichts sage und wird für den nächsten Tag zusammen mit seiner Tochter Catherine (wahrscheinlich heißt sie Katharina, aber solche Feinheiten sind dem Autor gänzlich fern) aufs Revier bestellt.

Als er dies noch am selben Abend einer seiner Patientinnen, Anna (we need a girl in the story, who is she and what does she do?), erzählt, arrangiert diese sofort einen Termin bei ihrem geld- und einflussreichen Vater, der Spethmann weitere Belästigungen der Polizei ersparen soll. Allerdings hat dieser Versuch eher den gegenteiligen Effekt: In der Folge werden Spethmann und seine Tochter inhaftiert und verdächtigt, Kontakte zu Verschwörern zu haben, die planen, den Zaren zu töten. Es erweist sich allerdings, dass Catherine den Ermordeten Visitenkartenträger intim kannte, sich aber weigert, der Polizei mit irgendwelchen Angaben dienlich zu sein. Trotz oder wegen der Sackgasse, in die die Untersuchungen Lychevs damit geraten, werden Vater und Tochter aus der Haft entlassen (auch dem Autor ist inzwischen aufgefallen, dass mit einem Protagonisten im Gefängnis die Handlung nicht recht vorwärts will) und geraten, wie man sich leicht denken kann, nahezu augenblicklich in den Sog schier unglaublicher Ereignisse: Es erweist sich, dass mit Ausnahme von Spethmann nahezu keine der handelnden Personen ist, was sie zu sein scheint. Der staatstreue Inspektor ist in Wirklichkeit ein Bolschewist, die brave Tochter nicht nur promisk sondern auch noch Bolschewistin, der Bolschewist Petrov wiederum ein Handlanger der Reaktion, der scheinbar hilfreiche Vater Annas ein Judenhasser und Verschwörer, der Pianist ein Doppelspion und nur der Schachspieler Rozental (eine grobe Mischung aus Akiba Rubinstein und Alexander Lushin, aber Feinheiten liegen dem Autor ohnehin gänzlich fern) ist wirklich der Neurotiker, als der er erscheint. Die Fabel ist ebenso wirr wie uninteressant, wie sich das für dieses Genre wohl gehört, und gewürzt mit der heute anscheinend unvermeidlichen Portion Pornographie: »‘How many fingers now?’ she gasped.« Eben ein Buch, wie solche Bücher eben sind; suum cuique.

Geschrieben ist das Dings in einer glatten und einfach zu konsumierenden Sprache ohne jeglichen artistischen Anspruch. Motivisch herrschen einzelne Unsicherheiten (so dürfte ein angesehener Arzt in Petersburg im Jahr 1914 sicherlich daheim und in der Praxis einen Telefonanschluss besessen haben, eher zweifelhaft aber scheint, dass er über eine Telefonanlage verfügt, die das Durchstellen von Gesprächen aus dem Vor- ins Behandlungszimmer erlaubt; das mit dem Verhältnis des Autors zu Feinheiten hatte ich wohl schon erwähnt, oder?), aber das muss die Konsumenten einer solchen rattling good story nicht unbedingt stören. Bleibt das Schachliche:

Schachlich hat das Buch 2½ Ebenen: Die halbe besteht darin, dass der Autor immer wieder durchblicken lässt, dass das Motiv des Zugzwanges die gesamte Handlung strukturieren, ja sogar als Allegorie der Krise der russischen Monarchie schlechthin taugen soll. Dies dürfte nur sehr einfach gestrickte Gemüter überzeugen.

Eine Ebene wird von einer Fernpartie gebildet, die Spethmann mit dem ihm befreundeten Pianisten Kopelzon spielt und deren Endphase wir Zug um Zug mitgeteilt bekommen. Bennett hat hierfür, wie er selbst angibt, die Partie Daniel King vs. Andrei Sokolov, Schweizer Meisterschaft 2000, benutzt. Das Buch setzt im Endspiel nach dem 34. Zug von Schwarz ein (Diagramm):

king-sokolov-01Es folgt: 35.Tg2 (diesen feinen Zug findet Spethmann nicht selbst, sondern er wird ihm geschenkt) Txg2+ 36.Kxg2 Dc7 37.Df5+ Kh6 38.Df6+ Kh7 39.Kg3 Kg8 40.Kh4 Db6 41.Kh5 Kf8 42.Kh6 Ke8 43.Kh7 Dc5 44.Dg7 Ke7 45.Dg5+ Ke8 46.Kg8 Dc7 47.Dh6 De7 48.Dg7 a6 49.a3 a5 50.a4 (Diagramm unten). Angeblich erkennt Kopelzon erst an dieser Stelle, dass er nun in Zugzwang ist und den König vom Bauern entfernen müsse, was den Bauern und damit auch die Partie einstellt: »He had no choice but move the king away from the defence of the f-pawn.« Nun könnte man, wenn man denn schon seine Amateure von 1914 wie Profis des Jahres 2000 spielen lässt, auch den computergestützten Kommentar wagen, dass hier 50… Kd8 vielleicht nicht die zähste Verteidigung ist, sondern Schwarz mit 50… Dh4 noch auf einen späteren Fehler des Gegners king-sokolov-02spekulieren könnte. Der Rückzug des Königs kommt einer Resignation gleich, die vielleicht für Sokolov in einer Partie gegen King passt, für Kopelzon, der sich einem Patzer wie Spethmann gegenübersieht, aber ganz sicher nicht. Es folgt noch: 50… Kd8 51.Df8+ De8 52. Kg7 1-0. Wichtig ist natürlich auch hier, dass die Partie am Ende durch einen Zugzwang entschieden wird und sich auf diese Weise wenigstens oberflächlich dem vorgeblichen Generalbass einfügt.

Diejenige Ebene aber, die in den meisten voreiligen Rezensionen am deutlichsten herausgestellt wurde, ist das St. Petersburger Turnier von 1914. Es dient, wie oben bereits angedeutet, lediglich als Kulisse vor der die ansonsten gänzlich schachfremde Handlung abrollt. Dass eine der Nebenfiguren der Handlung einer der Teilnehmer am Turnier ist, bleibt ebenfalls rein dekorativ; die gleiche Funktion könnte etwa auch von einem Musiker erfüllt werden. Nun könnte man die Hoffnung haben, dass sich Bennett schachlich oder wenigstens atmosphärisch mit dem Turnier auseinandersetzt, aber auch dies ist nicht der Fall. Zwar lässt er seinen Protagonisten kurz vor der Flucht aus St. Petersburg wenigstens rasch bei der vierten Runde des Turniers hereinschauen, aber damit beginnt auch gleich das Elend: Als Spethmann die Turnierhalle betritt, sind nach seiner Aussage die lasker-rubinstein-01Partien schon deutlich fortgeschritten (»well under way«). Er entdeckt Rozental, der in der vierten Runde mit Schwarz gegen Lasker spielt, versteckt hinter einer Palme sitzend, während Lasker über seinen 60. Zug nachdenkt. Er zieht schließlich seinen Bauern nach b3, wodurch eine aus der Partie Rubinstein vs. Lasker bekannte Stellung entsteht, die auch im Buch abgebildet ist (Diagramm):

As I went back to Lychev, there was a stir at the table. Lasker had made his move, pushing his b-pawn one square forward to b3. One of the spectators gasped, ‘Zugzwang!’ Rozental trooped from his refuge and stared at the position. It was true. He would now be forced into the role of author of his own destruction.

(Als ich zu Lychev zurückging, entstand eine Bewegung am Tisch. Lasker hatte seinen Zug ausgeführt und seinen b-Bauern um ein Feld nach b3 vorgerückt. Einer der Zuschauer keuchte: »Zugzwang!« Rozental kam aus seinem Versteck hervor und starrte aufs Brett. Es stimmte. Er würde nun gezwungen sein, den Urheber seiner eigenen Vernichtung zu spielen. [Eigene Übersetzung.])

Bis dahin alles ganz schön und gut. Nur folgt leider unmittelbar darauf ein Absatz, der den ganzen Eindruck zunichte macht: Während Spethmann dies alles beobachtet, merkt er zugleich, dass er von der Bühne aus erkannt worden ist. Da er von der Polizei gesucht wird und im Fall einer Verhaftung um sein Leben fürchten muss, verlässt er zusammen mit Lychev fluchtartig den Spielsaal:

As we started away, the spectators sent up a sudden murmur of speculation. Looking back, I saw Lasker taking the knight on d2 with his queen. He pressed his clock to start Rozental’s ticking. As one body, the spectators turned their gaze to the potted palm, from which Rozental duly emerged, eyes cast down, arms rigidly at his side, hands clenched. He took his seat and, after the briefest glance at the new position, moved his f-pawn one square forward.

(Als wir uns aufmachten, ließen die Zuschauer plötzlich ein spekulierendes Gemurmel hören. Zurückblickend sah ich, wie Lasker den Springer auf d2 mit seiner Dame schlug. Er drückte die Uhr, um die Rozentals losticken zu lassen. Wie ein Mann wandten die Zuschauer ihre Aufmerksamkeit der Topfpalme zu, hinter der Rozental erwartungsgemäß auftauchte, die Augen niedergeschlagen, die Arme eng angelegt, die Hände zu Fäusten geballt. Er setzte sich und zog, nach einem ganz kurzen Blick auf die neue Stellung, seinen f-Bauern ein Feld nach vorn. [Eigene Übersetzung.])

lasker-rubinstein-02 Selbst der nicht besonders im Schachspiel bewanderte Leser könnte sich hier wenigstens einen Augenblick lang darüber wundern, warum Lasker schon wieder am Zug und Rozental hinter der Palme ist und von welchem Springer oder welcher Dame hier wohl die Rede ist, da in der abgebildeten Position offensichtlich keine der beiden Figuren vorhanden ist. Und er wunderte sich zu Recht: Denn diese Beschreibung bezieht sich offensichtlich auf eine ganz andere Stellung derselben Partie: Mit seinem 11. Zug hatte Rubinstein Laskers Springer auf d2 geschlagen (Diagramm) und der zitierte Absatz beschreibt nun die nächsten beiden Züge: 12.Dxd2 f6. Es scheint so zu sein, dass Bennett in einer älteren Fassung des Buchs ein viel früheres Stadium der Partie Lasker vs. Rubinstein verarbeiten wollte, sich aber angesichts des Einfalles, das Buch »Zugzwang« zu nennen, dann für die Stellung nach 60.b3 entschieden hat. Nur hat er leider vergessen, den zitierten Absatz aus dem Manuskript zu löschen oder umzuschreiben.

Nun frage ich mich natürlich, wie viele Leute – vom Autor und dem Lektorat einmal abgesehen – das Buch vor und seit dem Erscheinen tatsächlich gelesen haben und ob kein einziger seither in der Lage war, diesen Fehler zu bemerken und Verlag oder Autor anzuzeigen. Und was hat der Verlag in der Zeit gemacht: Das Geld gezählt? Muss ein solcher schriftstellerischer Patzer tatsächlich bis in die Taschenbuch-Ausgabe durchgeschleift werden? Vielleicht kann uns einer der Besitzer der deutschen Ausgabe mitteilen, ob sie diesen Unfug ebenfalls reproduziert; die Stelle ist aufgrund des Diagramms ja rasch zu finden. Wundern würde es mich nicht. [Vgl. den Kommentar unten.]

Leider nur ein oberflächlicher Roman mehr, der wie viele seiner Vorläufer das Schach rein dekorativ verwendet. Als Thriller und Lesefutter wahrscheinlich ganz tauglich, aber eben auch nicht mehr als Standardware.

Ronan Bennett: Zugzwang. London: Bloomsbury Paperbacks, 2008. Broschur mit geprägtem Deckel, 280 Seiten. Ca. 9,– €.

Benn

benn Opulente Bildbiographie Gottfried Benns, die sowohl die altbekannten Porträts in hoher Qualität als auch viel unbekanntes oder zumindest seltenes Material vereint. Der Band dokumentiert das gesamte Leben von der Herkunft aus dem Mansfelder Pfarrhaus bis zum Tod des vereinnahmten und gefeierten Dichters. Der Großteil der begleitenden Texte stammt aus Benns Werken und Briefen – so gleich zu Anfang das wundervolle, aber eher selten zu findende 1886 –; hier und da finden sich auch Urteile oder Kommentare von Zeitgenossen.

Der Band geht mit der politisch zum Teil schwierigen Biographie Benns offen um: Er dokumentiert sowohl Benns naive Begeisterung für den Nationalsozialismus als auch seine späteren Versuche, sich in der Wehrmacht vor staatlichen Zugriffen zu schützen. Immerhin scheinen sich im Jahr 1938 Goebbels und Göring persönlich mit der Frage des Ausschlusses von Gottfried Benn aus der Reichsschrifttumskammer beschäftigt zu haben, ein Akt der Benn umso mehr erschreckte, als er mit der Behauptung von Benns politischer Unzuverlässigkeit verbunden war. Eine solcher Verdacht war durchaus dazu geeignet, Benn auch als Angehörigen der Wehrmacht noch persönlich zu gefährden.

Besonders im zweiten Teil sind die Abbildungen zahlreicher Auto- graphen – Notizen, Reinschriften, aber auch aus Benns Tages- kalendern oder Notizbüchern – erfreulich, die wenigstens einen kleinen Einblick in Benns Arbeitsweise geben.

Insgesamt ein gelungener Band, der als Begleitung oder Ergänzung einer Benn-Biographie durchweg zu empfehlen ist.

Benn. Sein Leben in Bildern und Texten. Zusammengestellt von Holger Hof. Stuttgart: Klett-Cotta, 2007. Leinenrücken, Fadenheftung, Kunstdruckpapier, 280 Seiten mit ca. 450 schwarz-weißen Abb. 59,– €.

Johannes Willms: Balzac

willms_balzacJohannes Willms legt eine sehr lesbare, detaillierte und kenntnisreiche Biographie dieses in Deutschland immer noch als zweitrangig betrachteten Autors vor. Im Gegensatz zu vielen Schriftstellerbiographien akademischen Ursprungs handelt es sich tatsächlich um eine Lebensbeschreibung, nicht um eine Einführung ins Werk. Auch im Gegensatz zu den akademischen Gepflogenheiten verzichtet Willms auf Fußoder Endnoten oder ein ausführliches Verzeichnis der benutzten Sekundärliteratur, was ihm die meisten Leser wahrscheinlich danken werden. Was allerdings schmerzlich fehlt sind Abbildungen; besonders Reproduktionen der an einigen Stellen erwähnten zahlreichen Karikaturen Balzacs habe ich vermisst.

Insgesamt handelt es sich bei dem Buch um eine Sammlung von Klatsch und Tratsch auf hohem Niveau. Balzac hat Zeit seines Lebens mit seinen ständig wachsenden Schulden und seinen Gläubigern gerungen, was ihn allerdings nicht davon abgehalten hat, seinen luxuriösen Lebensstil fortzuführen, ja den Luxus entgegen besserer finanzieller Einsicht immer noch weiter zu steigern. Rettung erhoffte sich Balzac stets durch irgendwelche wundersamen Geschäftsgewinne – alle Versuche in dieser Richtung endeten bereits nach kurzer Zeit im nächsten finanziellen Desaster – oder durch eine vorteilhafte reiche Heirat, die ihn auf einen Schlag aller Sorgen entledigen sollte. Mehr der Not gehorchend als der Neigung sah er sich gezwungen, sich auf sein einziges wirkliches Talent, das Schreiben, zu stützen, um wenigstens den dringendsten Luxus finanzieren zu können. So erwähnt Willms häufiger strohgelbe Glacéhandschuhe, von denen Balzac scheint’s immer ein oder zwei Dutzend Paar zur Verfügung haben musste, um sich wohl zu fühlen.

Willms Biographie zeichnet sich durch ihren Stil und ihre Aufrichtigkeit aus. Wie schon für seinen »Napoleon« wertet Willms umfangreich Briefzeugnisse aus, um ein möglichst genaues und persönliches Bild zu erreichen. Dabei weicht er den unangenehmen Seitens Balzacs nicht aus: nicht dem gespannten und oft wahnverpflichteten Verhältnis zur Mutter, nicht seiner rücksichtslosen Ausnutzung von Menschen, die ihn offensichtlich schätzen oder gar lieben, nicht seiner Verlogenheit sich und anderen gegenüber, nicht seiner Neigung, die Verantwortung für seine Misere auf andere zu übertragen, nicht der gänzlich blauäugigen Naivität in Geld- und Geschäftsangelegenheiten. All dies wird von Willms mit der nötigen Neutralität dargestellt, ohne ein moralisches Urteil zu fällen, ohne aber auch zu behaupten, dies alles sei notwendig so geschehen, wie es geschehen ist. Willms bewahrt eine objektive, aber zugleich empathische Distanz, die man sich in der biographischen Literatur häufiger wünschen würde. Hinzukommt, dass Willms über eine eingängige und sehr gut lesbare Sprache verfügt, die das Buch zu einem wirklichen Lektürevergnügen macht. – Allen »guten Lesern« ans Herz gelegt!

Johannes Willms: Balzac. Zürich: Diogenes, 2007. Leinen, 367 Seiten. 24,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (14)

Es gibt Menschen, und darunter solche, die eine ganze Bücherei besitzen, die niemals recht an ein Buch herankommen, weil sie nichts zum zweiten Mal lesen. Und doch ist es nur dann, daß man wie klopfend ein Gemäuer absucht, und stellenweise auf einen hohlen Widerhall trifft, einhält und auf Schätze stößt, die der frühere Leser, der wir doch einst gewesen sind, in ihr vergraben hatte.

Walter Benjamin

Jurek Becker: Der Boxer

Jurek Becker wäre am 30. September dieses Jahres vielleicht 70 Jahre alt geworden (er kannte selbst sein genaues Geburtsdatum nicht); sein viel zu früher Tod vor zehn Jahren hat das verhindert. Mit Jakob der Lügner hat Becker eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Nachkriegsromane geschrieben, wenn ihm auch erst die Fernseh-Serie Liebling Kreuzberg, mit seinem Lebensfreund Manfred Krug in der Hauptrolle, wirkliche Popularität eingebracht hat. Davon hat sicherlich auch sein letzter Roman Amanda Herzlos (1992), der noch einmal ein großer Erfolg für Becker war, profitiert.

Anlässlich des Jubiläums habe ich mir wieder einmal Der Boxer aus dem Bücherschrank gezogen. Meine Ausgabe stammt noch vom Anfang der 80er-Jahre, als ich Jurek Becker für mich entdeckt habe. Es war nicht ohne Reiz, gerade diesen Roman, der wesentlich auch das Erinnern zum Thema macht, nach beinahe der Zeitspanne wiederzulesen, die auch der Protagonist Aron Blank mit seinem Erzählen umspannt.

In Der Boxer notiert ein namenloser Erzähler die Erinnerungen des KZ-Überlebenden Aron Blank, der im Nachkriegsdeutschland, genauer in Ostberlin versucht, wieder Fuß zu fassen und in ein normales Leben zurück zu finden, letztendlich aber seine Isolation nicht überwinden kann. Aron Blank beginnt sein neues Leben damit, dass er bei der Beantragung seiner Papiere seinen Vornamen in Arno verändert und sich als Geburtsort Leipzig statt Riga zuschreibt. Außerdem macht er sich um die sechs Jahre jünger, die er in den Lagern der Nazis verbracht hat. Arons Frau ist von den Nazis umgebracht worden, und zwei seiner drei Kinder sind im Ghetto gestorben. Das dritte Kind lässt Aron nach dem Krieg von einer Hilfsorganisation suchen, und es wird auch ein Junge mit dem Vornamen Mark gefunden, der allerdings in der Lagerliste als Mark Berger, nicht Blank, geführt wird. Aron fährt zu dem nun in ein Krankenlager verwandelten KZ, um den völlig abgemagerten und entkräfteten Mark Berger anzuschauen und entschließt sich beim ersten Blick auf das Kind, dass dies sein verlorener Sohn sei. Erst viele Jahre später, nachdem Mark in den Westen Deutschlands geflohen ist, werden die alten Zweifel an dessen Identität in Aron wieder aufleben.

Nachdem sich Aron einmal für Mark entschieden hat, tut er alles für den wiedergefundenen Sohn: Aron verdient als Buchhalter eines Schwarzmarkt-Händlers viel Geld, das er nun dafür aufwendet, Mark mit dem Besten, was sich finden lässt, langsam wieder aufzupäppeln. Er besucht Mark täglich und als der schließlich das Krankenhaus verlässt, verpflichtet er Marks Lieblings-Krankenschwester als Haushälterin und Geliebte. Während er so auf der einen Seite versucht, Mark wenigstens das Grundgerüst einer Familie zu bieten, verweigert er sich auf der anderen Seite der Eingliederung in das sich normalisierende bürgerliche Leben: Als der Schwarzmarkt-Händler sein Geschäft auf eine legale Grundlage stellt und Aron die Stelle eines Hauptbuchhalters anbietet, kündigt er. Statt dessen beginnt er, als Dolmetscher für die russische Besatzungsmacht zu arbeiten. Wenig später befreit ihn eine Erbschaft aus den gröbsten Geldsorgen.

Der titelgebende Boxer taucht erst sehr spät im Buch auf: Als Mark in die Schule kommt, wird er als einer der körperlich schwächsten Schüler Opfer einer brutalen Attacke eines seiner Mitschüler. Daraufhin erzählt ihm Aron eine Geschichte – von der der Leser nicht erfährt, ob sie stimmt oder nur zweckhaft erfunden ist – davon, dass auch er als Kind von einem Stärkeren drangsaliert worden ist, dann aber Boxen gelernt habe. Eines Tages habe er dann den Stärkeren bei einer Gelegenheit verprügelt und so dessen »Herrschaft« ein Ende bereitet. Das Boxen habe er aber bald wieder aufgegeben:

Ein Boxer sei nämlich nicht der, sagte er, der immerzu boxte, sondern einer, der boxen könne. Leider jedoch boxten Boxer oft nur deshalb, weil sie Boxer seien, das ist ja das Unglück.

Auch Mark will daraufhin das Boxen erlernen, benutzt dann aber die erworbene Überlegenheit nicht im Sinne des Vaters, sondern um sich an einem Mitschüler zu rächen, der ihn verpetzt hat.

Für den Erzähler wird das Bild des Boxers offensichtlich zur verständnisleitenden Metapher des Buches: Aron hat sich gegenüber seinen Mitmenschen unangreifbar gemacht. Er ist ein Einzelkämpfer, der die meisten Mitmenschen als Gegner begreift, die es auf Distanz zu halten gilt. Zwar erreicht er, was er sucht: die Souveränität im eigenen Ring. Er bezahlt sie aber damit, dass er in eine unüberwindliche Isolation gerät. Selbst zu dem Menschen, dessen Glück und Wohlergehen im Mittelpunkt seines Denkens und Handelns stehen, kann er keine wirkliche Beziehung aufbauen: Seine Gespräche mit Mark bleiben im Alltäglichen und Unpersönlichen stecken, kein wirkliches Verständnis entwickelt sich zwischen den beiden. Aron vermeidet es, sich in Marks Leben einzumischen, weil er selbst nicht will, dass man sich in sein Leben einmischt. Der aus der erfahrenen Fremdbestimmung durch den Terror des Nationalsozialismus erwachsene Wille zur Autarkie wendet sich an Ende gegen Aron selbst.

Sein letzter Kontakt »zur Welt« ist der Erzähler des Buches, und Aron wirbt mit seiner Lebensgeschichte um diesen Erzähler, nicht ohne ihn zugleich immer wieder von sich zu stoßen. Nur ein einzige Mal im Buch erleben wir Aron tatsächlich entspannt, als der Erzähler eine Spazierfahrt ins Blaue vorschlägt und dieses ziellose Fahren dann auch tatsächlich gelingt.

Als ich ihn zu Hause absetze, ist es schon dunkel, er sagt: »Das war mal eine gute Idee von dir.«

Wir wissen heute, dass Jurek Becker vieles aus der Lebensgeschichte seines Vaters in Der Boxer verarbeitet hat. Auch in dieser Hinsicht bietet das Buch eine bewegende und wichtige Lektüre zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Jurek Becker: Der Boxer. st 2954. Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1998. 6,99 €.

Henryk M. Broder: Hurra, wir kapitulieren!

broder-kapitulieren Henry M. Broder ist zweifellos der bedeutendste deutschsprachige Polemiker unserer Zeit. Das Wort Polemiker hat seinen Ursprung im altgriechischen Wort für Krieg, πóλεμος. Ein Polemiker ist also ein Kriegstreiber, im besten Fall ein Krieger, jedenfalls jemand, dem es darum geht, einen Konflikt durchzukämpfen, nicht ihn beizulegen oder zu vermeiden. Danach muss man Broders Äußerungen bewerten, nicht entlang der Frage, ob er Recht hat, die Wahrheit vertritt, seine Meinung hilfreich ist oder ähnliches.

In diesem Buch geht es um den Konflikt der islamischen Welt mit dem Westen. Broders Aufhänger ist der sogenannte Karikaturen-Streit, den die dänische Zeitung Jyllands-Posten 2005 durch die Veröffentlichung eines Dutzends von Karikaturen auslöste, die sich mit dem Propheten Mohammed beschäftigten. Die Reaktionen in der islamischen Welt waren aufgeregt und heftig, getragen in der Hauptsache von Gläubigen, die selbst das obskure Objekt des Zorns nie gesehen hatten und blind den Ratschlägen ihrer geistlichen Führer folgten. Der Westen reagierte auf diese Inszenierung religiöser Empörung mit einer Welle von Verständnis, aber auch mit einer Diskussion über die Grenzen und den verantwortlichen Umgang mit der Meinungsfreiheit.

Broders Behandlung dieses Falles genügt als Beispiel, um das ganze Buch in seiner Methode und Tendenz darzustellen. Für Broder liegt der Fall ganz einfach: Meinungsfreiheit ist eine westliche Errungenschaft, ein Erfolg der Aufklärung, ein Zeichen der Fortschrittlichkeit unserer Gesellschaft und alles in allem beinahe so etwas wie ein Wert an sich. Dagegen stellt er den Versuch der islamischen Welt, alle Menschen unter ihre Wertordnung zu zwingen und auch solchen Menschen, die durchaus keine Moslems sind, Vorschriften darüber zu machen, wie sie zu leben und was sie zu sagen oder gar denken haben. Nachdem die Welt erst einmal in diese Alternative zerlegt worden ist, fällt die Wahl der richtigen Seite leicht: Der Westen hat Recht, die islamische Welt Unrecht.

Und statt vor den lautstarken Forderungen der Moslems einzuknicken, sollte der Westen seine Wertordnung aktiv – und wahrscheinlich ebenso lautstark – verteidigen, also wahrscheinlich den aufgeregten Moslems mitteilen, sie sollten die Schnauze halten und sich um ihren Dreck kümmern. Es heißt hier »wahrscheinlich«, weil Broders Buch genau in diesem Teil ein wenig dünn ausgefallen ist. Während er nicht maulfaul die öffentliche Reaktion des Westen anprangert, sind bei ihm die Vorschläge alternativen Handelns etwas kurz gekommen. Was alle Welt falsch macht, weiß jeder Stammtisch-Idiot – nicht, dass er es auch so schneidig formulieren könnte wie Broder –, wenn man aber fragt, was denn stattdessen hätte geschehen sollen, so versandet das Repertoire an Vorschlägen rasch im Banalen. Natürlich weiß Broder das, und deshalb versucht er auch nicht einmal ansatzweise, konstruktive Vorschläge zu machen.

Broders Position markiert deutlich die Voraussetzungen des Polemikers: Der pubertäre Glaube daran, dass man im Besitz der Wahrheit ist, ein nicht weniger pubertäres Bewusstsein von der eigenen Bedeutung und eine ausgeprägte Neigung zur Kritik anderer Positionen. Bei Broder kommt – zum Glück – noch das schriftstellerische Talent für scharfe und pointierte Formulierungen hinzu, und fertig ist die Laube.

Nicht, dass man mich falsch versteht: Ich habe das Buch mit Vergnügen gelesen, und ich halte Broders Stil für eine ebenso befruchtende wie notwendige Abgrenzung zu dem journalistischen Sumpf, dem sich ein Leser sonst allenthalben gegenübersieht. Broders Polemiken machen in aller Schärfe deutlich, welch rückgratloses und fatalistisches Gelaber heute die Szene des politischen und gesellschaftlichen Feuilletons beherrscht. Allerdings an und für sich genommen sind sie gänzlich belanglose Aufgeregtheiten, ähnlich relevant wie das Verbrennen einer dänischen Fahne durch eine Horde aufgehetzter Muslims in Riad.

Henryk M. Broder: Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken. Berlin: wjs, 2006. Pappband, 168 Seiten. 16,– €.

Marcus Braun: Armor

braun-armor Dass Marcus Braun stark reduzierte Texte mit erstaunlichem Tiefgang schreibt, hatte er bereits mit seinem bemerkenswerten ersten Roman »Delhi« (Berlin Verlag, 1999) unter Beweis gestellt. Ich muss zugeben, dass ich ihn danach etwas aus den Augen verloren habe; zwar stehen »Nadiana« (Berlin Verlag, 2000) und »Hoch­zeits­vor­be­rei­tun­gen« (Berlin Verlag, 2003) seit dem Erscheinen im Bücherschrank, aber es ist immer wieder »etwas dazwischen gekommen«. Nun ist sein vierter Roman bei Suhrkamp erschienen und erfüllt die Erwartung, die ich an »Delhi« entwickelt hatte.

Braun hat einen äußerst reduzierten Erzählstil (angesichts der deutlichen Anspielungen auf Arno Schmidt, die »Delhi« enthält, dürfte man sicherlich auch von einem »dehydrierten Stil« sprechen, wenn das nicht zu viele Leser abschrecken würde), der wenig Überflüssiges enthält. Schon der Titel ist für diesen Stil bezeichnend: ›Armor‹ ist das, was bei Lewis Carroll ein Portmanteau-Wort heißt. Nicht nur ist es eine Kurzform von ›Aremorica‹, der keltischen Bezeichnung für die Nordwestküste Frankreichs, sondern in ihm steckt auch das lateinische arma (die Waffen, aber übertragen auch der Krieg oder gar die Arglist) und natürlich steckt auch die Liebe und die Leidenschaft, amor, darin.

Es ist dementsprechend nicht überraschend, dass »Armor« wenigstens auf den ersten Blick eine Liebesgeschichte erzählt, die in der Bretagne spielt. Protagonist ist Fabien, der mit Kate von Paris aus ans Meer unterwegs ist. Zwischen Saint-Malo und Cancale zerschlägt ihnen ein Stein die Windschutzscheibe ihres roten Alfa Romeo und sie kommen bei einer Zufallsbekanntschaft, Isabelle und ihrem sehr viel älteren Mann Jacques, unter. Da die einzige lokale Auto-Werkstatt nicht in der Lage ist, kurzfristig eine neue Frontscheibe zu besorgen, sehen sich Fabien und Kate genötigt, einige Zeit bei Jacques und Isabelle zu logieren. Jacques war früher Architekt und ist beim Bau eines Gezeitenkraftwerks reich genug geworden, um sich zur Ruhe zu setzen. Seine Frau Isabelle war zuerst die Geliebte seines Sohnes Arnaud, der vor einem Jahr beim Schwimmen ertrunken ist.

Was sich nun zwischen diesen vier Personen an zwi­schen­mensch­li­cher Dynamik entwickelt, könnte ohne weiteres als Vorlage eines Chabrol- Films dienen: Jacques, der weder den Tod seines Sohnes verarbeitet hat, noch Isabelles Unabhängigkeit oder seine eigene Untätigkeit so recht zu ertragen vermag, versucht ganz offensichtlich, Kate zu verführen, während Fabien zwischen seiner Begierde nach Isabelle (und Marie, aber das kann hier nicht auch noch dargestellt werden) und seiner Eifersucht hin- und hergerissen wird. Beinahe kann er Kate zur Abreise überreden, als er bei einem nächtlichen Badeausflug in einen Seeigel tritt, was weitere Verzögerungen und Verwicklungen mit sich bringt. Am Ende versorgt Braun den Leser gleich mit zwei Abschlüssen der Geschichte, wovon aber hier nichts weiter verraten werden soll.

All dies wird, wie schon gesagt, in einer kargen und durchtrainierten Prosa präsentiert, die mit Details geizt und den Leser zur aktiven Rekonstruktion des Geschehens zwingt. Man könnte hier den Verdacht haben, der Autor pflege einen artistischen Manierismus, aber diese Erzählweise ist tiefer begründet, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Bereits auf der Motto-Seite des Romans erscheint ein Zitat des Heiligen St. Malo (hier auch mit seinem keltischen Namen Maklou angeführt), der heute als nahezu komplett verschollen gelten darf. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass das Buch weit reicher unterfüttert ist, als es die beinahe banal anmutende Kri­mi­nal­hand­lung vermuten lässt: So ist Jacques etwa durch zahlreiche Details mit der Figur des Freibeuters Robert Surcouf, eines der berühmtesten Söhne der Stadt St. Malo, assoziiert. Sein wohl nicht ganz legal erworbener Reichtum, sein früher Rückzug ins Privatleben und nicht zuletzt sein an einen verwinkelten Fuchsbau gemahnendes Haus (Surcoufs letztes Schiff trug den Namen »Le Renard«, der Fuchs) sind einige der Anknüpfungspunkte für eine Verbindung der Figuren. Es kann hier nur vermutet werden, dass sich auch für die anderen Figuren derartige Verwurzelungen in der Geschichte Saint-Malos oder der Bretagne finden lassen. Nun ist aber gerade Brauns karge Prosa bestens dazu geeignet, solche Assoziationsfelder im Text hervortreten zu lassen, ohne dass sie den Erzählfluss oder die Oberflächenhandlung stören. Es ist wahrscheinlich nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, dass Braun bei Arno Schmidt nicht nur erfolgreich in die Schule gegangen, sondern auch mit einem eigenständigen Stil und Assoziationsfundus aus dieser Schule hervorgegangen ist.

Es wird abzuwarten bleiben, ob Marcus Braun sich mit dieser reduzierten und zugleich anspruchsvollen Prosa ein adäquates Publikum erobern kann. Für mich gehört er derzeit zu den artistisch interessantesten deutschsprachigen Autoren, auch wenn ich mit dem »Krimi«-Anteil dieses Buches nicht allzu viel anfangen kann.

Marcus Braun: Armor. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007. Pappband, 187 Seiten. 17,80 €.