Peter Braun: Von Taugenichts bis Steppenwolf

braun-litgeschEine etwas andere Literaturgeschichte will Peter Braun mit diesem Buch liefern. Es wendet sich offensichtlich an jugendliche Leser, deren Sympathien Braun im Vorwort dadurch zu gewinnen sucht, dass er feststellt, er selbst erinnere sich an keine einzige seiner Schullektüren, habe dann aber später das Lesen für sich entdeckt usw. usf. Diese Misere sei durch eine falsche Präsentation der Literatur in den Schulen zu verantworten, und seine andere Literaturgeschichte erzähle nun die spannenden Geschichten über die Autoren klassischer Werke, die in Brauns Schulausbildung nie erwähnt wurden.

So weit, so gehöft. Man kann eine solche Theorie natürlich vertreten, und ob sie viel besser oder schlechter als irgendeine andere das Phänomen beschreibt, dass die Schule aus den wenigsten Schülern gute Leser macht, mag dahingestellt bleiben. Merkwürdigerweise fehlen ähnliche Klagen über den Mathematik-Unterricht beinahe vollständig, obwohl sicherlich noch deutlich weniger gute Mathematiker aus diesem Unterricht hervorgehen als gute Leser aus dem Deutsch-Unterricht. Lassen wir das auf sich beruhen.

Brauns Ansatz ist nach diesem Auftakt berauschend unoriginell. Auch er tut nichts als das, was ein guter Deutsch-Unterricht auch tun sollte: Er stellt Autoren und behandelte Werke in den Zeithorizont ein, erzählt, warum diese Bücher für die Zeitgenossen spannend waren und was die behandelten Texte vor anderen ihrer Zeit auszeichnet. Er bedient sich dabei einer lockeren Schreibe, von der ich mir durchaus vorstellen kann, dass Jugendliche damit ganz gut zurecht kommen. Ich schlage das Buch auf und lese:

Heine war aus dem geistig engen, miefigen Deutschland nach Paris gezogen. Von dort aus schrieb er gegen die gesellschaftliche Eiszeit in Deutschland an, das in der politischen Winterstarre verharrte, die Heine zeit seines Lebens nicht ruhen ließ. »Denk ich an Deutschland in der Nacht«, schrieb er in Deutschland. Ein Wintermärchen, »dann bin ich um den Schlaf gebracht.« Der Titel passte zu diesem bedeutendsten Werk Heinrich Heines. [S. 90]

Nein, das schrieb Heine nicht in Deutschland. Ein Wintermärchen, sondern im Gedicht Nachtgedanken, und selbstverständlich haben diese Zeilen auch gar nichts mit der politischen Opposition Heines gegen das bürgerliche Deutschland zu tun – auch wenn sie immer und immer wieder in diesem Zusammenhang zitiert werden von all denen, die Heine im Munde führen, aber nicht in den Köpfen haben –, sondern die Nachtgedanken des Gedichtes drehen sich um die Mutter, die in Deutschland lebt und die der Dichter seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen hat.

Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land;
Mit seinen Eichen, seinen Linden,
Werd ich es immer wiederfinden.

Nach Deutschland lechzt’ ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wär;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.

Ob nun tatsächlich Deutschland. Ein Wintermärchen Heines bedeutendstes Werk ist, mag immerhin Geschmackssache sein und soll daher nicht diskutiert werden. Doch beginnen wir mit dem Lesen vorn:

Kriegszeiten sind Notzeiten, und weil Lessing sich durchschlagen musste, wurde er Schreiber eines Generals. Die eintönigen Feldlager aber ließen ihm die Freiheit zu schreiben – und zu spielen. [S. 22]

Das ist ja verständlich: Siebenjähriger Krieg, Lessing Sekretär – nicht Schreiber; das war ein gänzlich anderer Beruf – bei einem General, da wird es wohl ein Leben in Feldlagern gewesen sein. Nun war Bogislaw von Tauentzien zwar preußischer General, aber er war wesentlich auch Stadtkommandant von Breslau, und die Belagerung Breslaus durch Gideon Ernst von Laudon im Sommer 1760 war längst vorüber, als Lessing in Breslau erscheint. Von Feldlager kann also keine Rede sein. Nun könnte man über Lessings Breslauer Zeit die spannende Geschichte von dem Verdacht erzählen, dass Lessing vielleicht in die illegalen Münzgeschäfte des Generals von Tauentzien verwickelt war, aber dazu müsste man sich eben auskennen. Doch vielleicht hat Braun ja wenigstens einige Kenntnise des Werks:

Tellheim will die Verlobung lösen, um Minna nicht ins Unglück zu stürzen. Minna greift zur List: Sie sei enterbt, weil sie zu ihm halte. Der redliche Tellheim borgt sich Geld, löst den Verlobungsring aus, den sie verpfändet hat, will Minna beistehen und heiraten. [S. 24]

Wie belieben? Minna hat einen Verlobungsring verpfändet, den Tellheim dann auslöst? Da hätte ein Blick ins Buch auch nicht geschadet. Lesen wir weiter bei Goethe:

Überall und ständig wurde von nun an geflucht, ob im Alltag oder an den Höfen, und so auch am Weimarer Hof, dessen Herzog gerade erst achtzehn geworden war, als er Goethe zu sich einlud, weil er vom Götz begeistert war.

»In Weimar geht es erschrecklich zu. Der Herzog läuft mit Goethe wie ein wilder Bursche auf den Dörfern herum, er besauft sich und genießet brüderlich einerlei Mädchen mit ihm.« Um den jungen Herzog zu zerstreuen, veranstaltete Goethe Feste, Jagden, lagerte mit ihm im Wald, badete mit ihm in eiskalten Bächen und wurde dafür belohnt.

Das geklitterte Zitat über die Weimarer Zustände stammt aus einem Brief von Johann Heinrich Voß an seine Verlobte Ernestine Boie vom 14. Juli 1776. Voß sitzt zu diesem Zeitpunkt in Wandsbek und unterhält seine Briefpartnerin mit dem neuesten literarischen Klatsch. Er selbst weiß gar nichts über die Lage in Weimar, sondern reproduziert – wie die meisten anderen auch – nur die vom erzürnten Weimarer Adel gestreuten Gerüchte, die Goethe diskreditieren sollen. Verlässlicher ist da ein Wort Wielands über diese frühe Zeit Goethes in Weimar:

[…] Göthe, dessen große Kunst von jeher darin bestand, die Convenienzen mit Füssen zu treten, und doch dabei immer klug um sich zu sehn, wie weit ers gerade überal wagen dürfe. [zu Böttiger, 19. Januar 1797]

»Das sieht schon besser aus! Man sieht doch, wo und wie.« – Und Goethe ist also Weimarer Minister geworden zum Dank für die Feste und Jagden, die er organisiert hat? Wie schrieb Herzog Karl August von Sachsen-Weimar in dieser Sache an seinen ersten Minister Jakob Friedrich von Fritsch:

Sie fordern … Ihre Dienstentlassung, weil, sagen Sie, Sie nicht länger in einem Collegio, wovon der Dr. Goethe ein Mitglied ist, sitzen können. Dieser Grund sollte eigentlich nicht hinlänglich sein, Ihnen diesen Entschluß fassen zu machen. Wäre der Dr. Goethe ein Mann eines zweideutigen Charakters, würde ein jeder Ihren Entschluß billigen. Goethe aber ist rechtschaffen, von einem außerordentlich guten und fühlbaren Herzen. Nicht alleine ich, sondern einsichtsvolle Männer wünschen mir Glück, diesen Mann zu besitzen. Sein Kopf und Genie ist bekannt. Sie werden selbst einsehen, daß ein Mann wie dieser nicht würde die langweilige und mechanische Arbeit, in einem Landescollegio von unten auf zu dienen, aushalten. Einem Mann von Genie nicht an den Ort gebrauchen, wo er seine außerordentlichen Talente nicht gebrauchen kann, heißt, denselben mißbrauchen … Was das Urteil der Welt betrifft, welche mißbilligen würde, daß ich den Dr. Goethe in mein wichtigstes Collegium setzte, ohne daß er zuvor weder Amtmann, Professor, Kammer- oder Regierungsrat war, dieses verändert gar nichts. Die Welt urteilt nach Vorurteilen, ich aber und jeder, der seine Pflicht tun will, arbeitet nicht, um Ruhm u erlangen, sondern um sich vor Gott und seinen eignen Gewissen rechtfertigen zu können, und suchet auch ohne den Beifall der Welt zu handeln. [10. Mai 1776; Hervorhebung nicht im Original.]

Und so geht das fort und fort bei Braun: Goethe »entledigt« sich Schillers, indem er ihm eine Professur in Jena verschafft [S. 45] – wo Braun wohl meint, dass Jena liegt? »Mit Schillers Tod war das Jahrzehnt der Weimarer Klassik zu Ende. Der Bund Goethes und Schillers war schon weit früher zerbrochen.« [S. 54]

Feine Damen […] träumten sich fort zu den Inseln der Südsee, weil der ausgesetzte Matrose Alexander Selkirk von seinem einsamen Eiland gerettet worden war und Daniel Defoe sein Schicksal in Robinson Crusoe bekannt gemacht hatte. [S. 74]

Die Südsee-Begeisterung des 18. Jahrhunderts wurde also durch Defoes Roman ausgelöst und nicht durch die märchenhaften Berichte von den Reisen Bougainvilles und Cooks? Und der Vorwurf, Defoe habe im Robinson Crusoe in der Hauptsache aus Selkirks Tagebuch abgeschrieben, wird durch sein ehrwürdiges Alter auch nicht richtiger. Was Wunder, dass da E. T. A. Hoffmanns Märchen einmal mehr »Der goldene Topf« [S. 75] und Kleists Theaterstück »Der zerbrochene Krug« [S. 60] heißen. Ich will es gut sein lassen.

Über den titelgebenden Taugenichts stehen drei nichtssagende Sätze in dem Buch – und so ist auch der Rest! Peter Braun hat wenig Ahnung, wovon er schreibt. Alles ist viertelsgewusst und halbverdaut, und es ist ein Armutszeugnis für unseren Umgang mit Literatur, dass ein solcher Käse gedruckt und positiv besprochen werden kann.

Von einer Verbreitung dieses Buches ist dringend abzuraten!

Peter Braun: Von Taugenichts bis Steppenwolf. Eine etwas andere Literaturgeschichte. Bloomsburry Kinderbücher & Jugendbücher. Berlin: Berlin Verlag, 2006. Pappband, 224 Seiten. 14,90 €.

Wilhelm Bode: Goethes Sohn

bode-AvG Auf meinem Schreibtisch liegt gerade der Band August von Goethe: »Wir waren sehr heiter«. Reisetagebuch 1819, zu dem hier in Kürze eine Rezension zu lesen sein wird. Das Buch ist herausgegeben von Gabriele Radecke, was mich daran erinnerte, dass ich im Jahr 2002 – also lange vor Beginn dieses Blogs – die ebenfalls von ihr herausgegebene Biographie August von Goethes aus der Feder Wilhelm Bodes gelesen und für die Goethe-Mailingliste rezensiert hatte. Ich erlaube mir, diesen Text überarbeitet und gekürzt hier noch einmal herzusetzen.

Wilhelm Bode (1862-1922) war wahrscheinlich der populärste Goethe-Forscher der vorletzten Jahrhundertwende. Immer dankbar wird die Forschung ihm für die drei Bände Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen 1749-1832 sein. Zuletzt wurde diese wichtige Sammlung im Goethejahr 1999 aufgelegt, aber auch diese Neuauflage ist inzwischen nurmehr antiquarisch zu bekommen; sehr schade. Bode hat überraschend wieder einigermaßen Konjunktur; so erschien ebenfalls im Goethejahr 1999 eine Neuauflage von »Goethes Liebesleben«, und schließlich die vorliegende Biographie Augusts von Goethes aus dem Jahr 1918, die sich zurecht dessen erste wirkliche Biographie nennt.

Es bleibt allerdings rätselhaft, warum sich der Aufbau Verlag dazu entschlossen hat, dieses Buch neu zu drucken. Es ist in weiten Teilen überholt, im Stil oft schwülstig und im Umgang mit dem Verbiographierten zum Teil unerträglich gönnerhaft. Zu seinem Vorteil muß gesagt werden, dass Bode an zwei Stellen umfangreiche Originalquellen von Augusts Hand zitiert, die sehr reizvoll zu lesen sind.

Den sachlichen Mängeln hat man versucht dadurch aufzuhelfen, dass man dem Buch einen umfangreichen Anhang beigegeben hat. Darin finden sich nicht nur dankenswerter Weise die Nachweise der Zitate – eine Seltenheit in der Goetheliteratur, die in weiten Teilen nur Daten gibt – und ein Personenverzeichnis mit kurzen einordnenden Kommentaren, sondern auch ein fast 40 Seiten starker Einzelstellen-Kommentar, der die Fehler und Ungenauigkeiten Bodes bereinigt. Allerdings fördert dies nicht gerade den Lesegenuss, da man gezwungen wird, stets vorn und hinten im Buch gleichzeitig zu lesen. Dieser Anhang hat der Herausgeberin viel Arbeit gemacht, aber es bleibt unverständlich, warum sie ihre unbestrittene Sachkenntnis nicht besser dazu genutzt hat, eine eigene Biographie August von Goethes vorzulegen, die dem Forschungsstand entspricht, statt dass ein Buch wieder in Verkehr gebracht wird, das höchstens noch historisch-dokumentarischen Wert hat.

Wilhelm Bode: Goethes Sohn. Aufbau Taschenbuch 1829. Berlin, 2002. 488 Seiten. 12,– €.

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Vorzuziehen ist als Biographie immer noch das Buch von Werner Völker: Der Sohn August von Goethe (Frankfurt/M. u. Leipzig: Insel, 1992), das aber auch nur antiquarisch greifbar ist. Völker hat eine deutlich angenehmere Diktion, versucht, auf gleiche Augenhöhe mit August zu kommen, und ist in den Details deutlich zuverlässiger als der unkorrigierte Bode.

Ergänzend zu den Biographien sollte in jedem Fall hinzutreten: August von Goethe: Auf einer Reise nach Süden. Tagebuch 1830 (Hg. Andreas Beyer u. Gabriele Radecke. München: Hanser, 1999). Es handelt sich um das von Goethe bei seinem Sohn in Auftrag gegebene Reisetagebuch von dessen Italienreise, von der er bekanntlich nicht zurückgekehrt ist, ergänzt um die Briefe Augusts nach Weimar aus derselben Zeit. All dies wird hier zum ersten Mal nach den Handschriften gedruckt, was dem Leser einen sehr unmittelbaren Eindruck gibt. Mehr dazu in der bald folgenden Rezension des Reisetagebuchs von 1819.

Von der Höhe der Alpen (8)

LXXIII.

Once more upon the woody Apennine –
The infant Alps, which – had I not before
Gazed on their mightier Parents, where the pine
Sits on more shaggy summits, and where roar
The thundering Lauwine – might be worshipped more;
But I have seen the soaring Jungfrau rear
Her never-trodden snow, and seen the hoar
Glaciers of bleak Mont Blanc both far and near –
And in Chimari heard the Thunder-Hills of fear,

LXXIV.

Th’ Acroceraunian mountains of old name;
And on Parnassus seen the Eagles fly
Like Spirits of the spot, as ’twere for fame,
For still they soared unutterably high:
I’ve looked on Ida with a Trojan’s eye;
Athos – Olympus – Ætna – Atlas – made
These hills seem things of lesser dignity;

Lord Byron
Childe Harold’s Pilgrimage

Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt

goethe_comicDiese zweibändige Comic-Biografie Goethes ist bereits 1999 zum 250. Geburtstag erschienen; heuer, anlässlich des 175. Todestages, sind die beiden Bände zu einer Sonderausgabe zusammengefasst worden – und natürlich bin ich mit meiner Rezension für beide Jubiläen eigentlich schon zu spät. Schadet aber nichts, denn so gut ist das Ding nicht, dass einer was verpasst hätte.

Autor beider Teile ist Friedemann Bedürftig, und danach sind sie auch geraten: Insgesamt eine oberflächliche und fehlerhafte Darstellung entlang vieler Klischees und unter Auslassung wichtiger Informationen:

  • Ist es wirklich nötig, den jungen Goethe 1774 »An Schwager Kronos« in der geglätteten Fassung von 1787 rezitieren zu lassen?
  • Warum ist das Weimarer Schloss, das am 6. Mai 1774 abgebrannt ist, bei Bedürftig »vor zwei Jahren« abgebrannt, als Goethe im November 1775 in Weimar eintrifft?
  • Warum erfahren wir an keiner Stelle, dass Frau von Stein verheiratet war?
  • Warum werden für eine Szene der Walpurgisnacht Verse aus der Hexenküche zitiert?
  • Warum erfahren wir nicht, dass 1828 Großherzog Karl August stirbt?
  • Warum wird uns suggeriert, die Beschwörung des Erdgeistes, die bereits 1775 fertig war, sei Goethe im Zusammenhang mit der Exhumierung von Schillers Leichnam 1827 in den Sinn gekommen?
  • Warum wird uns als Pars pro toto für Eckermanns Gespräche mit Goethe ausgerechnet ein belangloses Gefasel über Brillen angeboten, das so nicht einmal dem tatsächlichen Gespräch vom 5. April 1830 entspricht?
  • Und warum gibt das Goethe-Institut seinen Namen für einen solchen Kram her?

Magst Priester, Weise fragen,
Und ihre Antwort scheint nur Spott
Über den Frager zu sein.

Die Zeichnungen des ersten Bandes von Christoph Kirsch sind etwas bieder und pädagogisch, während der zweite Band mit Zeichnungen von Thomas von Kummant und der Kolorierung durch Benjamin von Eckartsberg deutlich an Kraft und Ausdruck gewinnt, nicht zuletzt dadurch, dass er im Gegensatz zu Band 1 handgelettert ist.

Ach ja, da fällt mir noch ein: Über das ganze Buch hinweg herrscht ein seltsamer Mischmasch von alter und neuer Rechtschreibung; da hätte man auch mal abschließend drüberschauen können.

Alles in allem also: Inhaltlich gänzlich belanglos, graphisch im zweiten Teil durchaus ansehnlich.

Friedemann Bedürftig / Christoph Kirsch / Thomas von Kummant / Benjamin von Eckartsberg: Goethe – Zum Sehen geboren / Zum Schauen bestellt. Sonderausgabe in einem Band. Köln: Egmont, 2007. 109 Seiten. 14,– €.

Intelligenz heute

»Intelligenz ist verdächtig: Scharfsinn verblühter Reklamechefs. Der Asketenverein ›Zum häßlichen Schenkel‹ hat die platonische Idee erfunden. Das ›Ding an sich‹ ist heute ein Schuhputzmittel. Die Welt ist keß und voll Epilepsie.«

Hugo Ball
Tenderenda der Phantast

Das Buch vom schlechten Leser

barbey_antigoethe»Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen«, schreibt der sehr große Lichtenberg, »und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?« Dieser kleine Satz sollte allen Literaturkritikern ganz zu Anfang in ihr Stammbuch geschrieben werden, denn die Grundannahme der Literaturkritik ist im Normalfall, dass es sich um ein schlechtes Buch handeln muss, wenn der Kritiker mit dem Werk nichts Rechtes anzufangen weiß. Dass es aber – auch unter Kritikern! – prozentual mindestens ebenso viele schlechte Leser wie schlechte Bücher gibt, wird selten mitbedacht und noch seltener thematisiert. Nur hier und da erscheint einmal ein Beweis solcher Ignoranz, und es müssen schon ganz besondere Umstände zusammenkommen, damit nach über 100 Jahren ein solches Dokument noch einmal veröffentlicht wird.

Im Jahr 1873 erschien eine Reihe von Essays des damals in Frankreich hoch geschätzten Autors und Literaturkritikers Jules Barbey d’Aurevilly (1808–1889), die Goethe gewidmet sind und jetzt bei Matthes & Seitz in Berlin unter dem Titel Gegen Goethe zum ersten Mal auf Deutsch vorliegen. Barbey d’Aurevilly beginnt seine ausführliche Polemik gegen das Gesamtwerks Goethes mit einer skurrilen Szene:

Während die Preußen Paris bombardierten, las ich Goethe. Die Librairie Hachette hatte mir vor der Belagerung eine Ubersetzung seiner Sämtlichen Werke geschickt, damit ich sie in einer Zeitung bespräche, und zwischen zwei Wachen las ich immer wieder darin.

Dies ist eine Momentaufnahme aus dem Deutsch-französischen Krieg von 1870/71, den die Deutschen mit der Krönung Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal zu Versailles abschließen sollten – einer bewussten Provokation und Demütigung der Franzosen, die dies bis zum Vertrag von Versailles im Jahr 1918 auch nicht vergessen würden.

Und auch Barbey d’Aurevilly nimmt auf seine Weise Rache für diese Schmach: Er verreißt Goethe! Und das in aller Aufrichtigkeit: Er muss sich durchaus nicht zwingen, Goethe schlecht und – was ihm unverzeihlicher zu sein scheint – unerträglich langweilig zu finden, seine dramatischen Figuren hölzern, seine Gedichte von des Gedankens Blässe angekränkelt, die Romane unmoralisch oder dumm oder auch beides. Und überhaupt mangele es Goethe an Gefühl, Phantasie und Erfindungsgabe; sein Versuch, diese Mängel durch Gelehrsamkeit auszugleichen, ende in einem Fiasko wie dem zweiten Teil des »Faust«, hinterlasse aber auch sonst überall verhängnisvolle Spuren.

Nun höre ich ringsum schon ein allgemeines Aufatmen: »Endlich sagt es mal einer!« – »Recht so! Immer feste druff!« – »Ich habe es ja immer schon gewusst, nur zu sagen habe ich es mich nicht getraut.« ––– Nein, ich muss alle Erleichterten enttäuschen: Barbey d’Aurevilly hat einfach Unrecht; er war im Grunde genommen nichts weiter als ein schlechter Leser Goethes. Dass er ein solch ausgezeichnet schlechter Leser des Weimarer Klassikers wurde, hatte gleich mehrere Wurzeln, die das kluge Nachwort von Lionel Richard detailliert vorführt und analysiert: Barbeys Konkurrenz zu Sainte-Beuve, Goethes hohes Ansehen bei den Anti-Romantikern Frankreichs und eben nicht zuletzt auch die nationale Konfrontation des gerade verlorenen Krieges. Barbey d’Aurevilly wollte Goethe schlechtfinden, koste es, was es wolle. Sein Unverständnis ist oft einfach nur grotesk zu nennen und selbst da, wo er sich genötigt sieht, wenigstens Teilaspekte des Werkes zu loben, kritisiert er das übrige nur um so heftiger.

Und nun in unsern Tagen die Leichtigkeit, jeden Irrtum durch den Druck sogleich allgemein predigen zu können! Mag ein solcher Kunstrichter nach einigen Jahren auch besser denken, und mag er auch seine bessere Überzeugung öffentlich verbreiten, seine Irrlehre hat doch unterdes gewirkt und wird auch künftig gleich einem Schlingkraut neben dem Guten immer fortwirken.

Goethe zu Eckermann, 13. Februar 1831

Warum wird ein solch weitgehend unbekanntes Buch noch einmal aufgelegt und der Irrtum erneut verbreitet? Nun muss man zuerst einmal natürlich auch Barbey d’Aurevilly und seinen Lesern eine gewisse Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn dieses Buch hat auch ganz unabhängig vom Ziel der Polemik seine Berechtigung und seinen Platz im Werk Barbeys. Dann mag die eine oder andere auch Vergnügen an der Form der Polemik und Barbeys Eifer haben, an den Brotkugeln, die er auf den Adler schießt in der festen Überzeugung, es seien Kanonenkugeln, die einem Spatzen gölten. Und es ist zudem keine kleine Kunst, in einem so schmalen Band gleich so viele Irrtümer, Fehler und Vorurteile zu versammeln. Und ganz zum Schluss ist das Büchlein eben auch das oben genannte Dokument eines schlechten Lesers, eine Mahnung an alle Kritiker – sie werden sie nicht lesen oder, wenn sie sie lesen, nicht verstehen oder, wenn sie sie verstehen, gleich wieder vergessen. Aber vielleicht bleibt es ja als Gewinn bei den guten Lesern übrig, immer mitzubedenken, dass ein Verriss seinen Grund nicht immer darin haben muss, dass das besprochene Buch nichts taugt.

Da hatt ich einen Kerl zu Gast,
Er war mir eben nicht zur Last;
Ich hatt just mein gewöhnlich Essen,
Hat sich der Kerl pumpsatt gefressen,
Zum Nachtisch, was ich gespeichert hatt.
Und kaum ist mir der Kerl so satt,
Tut ihn der Teufel zum Nachbar führen,
Über mein Essen zu räsonieren:
»Die Supp hätt können gewürzter sein,
Der Braten brauner, firner der Wein.«
Der Tausendsakerment!
Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.

Johann Wolfgang von Goethe

Jules Barbey d’Aurevilly: Gegen Goethe. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Matthes & Seitz, 2006. Pappband mit Schutzumschlag, fadengeheftet, Lesebändchen. 142 Seiten. 19,80 €.

»Nachtwachen« von Bonaventura

nachtwachen

Im Jahr 1804 erscheint unter dem Titel »Nachtwachen« ein kleines Büchlein, das kaum die Bezeichnung Roman verdient, und dessen Verfasser sich hinter dem Pseudonym Bonaventura verbirgt. Es hat bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts gedauert, bis man den Autor des Bändchens endlich identifiziert hatte: Ernst August Friedrich Klingemann, ein Theaterintendant und Bühnenautor, dessen sonstige Werke heute beinahe vollständig vergessen sind, hatte mit den »Nachtwachen« sein Meisterstück geliefert.

Erzählt werden die 16 Nachtwachen des Büchleins vom Nachtwächter Kreuzgang, einem Außenseiter, den die bürgerliche Gesellschaft für ebenso verrückt hält wie er sie. Seinen Namen hat er von dem Ort erhalten, an dem er als Waise gefunden worden ist. Bereits durch seine Herkunft von der guten Gesellschaft isoliert, lebt er nun sein Leben im Dunkel der Nacht und läßt die schlafenden Bürger wissen, was die Stunde geschlagen hat. Von den Spießbürgern seiner Stadt wird er wohl als ein Verrückter angesehen, dem man aus Mitleid und weil er sonst zu nichts Vernünftigem zu gebrauchen war, den Posten des Nachtwächters überlassen hat. So verschläft er denn den Großteil des Tages, und man hat braucht sich mit ihm nicht weiter herumzuärgern.

Die Geschichten, Gedanken, Betrachtungen, mit denen Kreuzgang seine Nächte füllt, sind weder kontinuierlich noch konsequent. Vieles bleibt abgerissen und hingeworfen, Fragment im Fragment eines Fragments. Als Nachtwächter schaut er von draußen in die erleuchteten Fenster hinein, sieht Ausrisse vom Leben und Sterben seiner Mitbürger, geht in Blitz und Donner durch die Nacht, spaziert über Friedhöfe und durch dunkle Kirchen, spricht mit Gott, dem Teufel und sich selbst. Und bei diesen Selbstgesprächen kommen viele und vieles nicht gut weg:

Sagt mir, mit was für einer Mine wollt ihr bei unserm Herrgott erscheinen, ihr meine Brüder, Fürsten, Zinswucherer, Krieger, Mörder, Kapitalisten, Diebe, Staatsbeamten, Juristen, Theologen, Philosophen, Narren und welches Amtes und Gewerbes ihr sein mögt; denn es darf heute keiner in dieser allgemeinen Nationalversammlung ausbleiben, ob ich gleich merke, daß mehrere von euch sich gern auf die Beine machen möchten um Reisaus zu nehmen.

Gebt der Wahrheit die Ehre, was habt ihr vollbracht, das der Mühe werth wäre? Ihr Philosophen z. B. habt ihr bis jezt etwas Wichtigers gesagt, als daß ihr nichts zu sagen wüßtet? – das eigentliche und am meisten einleuchtende Resultat aller bisherigen Philosophien! – Ihr Gelehrten, was hat eure Gelehrsamkeit anders bezwekt als eine Zersezung und Verflüchtigung des menschlichen Geistes um zulezt mit Muße und einfältiger Wichtigkeit an das übriggebliebene caput mortuum euch zu halten. – Ihr Theologen, die ihr so gern zur göttlichen Hofhaltung gezählt werden möchtet, und indem ihr mit dem Allerhöchsten liebäugelt und fuchsschwänzt, hier unten eine leidliche Mördergrube veranstaltet und die Menschen statt sie zu vereinigen in Sekten auseinander schleudert und den schönen allgemeinen Brüder- und Familienstand als boshafte Hausfreunde auf immer zerrissen habt. – Ihr Juristen, ihr Halbmenschen, die ihr eigentlich mit den Theologen nur eine Person ausmachen solltet, statt dessen euch aber in einer verwünschten Stunde von ihnen trenntet um Leiber hinzurichten, wie jene Geister. Ach nur auf dem Rabensteine reicht ihr Brüderseelen vor dem armen Sünder auf dem Gerichtsstuhle euch nur noch die Hände und der geistliche und weltliche Henker erscheinen würdig neben einander! –

Was soll ich gar von euch sagen, ihr Staatsmänner, die ihr das Menschengeschlecht auf mechanische Prinzipien reduzirtet. Könnt ihr mit euern Maximen vor einer himmlischen Revision bestehen, und wie wollt ihr, da wir jezt in einen Geisterstaat überzugehen im Begriffe sind, jene ausgeplünderten Menschengestalten placiren, von denen ihr gleichsam nur den abgestreiften Balg, indem ihr den Geist in ihnen ertödtetet, zu benuzen wußtet. – O, und was drängt sich mir nicht noch alles auf über die einzeln stehenden Riesen, die Fürsten und Herrscher, die mit Menschen statt mit Münzen bezahlen, und mit dem Tode den schändlichen Sklavenhandel treiben. –

Die »Nachwachen« sind ein dunkles und wildes Buch, dessen abgerissene und befremdliche Gedanken auch heute noch den einen und anderen Blick auf die Nachtseite des Menschen in seiner bürgerlichen Verfassung erlauben. Es ist eines der seltenen Bücher, die in einer Epoche ganz für sich stehen und denen es deshalb gelingt, weit über ihre Zeit hinaus zu wirken.

Nachtwachen von Bonaventura. Im Anhang: Des Teufels Taschenbuch. Mit einem Nachwort v. Peter Küppers. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004. Pappband, Fadenheftung, 223 Seiten. 22,90 €.

Der 100.000-Euro-Fall

Maxim Billers Buch »Esra« wurde im Frühjahr 2003 aus dem Vertrieb genommen, weil zwei Frauen gegen das Buch eine einstweilige Verfügung erwirkt hatten. Sie glaubten, sich in Figuren des Buches wiederzuerkennen und sahen ihre Persönlichkeitsrechte angegriffen. Im Juni 2005 kam der sich daraus entwickelnde Prozess zu seinem Ende, als der Bundesgerichtshof die weitere Verbreitung des Buches verbot. Diese Urteil ist nun Grundlage für eine Schadensersatzklage der selben beiden Frauen gegen Autor und Verlag; es geht um 100.000 Euro.

Der Bundesgerichtshof hatte sein Urteil damit begründet, dass Billers Buch nicht Typen zeichne, sondern Porträts liefere. In einem solchen Fall müsse die durch die Verfassung garantierte Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ) vor den ebenfalls verfassungsrechtlich geschützen allgemeinen Persönlichkeitsrechten (Art. 2 Abs 1 GG) der Klägerinnen zurücktreten. Damit wurde festgestellt, dass Billers Buch die Persönlichkeitsrechte der Klägerinnen verletzt hatte.

Auf der Grundlage dieser Feststellung fordern die beiden Klägerinnen jetzt Schadensersatz für den erlittenen Schaden. Ob durch die Verletzung der Persönlichkeitsrechte überhaupt ein erheblicher Schaden eingetreten ist, steht keineswegs bereits fest, sondern muss sich im nun anstehenden Prozess erweisen. Auch ob sich die Klägerinnen mit ihrer Vorstellung über die Höhe der Entschädigung durchsetzen können, ist gänzlich unklar. Deutsche Gerichte neigen eher nicht dazu, hohen Schadensersatzforderungen nachzukommen.

Das ganze sorgt für nicht unerhebliche Aufregung unter deutschen Schriftstellern, die einen Grundbestand ihres Berufsstandes – die Verarbeitung von Wirklichkeitsdetails in fiktionalen Texten – gefährdet sehen. So haben sich mehr als Hundert bekannte Autoren und Publizisten in einer Unterschriftenliste mit Biller solidarisch erklärt. Sie bestreiten, dass durch ein verbotenes Buch ein Schaden habe entstehen können, was ein hinfälliges Argument ist, da die Klägerinnen mit Sicherheit nicht den Schaden einklagen, der nach dem Vertriebsstop durch das Buch entstanden ist, sondern zum einen denjenigen, den die bis dahin bereits verkauften Bücher verursacht haben, und zum anderen denjenigen, der ihnen durch den anschließend zu führenden Prozess entstanden ist.

Interessant ist der Aufschrei Daniel Kehlmanns (dem auch mal jemand sagen sollte, dass der Roman von Thomas Mann nicht »Die Buddenbrooks« heißt) in der F.A.Z., der unter dem Titel Ein Autor wird vernichtet gleich den Untergang der Kunstfreiheit zumindest in der deutschen Literatur befürchtet. Er rät – freilich für den in Frage stehenden Fall ein wenig spät – allen Menschen, sich von Schriftstellern fernzuhalten, um nicht in deren Büchern vorzukommen – ein Verfahren, das, wenn es denn konsequent befolgt würde, die Literatur ebenso erledigte, da dann die Schriftsteller ja nichts mehr hätten, worüber sie schreiben könnten.

In der allgemeinen Aufregung scheint mir der Einzelfall eindeutig zu hoch gehängt. Nichts spricht gegen die Solidarität der Kollegen mit Maxim Biller, aber ebenso wenig spricht gegen den Versuch der Klägerinnen, ein rechtskräftiges Urteil, das ihnen die Verletzung ihrer Rechte bescheinigt, dazu zu benutzen, dafür eine Kompensation zu erlangen. Die jetzige Klage auf Schadensersatz ist nur die ganz normale juristische Konsequenz, die sich aus dem ersten Urteil ergibt. Und ich wüßte gerne mehr: Hat es Versuche der Klägerinnen gegeben, sich mit dem Verlag im Vorfeld der neuen Klage gütlich zu einigen? Hat der Verlag von sich aus eine entsprechende Kompensation angeboten (was meiner unmaßgeblichen Meinung nach selbstverständlich gewesen wäre)? Wenn ja, in welcher Höhe?

Die Freiheit der Kunst sehe ich jedenfalls nicht gefährdet, und sie ist auch durch das erste Urteil im Fall Biller nicht eingeschränkt worden. Schon immer war es eine bedenkliche Frage, wann Kunst die Persönlichkeitsrechte anderer Personen verletzt. Wieviel Wirklichkeit muss und darf in einem Roman vorkommen. Diese Grenzen haben immer schon bestanden, sie verändern sich in und mit den Zeiten, aber es gab sie immer und wird sie immer geben. Im Fall »Esra« wurden sie nach Auffassung des Bundesgerichtshofs überschritten; ab dem 9. August wird darüber verhandelt werden, welche Folgen das haben wird. Auch dieser Prozess kann sich lange durch die Instanzen ziehen. Am Ende wird ein Urteil stehen, dass wahrscheinlich einmal mehr niemand für gerecht halten wird.

George Orwell: 1984

106060847_82990d4948Zur Wiederlektüre nach über 20 Jahren bin ich auf etwas verschlungenem Weg gekommen: Als ich mir die die Verfilmung des »Merchant of Venice« durch Michael Radford anschaute und mich zu erinnern versuchte, ob ich schon jemals einen anderen Fim dieses Regisseurs gesehen hatte, stellte ich überrascht fest, dass er auch für die Verfilmung von »1984« verantwortlich war. Ich habe dann zuerst den Film nach 22 Jahren noch einmal angeschaut und dann, neugierig wie nah am Buch die Verfilmung wohl sein möchte (sie ist erstaunlich nah am Buch!), das ebenfalls 22 Jahre alte und noch ungelesene Taschenbuch mit der Übersetzung durch Michael Walter aus dem Regal gezogen. Ich hatte noch zu Schulzeiten die ältere Übersetzung von Kurt Wagenseil gelesen, dann im Jahr des Titels brav die neue Übersetzung gekauft, eingestellt und seitdem von Mal zu Mal mit umgezogen.

Weit besser hätt’ ich doch mein weniges verpraßt,
Als mit dem wenigen belastet hier zu schwitzen!
Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.
Was man nicht nützt, ist eine schwere Last,
Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.

Nun aber zum Buch: Wiedergefunden habe ich nicht, was ich erwartet hatte. Was sich im allgemeinen Bewusstsein festgesetzt und mit den Jahren auch meine frühere Lektüre überlagert hat, ist das Bild eines technisierten Überwachungsstaates. Überwachungsstaat mag gerade noch angehen, von Technisierung aber kann kaum die Rede sein. Überhaupt wird nur ein geringer Anteil der Bevölkerung – hauptsächlich die Mitglieder der »Äußeren Partei« – tatsächlich überwacht und auch bei denen ist der Grad der Kontrolle höchst unklar, was einen nicht unwesentlichen Anteil der von der Partei ausgeübten Macht darstellt.

Vorherrschend aber ist ganz etwas anderes: Not und Elend in einem immerwährenden Kriegszustand, nahezu kompletter Mangel an futuristischer Technik – einzig der »Sprechschreiber« geht wesentlich über den technischen Horizont der 1940er Jahre hinaus –, statt dessen krudeste ideologische und psychologische Methoden, deren Anwendung nicht nur in Bezug auf den Erfolg fraglich erscheinen müsste, sondern auch im fiktionalen Gefüge des Romans eigentlich keinen Platz hat. Wenn die Partei tatsächlich die Vergangenheit so perfekt beherrscht, wie es der Roman vorgibt, so braucht sie auch Märtyrerschaft nicht zu fürchten, da die »vaporisierten« Gedankenverbrecher ja niemals existiert haben. Sie könnte sich daher getrost den mit den Delinquenten betriebenen Aufwand, der dazu führen soll, sie zu linientreuen Genossen zu machen, bevor man sie beseitigt, sparen und die Festgenommenen ohne weiteres ins Jenseits befördern. Geständnisse und Schauprozesse, so man sie denn für die Propaganda benötigt, lassen sich sicherlich unaufwendiger produzieren. Auch bleibt der Versuch unverständlich, die Vergangeheit überhaupt beherrschen zu wollen und immer erneut umzuschreiben anstatt sie einfach auszulöschen. Warum werden denn gedruckte Nachrichten überhaupt noch produziert und ausgeliefert? Wem hat die Partei denn überhaupt etwas zu beweisen? »Doppeldenk« und »Televisor« lassen solchen Aufwand als unnötig erscheinen.

Einzig durch das implizite Menschenbild wird der dritte Teil des Romans interessant: Es existiert in Orwells Utopie kein letzter Zufluchtsort des Individuums in seiner Gedankenwelt, den die Macht nicht erreichen könnte, wenn sie es einmal darauf angelegt hat. Auch der letzte Widerstand des Einzelnen kann gebrochen werden, wenn es die Mächtigen tatsächlich darauf anlegen würden. Insoweit ist Winston Smith eine interessante Gegenfigur zu Kleists Michael Kohlhaas, der sich noch durch das Akzeptieren seines Todes dem Zugriff des Mächtigen entziehen kann.

Erstaunlich, aber dann auch wieder sehr verständlich ist, dass der Roman seine Bedeutung im öffentlichen Bewusstsein der westlichen Welt so ganz verloren zu haben scheint. Das Gespenst des Überwachungsstaates scheint an Bedrohlichkeit eingebüßt zu haben oder seine Form hat sich inzwischen so verändert, dass Orwells Vision nicht mehr greift. Es steht zu befürchten, dass der Roman in den nächsten zehn Jahren gänzlich obsolet werden wird, falls er es nicht heute schon ist.

Aktuelle Ausgabe:
Orwell, George: 1984
Ullstein Taschenbuch. ISBN 3-548-23410-0
Paperback – 320 Seiten – 7,95 Eur[D]

P.S.: Im Anschluss habe ich auch noch einmal Anthony Burgess’ Essay über Orwells »1984« gelesen, der beispielhaft deutlich macht, wie sehr der Roman eine Extrapolation aus der unmittelbaren Lebenswelt Orwells zum Zeitpunkt der Niederschrift ist.