Max Frisch / Friedrich Dürrenmatt: Briefwechsel

978-3-257-06174-1 Ein mit 36 Briefen dünner Briefwechsel dieser beiden prominentesten Schweizer Autoren des vergangenen Jahrhunderts, den ich aus didaktischem Anlass wieder einmal aus dem Schrank geholt habe. Natürlich erklärt sich der geringe Umfang hauptsächlich daraus, dass Frisch und Dürrenmatt sehr vieles mündlich verhandelt haben bzw. sich später nur noch wenig zu sagen hatten. Man merkt beiden am Ende die gute Absicht an, mit der der jeweils andere nichts mehr anzufangen weiß. Dennoch waren sie wohl bis zum Schluss mit dem Gegenüber innerlich mehr beschäftigt, als es die äußerlich bleibenden Briefe ahnen lassen.

Daher ist das beinahe das Wichtigste an dem Buch der umfangreiche Essay Fast eine Freundschaft des Herausgebers Peter Rüedi, der die Bekanntschaft der beiden Autoren sorgfältig aufarbeitet und darstellt. Rüedi hat zudem die einzelnen Briefe sorgfältig kommentiert, so dass das Bändchen eine Fülle von biografischen Materialien zu beiden Autoren liefert. Die Texte sind ergänzt um einige Brief-Faksimiles und Bilder sowie eine parallele Chronik zu beiden Autoren. Ein Personen- und Werkregister erschließt das Buch.

Max Frisch / Friedrich Dürrenmatt: Briefwechsel. Hg. v. Peter Rüedi. Zürich: Diogenes, 1998. Leinen, Lesebändchen, 240 Seiten. 19,90 €.

Richard Dawkins: Der Gotteswahn

dawkins_gotteswahnWieder einmal mehr ein Beleg dafür, dass es einem Autor gar nichts nützt, Recht zu haben. Dawkins, seit vielen Jahren einer der lautstarken Vertreter der Evolution als naturwissenschaftlicher Übertheorie – im Grunde lässt sich alles durch die Evolution erklären und sollte sich tatsächlich etwas nicht durch die Evolution erklären lassen, so lässt sich wenigstens diese Unmöglichkeit aus der Evolution erklären –, hat hier zu einer breiten Polemik gegen »die Religion« angesetzt, behandelt aber hauptsächlich die Auswüchse des Christentums und des Islams. Das ist besonders im zweiten Teil ganz witzig, wenn Dawkins seitenweise christlich-fundamentalistischen Unfug zitiert. Natürlich ist das alles pro domo geschrieben, wenn auch immer wieder behauptet wird, es gehe um »die Wahrheit«. Es geht im Gegenteil um Forschungsgelder und Projektmittel, die durch kreationistischen Blödsinn gefährdet sind, wenn christliche Fundamentalisten sich mit Politikern in wichtigen Schaltstellen verbünden.

Die Schwäche von Dawkins’ Standpunkt zeigt sich an einer Frage, die er selbst so formuliert:

Damit will ich nicht sagen, dass wir die Ansichten dieser Leute [der Religionsvertreter] um jeden Preis zensieren sollten, aber warum rollt die Gesellschaft ihnen den roten Teppich aus, als hätten sie eine ähnliche Fachkenntnis wie beispielsweise ein Moralphilosoph, ein Familienanwalt oder ein Arzt? [S. 36]

Ja, warum tut die Gesellschaft das? Diese Frage bleibt im Buch letztlich unbeantwortet, was Dawkins aber nicht groß zu stören scheint. Unverkennbar haben Religionen eine unverzichtbare Funktion in ihren Gesellschaften, da sie die Angriffe der Aufklärung in den letzten 300 Jahre ansonsten kaum so gut überstanden hätten, wie sie es getan haben. Sicherlich haben sie in der weitgehend säkularen Realität der westlichen Welt nicht mehr die Macht und den Einfluss, der sie einst ausgezeichnet hat, aber sie sind offenbar immer noch recht aktive Teilnehmer an den Diskursen um Moral, Menschen- und Weltbild. Zum Verständnis dieses Phänomens ist es wenig hilfreich, den entsprechenden Standpunkt gebetsmühlenartig immer erneut als »irrational« zu bezeichnen. Damit rennt man nur offene Türen ein: Selbstverständlich ist der Glaube an Gott als Schöpfer der Welt und an seine Vertreter auf Erden als moralische Instanzen irrational, aber was schadet das? Angesichts der Tatsache, dass es der Rationalität weder gelungen ist, eine rationale Letztbegründung der Moral zu leisten, noch sie in der Lage ist, dem Laien die Frage nach der Herkunft des Universums verständlich zu beantworten, ist es nur wenig verwunderlich, dass irrationale Konzepte der Religionen weiterhin weltweit erfolgreich sind.

Selbstverständlich ist Dawkins darin zuzustimmen, dass es am Ende nur den Wissenschaften gelingen wird, ein Weltbild zu erzeugen, das wenigstens in irgendeiner Weise eine Annäherung an die Wirklichkeit darstellt. Aber wozu soll das gut sein, wenn dieses Weltbild mehr als 99 Prozent aller Menschen – und darunter eben auch politische Entscheidungsträger – von einem Verständnis eben dieses Weltbildes ausschließt? Für den »normalen Menschen« heißt es schon heute, sich zu entscheiden zwischen zwei Glaubensrichtungen: Der der Religionen oder der der Naturwissenschaft – die eine ist ihm so rational oder irrational wie die andere. Und die Naturwissenschaften werden noch unverständlicher werden, sich immer noch weiter von einem alltäglichen Verstehen der Welt entfernen. Was geht uns der Urknall an? Was soll daran vorteilhaft sein, dass die Urknall-Theorie angeblich besser mit irgendwelchen »Tatsachen« und »Belegen« übereinstimmt als die Schöpfungsgeschichte? Sicherlich: Für diejenigen, die der Bruder- oder meinetwegen Schwesternschaft der Wissenschaft einmal beigetreten sind, liegt alles glasklar auf der Hand. Aber was ist mit denen, die außen vor stehen und immer außen vor stehen werden? Für sie ist es wenig hilfreich, wenn sie von Herrn Dawkins über vielen Seiten hinweg als Idioten beschimpft werden.

Insgesamt scheitert das Buch an seinem Thema, da es Dawkins nicht gelingt, ein ausreichendes Verständnis für die Funktion der Religion in der Gesellschaft zu entwickeln. Seine Polemik bleibt selbstverliebt und oberflächlich. Dawkins entwickelt keinen Sinn dafür, dass die Wissenschaften den meisten Menschen kryptischer und irrationaler erscheinen als die Religionen und dass eine andere große Gruppe heute an die Wissenschaft genau so glaubt, wie sie früher an eine Religion geglaubt hätte. Dawkins entwickelt keinen Sinn für die Grenzen und Mängel des wissenschaftlichen Weltbildes und für dessen nur mangelhafte Leistungen, wenn es darum geht, dem Leben des Einzelnen einen Sinn zu vermitteln. Natürlich gelingt das auch einer Religion nicht »wirklich«, aber es scheint vielen Menschen doch besser zu sein als nichts.

Dass aber auch das Denken so gar nichts helfen will!

Richard Dawkins: Der Gotteswahn. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Berlin: Ullstein, 2007. Pappband, 575 Seiten. 22,90 €.

Karen Duve: Taxi

duve_taxi Nach ihrem Regenroman erst mein zweites Buch von Karen Duve und wieder ist der vorherrschende Eindruck: Diese Frau kann einfach erzählen. Auch dieses Mal haut mich der Inhalt nicht besonders vom Hocker, aber ich muss eingestehen, dass ich die über 300 Seiten gern und zügig gelesen habe. Duve verarbeitet offensichtlich ihre eigenen Erfahrungen als Taxifahrerin, aber das Buch bleibt weder im Autobiografischen noch im Anekdotischen stecken. Besonders letzteres ist eine erzählerische Klippe, an der zu scheitern der Stoff anbietet. Duve hat das so gelöst, dass sie den Stoff auf zwei Ebenen verteilt: Die eine bleibt klar anekdotisch, während auf der anderen eine Art statischer Entwicklungsroman erzählt wird.

Ich-Erzählerin ist Alex Herwig, die nach einer abgebrochenen Ausbildung zur Versicherungskauffrau nichts mit sich anzufangen weiß und deshalb beginnt, Taxi zu fahren. Es braucht einige Zeit, bis sie feststellt, dass dies ihr Grundproblem nicht beseitigt, sondern nur verschiebt. Sie lässt sich aus lauter Trägheit auf eine Beziehung mit ihrem Kollegen Dietrich ein – einem Taxi fahrenden Künstler – und pflegt darüber hinaus noch einige andere Herrenbekanntschaften, da sie sich eigentlich nicht binden will. Die Handlung umfasst mehr als fünf Jahre, wobei nur die erste und die letzte Phase dieses Zeitraums erzählt werden. Die Protagonistin, die schon zu Anfang kein sehr positives Menschenbild pflegt, entwickelt mit den Jahren eine ernsthafte Depression begleitet von solider Misanthropie. Das alles bleibt erträglich, weil der Text einerseits nirgends ins Wehleidige gerät, anderseits die innere Unbeweglichkeit der Heldin immer von ihrem anekdotisch-bewegten Leben als Taxifahrerin gekontert wird. Erzählerisch ist das gut gemacht, und selbst seine Poetik liefert das Buch en passant mit:

»Die Unterhaltungsfunktion von Büchern ist ja auch längst überholt«, sagte Rüdiger. »Wer sich unterhalten lassen will, k-kann das viel besser tun, indem er den Fernseher anstellt. Die Funktion von Büchern kann heute nur noch in der geistigen Erfrischung bestehen. […]«

Einzelne sprachliche Schwächen – so wird etwa »gegenüber« im Deutschen immer noch mit Dativ konstruiert – muss man heutigen Autoren wohl insgesamt nachsehen. Auch die etwas merkwürdige Typographie des Bandes – die Sätze aus dem Taxifunk werden in einer im Vergleich zu Grundschrift deutlich kleineren, zudem serifenlosen Schrift, die auch noch halbfett gesetzt ist, wiedergegeben – lässt sich tolerieren.

Intelligente, gut erzählte und humorvolle Unterhaltung.

Karen Duve: Taxi. Frankfurt/M.: Eichborn, 2008. Pappband, 313 Seiten. 19,95 €.

Charles Dickens: Harte Zeiten

dickens_harte_zeiten Harte Zeiten ist 1854 im Anschluss an Bleakhaus entstanden. Erzählt wird hauptsächlich die Geschichte des Geschwisterpaares Louisa und Tom Gradgrind, die von ihrem Vater nach einem streng rationalen Programm erzogen werden: Fantasie, Märchen, überhaupt Gefühle aller Art sind verpönt, stattdessen werden die Wissenschaften, insbesondere aber Mathematik – genauer: die Statistik – und Logik hoch gehalten. Die Kinder geraten dementsprechend: Louisa heiratet den Bankier und Webereidirektor Josiah Bounderby, der ihr gänzlich gleichgültig ist, weil sie hofft, damit ihrem Bruder Tom das Leben erleichtern zu können, der in Bounderbys Bank als Angestellter beschäftigt ist. Tom verfällt aber, sobald er dem väterlichen Regime entflohen ist, nahezu sofort der Spielleidenschaft und häuft rasch drückende Schulden an.

In dieser Situation kommt der weltgewandte, aber tief gelangweilte Dandy James Harthouse nach Coketown, einer kleinen, fiktiven Industriestadt, in der der Roman spielt, um sich um einen Parlamentssitz in der Gegend zu bewerben. Er wird als Parteifreund auch im Hause Bounderbys empfangen und entschließt sich gleich bei ihrer ersten Begegnung, Louisa zu verführen. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, kümmert er sich um den haltlosen Tom, der gerade zu dieser Zeit einen Einbruch in die Bank vortäuscht, um seine eigene Veruntreuung zu vertuschen. Harthouse nimmt sich Toms als vorgeblicher Freund an, um sich das Vertrauen Louisas zu erwerben, die sich schließlich vor seinen Verführungskünsten, denen sie ebenso wenig entgegenzusetzen hat wie ihren eigenen Gefühlen für diesen Mann, verzweifelt ins elterliche Heim flüchtet. Am Ende scheitern beide Geschwister: Tom muss ins Ausland fliehen, wo er im Elend stirbt, und Louisa wird von ihrem scheinheiligen und angeberischen Ehemann verstoßen und geschieden.

Als Nebenstrang dient die Geschichte Stephen Blackpools, eines Coketowner Arbeiters, der vom Schicksal arg gebeutelt wird: Seine Frau ist Alkoholikerin, die Frau, die er liebt, Rachael, ist genau wie er selbst zu moralisch, um eine außereheliche Beziehung zu beginnen, er ist ein Außenseiter unter den Arbeitern, da er nicht bereit ist, sich ihrem Arbeitskampf anzuschließen und schließlich wird er von seinem Chef Bounderby auch noch entlassen, weil der Blackpools Einstellung nicht versteht. So verlässt Blackpool die Stadt, nicht ohne dass Tom zuvor durch einen kleinen Trick den Verdacht auf ihn lenkt, für den Bankraub verantwortlich zu sein. In dieser Nebenhandlung kommen nicht nur die nicht nur für Dickens typischen aufrechten, hoch moralischen und bitter armen Idealtypen vor, sondern sie wird von ihm auch dazu benutzt, ein erschreckendes Bild von der Industriearbeit seiner Zeit zu zeichnen. Ergänzt wird dieses Bild durch die Figur Slackbridge, der als gewerkschaftlicher Redner und Arbeiterführer an zwei Stellen zu Wort kommt. Dickens ist für die Figur Slackbridges zu Recht scharf kritisiert worden, da er mit seinen letztlich naiven Gutmenschen Blackpool und Rachael die soziale und gesellschaftliche Problematik seiner Zeit eindeutig unterläuft.

Besonders der erste Teil des Romans lebt von Dickens scharfer und witziger Satire gegen den Glauben an eine reine Rationalität, wie sie im Utilitarismus Jeremy Benthams oder John Stuart Mills zum Ausdruck kommt. Sicherlich spitzt Dickens Musterfamilie Gradgrind die Thesen der Utilitaristen polemisch zu, aber der Kritik, die aus den von Dickens aufgezeigten Konsequenzen einer seelen- und mitleidslosen Rationalität folgt, kann sich der Utilitarismus nur schlecht entziehen. Es ist schlicht falsch, zwischenmenschliche Beziehungen auf ein statistisches Rechenexempel reduzieren zu wollen, und wer dergleichen versucht, missversteht wesentlich, worum es im menschlichen Miteinander geht.

Insgesamt sicherlich nicht der gelungenste Roman von Dickens, aber gerade aufgrund seines polemischen Gehalts unterhaltsam und lesenswert. Die Übersetzung von Christiane Hoeppener ist recht korrekt – wenn es auch einzelne Unsicherheiten bei den verwendeten Anreden gibt –, macht aber insgesamt einen eher steifen Eindruck.

Charles Dickens: Harte Zeiten. Aus dem Englischen von Christiane Hoeppener. Rowohlt Jahrhundert, Bd. 10. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1987. 382 Seiten. – Diese Übersetzung ist derzeit nur antiquarisch lieferbar.

Lieferbare Alternativ-Ausgabe: Charles Dickens: Harte Zeiten. Aus dem Englischen von Paul Heichen. Insel Taschenbuch 955. Frankfurt/M.: Insel Taschenbuch Verlag, 1986 ff. 433 Seiten mit Illustrationen v. F. Walker u. Maurice Greiffenhagen. 11,50 €.

Charles Dickens: Bleakhaus

dickens_bleakhaus Dieser in Deutschland eher unbekannte Roman von Dickens gehört in der angelsächsischen Welt zu seinen bekantesten und gelobtesten. Er ist ab 1852 entstanden und gilt als Auftakt des Spätwerks. Die figurenreiche Handlung erzählt im Kern die Geschichte Esther Summer- sons, einer Waise, die als junge Frau in den Haushalt ihres Vormunds John Jarndyce aufgenommen wird. John Jarndyce hat ebenfalls die Vormundschaft über Ada Clare und Richard Carstone, die, ebenso wie ihr Vormund, in einen langwierigen Erbschaftsprozess verstrickt sind, der in gewisser Weise das Rückgrat der Erzählung bildet. Denn während der Roman die Geschichte Esthers entfaltet, begleitet er zugleich den moralischen und gesellschaftlichen Fall Richards, dem der schier endlose Prozess »Jarndyce kontra Jarndyce« langsam aber sicher zur fixen Idee und einzigen Lebensperspektive wird. Dickens nutzt diesen Erzählstrang zu einer sorgfältigen Satire des englischen Rechtswesens, in dem er selbst für einige Jahre als Rechtsanwalts-Gehilfe tätig gewesen war.

Der Gang der Handlung ist bei weitem zu komplex und vielfältig, um auch nur zu versuchen, hier eine Inhaltsangabe zu liefern. Neben den eindimensionalen und moralisch blitzsauberen Hauptfiguren tummeln sich zahlreiche skurrile und höchst reizvolle Nebenfiguren, so etwa der intrigante und kaltherzige Anwalt Tulkinghorn oder der hochnäsige und elitäre Sir Leicester Dedlock oder der joviale und zugleich unbestechliche Inspektor Bucket, um nur einige wenige als Beispiele zu nennen. Die Fülle der verwendeten Figuren bedingt eine hohe Komplexität der Handlung, die in zahlreichen Handlungssträngen zugleich vorangetrieben wird. Dabei erweist sich keiner der Stränge als rein dekorativ, sondern alle erfüllen eine genau bestimmte erzählerische Funktion. Ich erlaube mir, ein längeres Zitat Arno Schmidts herzusetzen, das den Gesamteindruck des Buches sehr gut wiedergibt:

Es ist, allein was das ‹Gerüst› der Fabel, die Konstruktion im Großen wie im Kleinsten, anbelangt, von mathematischer Perfektion. Der bloße ‹Leser› merkt das, bewußt, zunächst überhaupt nicht; wogegen der Fachmann auf jeder der 1000 Seiten ein paarmal neidisch die Zähne aufeinandersetzen, und bewundernd die Luft einziehen muß. Es gibt in der ganzen Weltliteratur nur noch 3 oder 4 weitere, ähnlich umfangreiche Stücke, die derart ‹berechnet› wären, derart ‹aufgebaut›. / Vom ersten Satz an, wo Nebel und Dämmerung und die übliche unmenschliche Staats=Justiz=Maschinerie mit einander identifiziert werden, steht kein Wort, keine Episode mehr umsonst: nie sind Zufall – oder, wenn Sie so wollen, Notwendigkeit! – als so eisernes Netz über Menschen und Dinge gespannt worden. Scheinbar zufällige Nebensätzlichkeiten, Ausrufe, Einsilbiges aller Art: wirken sich im Lauf der Handlung aus. Scheinbar belanglose – nicht ‹Taten›, sondern Handgriffe! – führen maschinenhaft, 500 Seiten später, Verbrechen & Tod herbei, Glück oder Unglück Unbekannter, Nie=Gesehener, Nie=Bedachter.

Diese Durchkonstruiertheit des Buches, die sicherlich ein artistisches Glanzstück darstellt, ist zugleich sein wesentliches Manko, da es sich besonders gegen Ende hin in Auflösung und Zusammenführung der zahlreichen Stränge abarbeitet, dabei sogar kurz vor Ultimo noch einen Mordfall in die Handlung einbaut, um sie wenigstens noch ein bisschen spannend zu halten, so dass der geübte Leser dem Schmidtschen Wort »maschinenhaft« oft nur seufzend beipflichten kann. Natürlich stellt das Buch eine beeindruckende schriftstellerische Leistung dar, aber zu vieles bleibt letztlich leerlaufendes Räderwerk einer hybriden erzählerischen Konstruktion. Die Geschichte Esther Summersons bleibt flach – nicht umsonst ist das Buch inzwischen mehrfach mit großem Aufwand als Soap opera verfilmt worden – und vorhersehbar (wenn der Leser nicht immer wieder vergäße, um was es eigentlich geht), und der satirische Gehalt des Buches, der den Zeitgenossen Dickens wohl weit mehr Freude bereitet hat als uns, blitzt nur hier und da in der schieren Masse des Textes auf. Beeindruckend bleiben – wie so oft bei Dickens – einige Nebenfiguren und die Beschreibung des Elends und der Not in den Londoner Slums des 19. Jahrhunderts.

Charles Dickens: Bleakhaus. Aus dem Englischen von Gustav Meyrink. detebe 21166. Zürich: Diogenes Verlag, 1984 ff. 843 Seiten mit zahl- reichen Druckfehlern. 14,90 €.

Drohnen-Philosophie

Mr. Skimpole was as agreeable at breakfast, as he had been over-night. There was honey on the table, and it led him into a discourse about Bees. He had no objection to honey, he said (and I should think he had not, for he seemed to like it), but he protested against the overweening assumptions of Bees. He didn’t at all see why the busy Bee should be proposed as a model to him; he supposed the Bee liked to make honey, or he wouldn’t do it–nobody asked him. It was not necessary for the Bee to make such a merit of his tastes. If every confectioner went buzzing about the world, banging against everything that came in his way, and egotistically calling upon everybody to take notice that he was going to his work and must not be interrupted, the world would be quite an unsupportable place. Then, after all, it was a ridiculous position, to be smoked out of your fortune with brimstone, as soon as you had made it. You would have a very mean opinion of a Manchester man, if he spun cotton for no other purpose. He must say he thought a Drone the embodiment of a pleasanter and wiser idea. The Drone said, unaffectedly, »You will excuse me; I really cannot attend to the shop! I find myself in a world in which there is so much to see, and so short a time to see it in, that I must take the liberty of looking about me, and begging to be provided for by somebody who doesn’t want to look about him.« This appeared to Mr. Skimpole to be the Drone philosophy, and he thought it a very good philosophy–always supposing the Drone to be willing to be on good terms with the Bee: which, so far as he knew, the easy fellow always was, if the consequential creature would only let him, and not be so conceited about his honey!

Charles Dickens
Bleak House

Miniaturen (6)

Die Gutsherrschaft war indessen in die Kammer getreten, wo der Braut von den Nachbarfrauen das Zeichen ihres neuen Standes, die weiße Stirnbinde, umgelegt wurde. Das junge Blut weinte sehr, teils weil es die Sitte so wollte, teils aus wahrer Beklemmung. Sie sollte einem verworrenen Haushalt vorstehen, unter den Augen eines mürrischen alten Mannes, den sie noch obendrein lieben sollte. Er stand neben ihr, durchaus nicht wie der Bräutigam des Hohen Liedes, der »in die Kammer tritt wie die Morgensonne.« – »Du hast nun genug geweint,« sagte er verdrießlich; »bedenk, du bist es nicht, die mich glücklich macht, ich mache dich glücklich!« – Sie sah demütig zu ihm auf und schien zu fühlen, daß er recht habe.

Annette von Droste-Hülshoff
Die Judenbuche

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker

duerrenmatt-richterEine Schullektüre ist ein Buch, das jede und jeder meint zu kennen, weil es in der Schule gelesen werden musste. Die allermeisten hassen diese Bücher, weil sie die Schule oder auch nur den Deutsch-Unterricht gehasst haben, und schauen nie wieder in eines dieser Bücher hinein. Wahrscheinlich hat es kein einziges Buch verdient, zur Schullektüre zu verkommen, aber bei einigen bedauert man es mehr als bei anderen. Dürrenmatts Der Richter und sein Henker gehört bei mir zu diesen Büchern. Das ist um so erstaunlicher, als ich eigentlich kein Krimi-Leser bin. Der Krimi ist ein Genre, das ich zwar im Film goutiere, das mir aber im Roman in der Regel zu schematisch, langweilig und eindimensional ist – war, sollte ich besser sagen, denn ich lese schon lange keine Krimis mehr.

Die erneute Lektüre von Der Richter und sein Henker (es ist wohl insgesamt die vierte) hat einen didaktischen Anlass: Schullektüre eines Jüngeren. Ich hatte erwartet, einen erzählerisch etwas angestaubten Roman vorzufinden, und war überrascht, was für ein elegantes, schlankes und durchtrainiertes Büchlein sich mir diesmal gezeigt hat. Sicher ist das eine oder andere nicht ganz gelungen, so etwa die Erzählung der Vorgeschichten von Bärlach und Gastmann im Gespräch, wodurch Gastmann für einen Augenblick unnötig geschwätzig und banal erscheint. Oder auch das Gastmahl für Tschanz, das den Roman beschließt und das unnötig überfrachtet ist mit existenzialistischen und moralisierenden Motiven. Da geht der Dramatiker mit dem Prosaautor durch; aber derlei sind Kleinigkeiten.

Dem steht entgegen, wie einfach und schlicht etwa das politische Unterfutter der Bärlachschen Intrige in den Roman eingeführt wird oder wie hübsch sich die beiden Protagonisten Bärlach und Gastmann ineinander spiegeln und ihre Wette am Ende beide zugleich gewinnen und verlieren. Das alles ist gut ausgedacht und zeichnet ein Bild der Schweizer Gesellschaft Ende der 40er Jahre, wie man es lakonischer und zugleich böser in einem populären Roman wohl lange wird suchen müssen. Ein Buch, das an die Tradition großer Schweizer Erzähler anschließt!

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. detebe 22535. Zürich: Diogenes, 1985 ff. 180 Seiten. 5,90 €.

Andrew Delbanco: Melville

delbanco-melville Der Hanser Verlag ergänzt seine Werkauswahl Herman Melvilles durch die seit langem fehlende, umfangreiche deutschsprachige Biographie des Autors. Man hat sich dabei für eine aktuelle englische Veröffentlichung über Melville entschieden. Andrew Delbanco ist in den USA ein bekannter Publizist und Herausgeber US-amerikanischer Klassiker, im Hauptberuf Professor an der Columbia University. Soweit ich sehe, handelt es sich um die erste Übersetzung eines seiner Bücher ins Deutsche.

Natürlich hätte sich der Melville-Freund gewünscht, dass auch in Deutschland die monumentale, zweibändige Biographie Hershel Parkers die Grundlage für die Beschäftigung mit Melville bilden würde, aber man kann verstehen, dass sich kein Verlag an eine Übersetzung der beinahe 2.000 großformatigen Seiten Parkers heranwagt; dafür ist Melvilles Bedeutung in Deutschland doch zu gering, was sich auch in dem vergleichsweise hohen Preis von Delbancos Buch niederschlägt.

Delbancos Buch trägt im englischen Original den Untertitel »His World and Work«. Damit ist der thematische Rahmen des Buches weit besser abgesteckt als mit der eher unspezifischen Bezeichnung »Biographie«, die die deutsche Ausgabe trägt. Natürlich bildet die Biographie Melvilles das Rückgrat des Buches, aber zumindest gleichgewichtig liefert Delbanco ein breites Panorama der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit zu Lebzeiten Melvilles und eingehende Darstellungen von Melvilles Schriften. Dabei werden die Werke nahezu immer auf die politische und gesellschaftliche Lage rückbezogen, ohne dass dieser Rückbezug in jedem einzelnen Fall zu überzeugen vermag. Sicherlich ist es so, dass man die Pequod aus Melvilles Moby-Dick auch allegorisch als das Staatsschiff USA auffassen kann, nur führt solch ein allegorischer Ansatz nicht sehr weit und bleibt für den Detailreichtum des Textes unfruchtbar. Mir scheint es zudem unwahrscheinlich, dass Delbancos politischer oder wahlweise soziologischer Zugriff auch nur annähernd ein Spiegelbild der zeitgenössischen Rezeption Melvilles ergibt.

Delbanco markiert dieses Ungenügen sogar selbst, wenn es etwa zu Billy Budd einmal heißt, die »Bellipotent war demnach ebenso wie die Pequod ein schwimmendes Symbol für Melvilles Amerika«, und nur wenige Seiten später ergänzt wird: »Der Unterschied zwischen einer ›juristischen‹ und einer ›eigentlichen‹ Betrachtung der Ereignisse ist der Schlüssel zu Billy Budd«, ohne dass diese beiden Zugriffe auch nur versuchsweise miteinander vermittelt würden. Es mag sogar so sein, dass beide Zugriffe in Melvilles Werk genauso unvermittelt nebeneinander stehen, aber auch dies zu zeigen, verfehlt Delbanco.

Wenn einen der oft beliebig scheinende Wechsel zwischen den allzu weiten und dann wieder sehr engen Zugriffen Delbancos nicht stört, bekommt ein informatives und gut geschriebenes Buch, das über die gesellschaftliche Lage in den USA im 19. Jahrhundert beinahe besser informiert als über das Leben Melvilles. Alle wichtigen Werke Melvilles werden ausführlich dargestellt und im Wesentlichen zutreffend charakterisiert. Für die biographischen Details scheint Delbanco weitgehend auf Parker zurückgegriffen zu haben; hier dürfen Kenner keine Neuigkeiten erwarten. Die Übersetzung von Werner Schmitz ist gut, an einigen wenigen Stellen aber etwas oberflächlich geraten, so etwa wenn es heißt:

Danach schrieb er [Melville], weder zur See noch an Land kein Wort mehr in sein Tagebuch. [S. 325]

Hier müsste es natürlich »sowohl … als auch« statt »weder … noch« heißen. Oder wenn auf S. 130 der Schriftsteller Washington Irving zu »Irving Washington« wird, ein Fehler, der lustigerweise bis ins Namensregister des Buches durchschlägt, obwohl Washington Irving ansonsten im Buch ganz richtig benannt ist.

Insgesamt eine sehr zu begrüßende Ergänzung des deutschen Buchmarktes, die endlich eine Alternative zu der hausbackenen und viel zu kurzen Biographie Elizabeth Hardwicks liefert.

Andrew Delbanco: Melville. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. München: Hanser, 2007. Pappband, 470 Seiten. 34,90 €.

Sigrid Damm: Goethes letzte Reise

damm_reiseSigrid Damms neues, nettes und weithin belangloses Lesebuch erzählt in dem weitgehend beliebigen Stil, der für Sigrid Damms Bücher inzwischen typisch geworden ist, Goethes letzte Lebensmonate. Den Rahmen bildet, abgesehen vom letzten Kapitel, das von Goethes Sterben berichtet, die letzte mehrtägige Abwesenheit Goethes von Weimar im August 1831. Um den Weimarer Feierlichkeiten zu seinem 82. Geburtstag zu entgehen, macht sich Goethe mit seinen beiden Enkeln Walther und Wolfgang auf die Reise ins nahegelegene Ilmenau, besucht die Jagdhütte auf dem Kickelhahn noch einmal, macht einige Ausflüge und kehrt am 31. August wieder nach Weimar zurück.

Weiter in den Fliegenden Goethe-Blättern …