Kennen Sie Ibsen? – Nein, wie jeht das?

Ich nahm mir vor, Jesse die Geschichte von Tschechow zu erzählen, der, als er in einem Moskauer Theater Ibsens Stück Nora sah, seinem Freund zuflüsterte: »Aber hör mal, Ibsen ist kein Dramatiker … Ibsen hat keine Ahnung vom Leben. Im Leben geht es völlig anders zu.«

David Gilmour
Unser allerbestes Jahr

David Gilmour: Unser allerbestes Jahr

978-3-10-027819-7Eine ungewöhnliche Vater-Sohn-Geschichte, in lakonischem Ton erzählt. Es handelt sich um eine autobiographische Erzählung eines kanadischen Autors, dessen heranwachsender Sohn sich so sehr mit der Schule quält, dass er ihm anbietet, er müsse nicht mehr dorthin gehen, falls er bereit sei, sich zum Ausgleich pro Woche drei Filme zusammen mit dem Vater anzusehen. Der Vater hat eine Filmhochschule besucht, was verständlich macht, dass er das Anschauen von Filmen für ein alternatives Erziehungsprogramm hält. Das Buch heißt denn auch im Original »The Film Club«, was dem deutschen Verlag wahrscheinlich ein zu männlicher Titel war, weshalb er ihm den nicht nur belanglosen, sondern auch noch sachlich falschen deutschen Titel verpasste: Das Buch beschreibt nämlich drei Jahre dieses Vater-Sohn-Experiments und nicht nur eines.

Abgesehen davon ist das Buch eine nette Unterhaltungslektüre, von deren cineastischer Ebene man allerdings nicht zu viel erwarten sollte. Die Filmauswahl selbst ist gut, wenn auch in weiten Teilen dem Mainstream folgend und nur hier und da für echte Tipps gut. Die Besprechung der Filme durch Vater und Sohn hat ja nach Film recht unterschiedliches Gewicht, doch nichtsdestotrotz bekommt der Junge eine solide Einführung ins kritische Anschauen von Filmen. Und zumindest ich kann niemandem böse sein, der »Ishtar« schätzt. Ansonsten erfahren wir auch viel über die ersten Liebesbeziehungen des Sohnes, bei denen der Vater den Sohn zu stützen versucht, wo er kann; dann auch ein wenig über die erste und zweite Ehe des Vaters (der Sohn stammt aus der ersten Ehe), dessen Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, von Abenteuern auf Kuba und der frühen Gesangskarriere des Sohnes. Alles in allem muss man wohl sagen, dass es sich bei David Gilmour um einen außergewöhnlich coolen Vater handelt.

Ein entspanntes Buch, dessen Hauptforce darin besteht, wenig Aufhebens von sich zu machen. Es wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2010 nominiert.

David Gilmour: Unser allerbeste Jahr. Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2009. Pappband, Lesebändchen, 254 Seiten. 18,95 €.

Viktor Glass: Goethes Hinrichtung

978-3-86789-058-8 Der Titel Goethes Hinrichtung ist etwas reißerisch geraten, denn in keinem Sinne handelt Viktor Glass’ Roman von einer Hinrichtung, die Goethe zugehören würde. Erzählt wird im Gegenteil die  Geschichte der Anna Katharina Höhn, die 1783 wegen der Tötung ihres Neugeborenen in Weimar verurteilt und mit dem Schwert vom Leben zum Tode gebracht wurde. Zuletzt hatte Sigrid Damm in ihrem Buch „Christiane und Goethe“ ein wenig Lamento um Goethes Verwicklung in diesen Fall gemacht, das in einer ebenso naiven wie pathetischen Einschätzung der Position Goethes gipfelte. (Weiter in den Fliegenden Goethe-Blättern …)

Robert Gernhardt: Denken wir uns

978-3-10-025510-5 Posthum erschienener, letzter Erzählband Robert Gernhardts mit 26 Erzählungen, den der Autor angeblich noch selbst zusammengestellt hat. Die Erzählungen beginnen mit der auch den Titel liefernden Phrase »Denken wir uns«, sind ansonsten aber sowohl thematisch als auch qualitativ sehr unterschiedlich. Die Spannbreite reicht vom breitgewalzten Witz über den in eine Erzählung gegossenen essayistischen Einfall, autobiografische oder poetologische Erzählungen bis hin zu eher klassischen Formen.

Der Band zeigt einmal mehr einen routinierten Autor, der sein Handwerk versteht. Oft sind die Erzählungen aber leider deutlich zu lang für die Pointe oder ihnen fehlt überhaupt eine Pointe, wobei der Autor zum Ausgleich mit diesem Mangel kokettiert. Doch wenn man sich an dem disparaten Material und den recht unterschiedlichen Stilebenen nicht stört, lässt sich der eine oder andere interessante Fund machen. Man sollte nur eben keinen geschlossen konzipierten Band erwarten.

Robert Gernhardt: Denken wir uns. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2007. Pappband, 240 Seiten. 18,90 €.

Wilhelm Genazino: Eine Frau, eine Wohnung, …

genazino_frau … ein Roman. Erzählung einer Jugend: Der 17-jährige Ich-Erzähler, der wegen schlechter Leistungen aus dem Gymnasium geflogen ist, beginnt eine Doppelkarriere als kaufmännischer Lehrling und freier Mitarbeiter einer lokalen Tageszeitung. In beiden Branchen bewährt er sich gut und steigt rasch auf; er hat ein sexuelles Abenteuer, trennt sich von seiner langjährigen Freundin Gudrun, der er ausgiebige literarhistorische Vorträge zu halten pflegt, verliebt sich ein wenig in die Journalistin Linda, die aber leider Selbstmord begeht, bevor es zu irgendwelchen Geständnissen kommen kann, erkennt, dass er anders ist als andere Menschen, zieht daheim aus und in ein Appartement ein, entschließt sich, vorerst nicht hauptberuflich Journalist zu werden, und wird derweil ein wenig erwachsen.

Ein erzählerisch recht schlichtes Büchlein, das aufgrund seiner zwar einfachen, aber treffsicheren Sprache durchaus angenehm zu lesen ist. Viele der verarbeiten Motive bleiben zufällig, ebenso wie die ganze Geschichte einen eher beliebigen Eindruck macht. Alles in allem ist mir der Protagonist fremd geblieben, sowohl in seiner intellektuellen als auch in seiner emotionalen Verfasstheit. Aber derlei ist am Ende natürlich eine Frage des Geschmacks.

Wilhelm Genazino: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. dtv 13311. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2005. 160 Seiten. 8,90 €.

Martin Walser: Ein liebender Mann

walser_mannDas Buch ist vortrefflich inszeniert worden: Bereits Monate vor der Veröffentlichung trat Walser in Interviews mit großer Attitüde auf und verkündet, es wieder einmal allen zeigen zu wollen: Jene Ulrike von Levetzow, die die Germanisten zu zeichnen pflegen, sei keinen Schuss Pulvers wert, jedenfalls nicht der Liebe eines Goethe. Er im Gegensatz dazu habe Goethe eine Ulrike gemacht, die sich vor dem Angesicht und der Liebe eines solchen Mannes sehen lassen könne. Als habe sie darauf gewartet; als habe sie das nötig gehabt.

Dann die offizielle Vorstellung des Buches in Weimar, was allein einer unbesehenen Erhebung in den literarischen Adelsstand gleichkommt, und zudem noch der Coup, dass der Bundespräsident der Veranstaltung beiwohnt. Und prompt überschlägt sich das Feuilleton mit Vorschusslorbeeren – Tasso gekrönt und hofiert, bevor auch nur einer eine Zeile des großen Werks gelesen hat; von Tassos Bescheidenheit aber bei Walser keine Spur.

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Enzensberger: Im Irrgarten der Intelligenz

enzensberger-irrgarten Hans Magnus Enzensberger hat es mal wieder witzig gemeint und die Pointe nicht recht rübergebracht. Sein »Idiotenführer«, wie er das Büchlein selbst nennt, versucht eine Kritik der gerade wieder grassierenden Intelligenz-Hysterie, allerdings unterläuft sein Text die Latte einer ernsthaften Auseinandersetzung deutlich. Einzig originell ist sein Ansatz, die Intelligenz als »Tugend« der modernen Gesellschaft anzusprechen; allerdings folgt aus dieser Einordnung schlicht nichts, wie aus den meisten anderen gedanklichen Ansätzen des Bändchens auch. Das Ding ist sicherlich gut gemeint, aber das war es dann auch. Wie Tucholsky so richtig festgestellt hat:

Und wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay.

gould-vermessen Wichtig ist das Büchlein einzig und allein, weil es wieder einmal an ein wirklich bedeutendes Buch zum Thema Intelligenzforschung und -messung erinnert, das aufgrund seines Alters droht, in Vergessenheit zu geraten: Stephen Jay Goulds Der falsch vermessene Mensch. Alles Relevante, was Enzensberger zu sagen hat, steht schon bei Gould, und es steht hier in einem sauberen, wissenschaftlichen Argumentationszusammenhang. Goulds Kritik der Intelligenz-Industrie zeigt stringent, dass völlig unklar ist, was Intelligenztests eigentlich messen bzw. dass das, was sie messen, wahrscheinlich nicht mehr ist, als die Fähigkeit des Geprüften, einen Intelligenztest auszufüllen. Zudem liefert seine Darstellung der mit dem Intelligenzbegriff verknüpften Vorurteile von Vererbung und rassischen Unterschieden, die diese Tests angeblich nachweisen, eine unverzichtbare soziologische Rahmung, die die Karriere des Konzepts Intelligenz erst begreiflich und zugleich inakzeptabel macht. Diesen Zusammenhang ignoriert Enzensberger nahezu komplett – obwohl er Goulds Buch benutzt und anführt –, so dass seine Kritik weitgehend beliebig bleibt.

Hans Magnus Enzensberger: Im Irrgarten der Intelligenz. Ein Idiotenführer. edition suhrkamp 2532. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2007. 59 Seiten. 7,– €.

Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 583. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988. 394 Seiten. 15,– €.

Sigrid Damm: Goethes letzte Reise

damm_reiseSigrid Damms neues, nettes und weithin belangloses Lesebuch erzählt in dem weitgehend beliebigen Stil, der für Sigrid Damms Bücher inzwischen typisch geworden ist, Goethes letzte Lebensmonate. Den Rahmen bildet, abgesehen vom letzten Kapitel, das von Goethes Sterben berichtet, die letzte mehrtägige Abwesenheit Goethes von Weimar im August 1831. Um den Weimarer Feierlichkeiten zu seinem 82. Geburtstag zu entgehen, macht sich Goethe mit seinen beiden Enkeln Walther und Wolfgang auf die Reise ins nahegelegene Ilmenau, besucht die Jagdhütte auf dem Kickelhahn noch einmal, macht einige Ausflüge und kehrt am 31. August wieder nach Weimar zurück.

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Wolfgang Frühwald: Goethes Hochzeit

fruehwald Wolfgang Frühwald hat in der Insel Bücherei ein kleines Bändchen vorgelegt, dass sich um den Lebenskomplex Goethes zur Zeit seiner Hochzeit im Oktober 1806 dreht. Unmittelbar vorausgegangen war die Niederlage des preußischen Heeres bei Auerstedt und das Eindringen der marodierenden französischen Soldaten in Weimar. Dabei soll es, nach Darstellung der Zeitgenossen, zu einer kritischen Situation im Hause Goethes gekommen sein, die angeblich durch das todesmutige Dazwischentreten Christianes entschärft worden sein soll. Die Lage im Hause Goethe entspannte sich rasch, als sich hohe französische Offiziere einquartierten und damit weiteren Übergriffen ein Riegel vorgeschoben wurde.

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