„Deutsche Geschichte“

Der handliche Band liefert auf knapp 300 Seiten ein Gerüst zur deutschen Geschichte vom 2. vorchristlichen Jahrhundert bis heran an die Gegenwart. Das Buch ist im Originalverlag unter dem Reihentitel „Allgemeinbildung Kompakt“ erschienen, was eine recht gute Vorstellung davon vermittelt, was der Band liefert. Die Behandlung von mehr als 2.000 Jahren in dieser knappen Form (wobei zu betonen ist, dass der Zeit nach 1815 mehr als die Hälfte des Umfangs gewidmet ist) zwingt die Autoren dazu, sich auf das wesentlichste Geschehen und die grundlegendsten Zusammenhänge zu konzentrieren. Je näher der Leser der Gegenwart kommt, desto schmerzlicher wird bewusst, wie notwendig unzureichend die Darstellung bleiben muss.

Andererseits liefert das Buch mehr oder weniger jene Informationen, die ein Abiturient idealerweise aus dem Geschichtsunterricht mit in sein Bildungsleben nehmen sollte. Es ist gut geeignet, um sich einen raschen, aber dennoch soliden Überblick über eine Zeit und ihre wesentlichen geschichtlichen Eckpunkte zu verschaffen. Die Kapitel lesen sich gut, da sie nicht aus einer blanken Auflistung von Daten, Personen und Orten bestehen, sondern in kurzen, erzählenden Absätzen eine rudimentäre, aber dennoch zusammenhängende Geschichtserzählung liefern.

Der Band ist – wie immer nur für kurze Zeit – bei der Bundeszentrale für politische Bildung für den einer Schutzgebühr gleichkommenden Preis von 1,50 € erhältlich. Für diesen Preis sollte er auf keinem Schreibtisch fehlen.

Alexander Emmerich / Kay Peter Jankrift / Bernd Kockerols / Wolfdietrich Müller: Deutsche Geschichte. Menschen, Ereignisse, Epochen. Lizenzausgabe. Schriftenreihe der bpb, Bd. 10023. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2017. Broschur, 296 Seiten. 1,50 €.

Ian Kershaw: To Hell and Back

Churchill had proposed shooting major criminals as soon as they were caught. Stalin preferred them to be tried first and then shot.

Dass Ian Kershaw einer der hervorragenden Historiker des Zweiten Weltkriegs ist, wurde hier an andere Stelle schon einmal festgestellt. Dem breiteren Publikum ist er durch seine Hitler-Biographie (1998/2000) bekannt geworden; seitdem liefert er mit schöner Re­gel­mä­ßig­keit umfangreiche Bücher zum Zweiten Weltkrieg. Der vorliegende Band behandelt die Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (genauer 1914–1949). Es handelt sich um den ursprünglich als Abschluss geplanten 8. Band von Penguins History of Europe, der ursprünglich das gesamte 20. Jahrhundert umfassen sollte. Kershaw hat sich dann aber zwei Bände für den Zeitraum ausgebeten, so dass eine Fortsetzung bis an die Gegenwart heran noch aussteht.

Auch Kershaw folgt dem Konzept des sogenannten kurzen 20. Jahrhunderts (das, wenn ich es richtig sehe, von Eric Hobsbawm populär gemacht wurde), zumindest was den Beginn seiner Darstellung angeht. Es besteht derzeit ein weitgehender Konsens, dass mit dem Ersten Weltkrieg ein radikaler Umbruch stattfand, der so zahlreiche gesellschaftliche und kulturelle Konventionen des 19. Jahrhunderts in Frage stellte, dass mit ihm eine neue Epoche begann. Die Wahl für das Jahr 1949 als Abschluss des ersten Bandes ist darin begründet, dass Kershaw damit die Nachwehen sowie die politischen und sozialen Folgen des Zweiten Weltkrieges noch in den Band aufnehmen kann. So schließt der Band mit den Entwicklungen, die zum Wiederaufstieg Deutschlands im Westen und der Entstehung des Kalten Krieges führen.

Bei aller Kürze (der Band behandelt 35 Jahre der Geschichte aller europäischer Nationen inklusive Russlands bzw. der Sowjetunion auf 520 Seiten) ist die Darstellung ausgezeichnet gewichtet und umfasst nicht nur die großen Linien der politischen und militärischen Ereignisse, sondern auch soziale und kulturelle Entwicklungen. So ist das Buch wohl auch für diejenigen mit Gewinn zu lesen, die bereits über gute Kenntnisse der Geschichte des 20. Jahrhunderts verfügen; ich habe etwa die Beschreibung der politischen Rolle der katholischen Kirche in dieser Präzision und Kürze bislang nirgendwo anders gefunden.

Kershaw gelingt einmal mehr eine gut strukturierte und exakte Analyse des komplexen historischen Materials ohne Zuhilfenahme eines groben ideologischen Schemas. Aufgrund von Kershaws klarem Stil ist das Buch sowohl als anspruchsvolle Einführung für historische Laien als auch als auffrischender Überblick für Kenner der Materie zu empfehlen. Man darf auf den zweiten Teil des Buches gespannt sein.

Ian Kershaw: To Hell and Back. Europe, 1914–1949. London: Allen Lane, 2015. Kindle-Edition, 574 Seiten. 10,99 €.

Zur Besprechung des zweiten Bandes Roller-Coaster

Elizabeth Kolbert: The Sixth Extinction

Though it might be nice to imagine there once was a time when man lived in harmony with nature, it’s not clear that he ever realy did.

Ein verbreitetes paläontologisches Modell geht davon aus, dass es im Laufe der Geschichte des Lebens auf der Erde fünf Zeiten des großen Artensterbens gegeben hat, die jeweils die Voraussetzung für eine neue Richtung der evolutionären Entwicklung bildeten. Es gibt guten Gründe dafür anzunehmen, dass wir alle in der sechsten dieser Perioden leben und dass der Mensch eine der wesentlichen Ursachen für das beschleunigte Verschwinden von Tierarten auf dem gesamten Planeten darstellt.

Dieses sechste Sterben (wie der deutsche Titel des Buches lautet) stellt Elizabeth Kolbert in groben Zügen dar; ergänzt werden die eher unsystematischen Erzählungen vom Artensterben hier und da und dann und wann von einer wissenschaftshistorischen Darstellung, wie das Konzept des Aussterbens überhaupt entwickelt wurde und sich durchsetzen konnte, da natürlich in der vollkommenen Schöpfung eines Gottes für den Gedanken daran, dass ganze Arten von Tieren ausgestorben seien, nur wenig Raum war. Inzwischen ist nicht nur das Konzept des Artensterbens jedem Kind geläufig, sondern man kann sich der Autorin ohne Probleme darin anschließen, dass das derzeitige Artensterben wahrscheinlich die dauerhafteste Auswirkung der Existenz der Menschheit auf den ihn umgebenden Kosmos darstellt.

Wenn man Kolberts journalistischen Ton und ihr zeitweiliges Abschweifen in Erlebnisaufsatz-Prosa einmal als populäre Elemente ihres Stils akzeptiert, so kann man dem Buch wohl nur vorhalten, dass es sich bei der von ihm gestellten Frage nach der Stellung des Menschen innerhalb oder außerhalb der Natur nicht entscheiden kann: Einerseits möchte die Autorin das vom Menschen verursachte Artensterben als eine moralisch verwerfliche und daher möglichst rasch zu unterbindende Handlung verurteilen, andererseits möchte sie evolutionär argumentieren und aus dieser Sicht ist der Mensch eine Art wie alle anderen Arten und sein zerstörerisches Verhalten eben das, was er tut. Ein Virus, der Wirtstiere tötet, ist moralisch vollständig neutral zu betrachten; er ist weder gut noch böse, sondern Teil eines natürlichen Prozesses, der selbst ohne Ziel oder Zweck abläuft. Es ist aus evolutionärer Sicht nicht gut einzusehen, warum der Mensch eine andere Position ein nehmen sollte. Jede Unterscheidung zwischen Natur und Zivilisation, zwischen menschlichem und natürlichem Verhalten etc. wird angesichts des blinden Prozesses der Evolution scheitern. Was immer die Menschen tun – von der Ausrottung der anderen Menschenarten auf diesem Planeten bis zur systematischen Vernichtung von Lebensraum und Artgenossen – muss aus der Sicht der Natur als sein artspezifisches Verhalten angesehen werden und ist, aus der neutralen Perspektive einer Paläontologie der Menschheit, nur eine Katastrophe mehr, die das Leben auf diesem Planeten überstehen wird.

Das Auftauchen und letztendliche Verschwinden der Menschheit ist nichts anderes als der Meteoriteneinschlag, der die Dinosaurier hat verschwinden lassen: eine Naturkatastrophe, der einige Arten zum Opfer fallen werden, die aber der Entwicklung des Lebens auf diesem Planeten wahrscheinlich nur eine neue Richtung geben wird. In einer oder zwei Millionen Jahren wird hoffentlich von uns keine Rede mehr sein. Manche mögen das bedauerlich finden, aber das tun einige Kinder auch mit Blick auf die Dinosaurier.

Elizabeth Kolbert: The Sixth Extinction. An Unnatural History. London u.a.: Bloomsbury, 2014. Kindle-Edition, 336 Seiten (Druckversion). 4,81 €.

Jahresrückblick 2016

Auch für das vergangene Jahr die Höhen und Tiefen der Lektüre in einem kurzen Überblick, wobei ich vorausschicken möchte, dass ich in diesem Jahr keine wirklich durch und durch schlechten Bücher in die Hand bekommen habe. Viel Lesezeit des Jahres war Shakespeare und Jane Austen gewidmet, wobei ich es albern fände, „König Richard III.“ oder „Stolz und Vorurteil“ unter den besten Lektüren aufzulisten. Die beiden laufen daher außer Konkurrenz.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2016:

  1. Giorgio Agamben: Homo sacer – wahrscheinlich die anregendste philosophisch-politische Lektüre seit vielen Jahren! Unbedingt lesenswert.
  2. John Dos Passos: Manhattan Transfer – eine seit langem fehlende Neuübersetzung, die das Buch zum ersten Mal auf Deutsch erkennbar macht.
  3. Virginia Woolf: Orlando – auch in diesem Fall erschließt eine Neu­über­set­zung den Text in seiner sehr feinen formalen und sprachlichen Ge­ar­bei­tet­heit.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2016:

  1. William Shakespeare: Die Fremden – eine vollständig überflüssige Veröffentlichung, die versucht, aus der Solidarität der Deutschen mit den Flüchtlingen des Jahres 2016 Kapital zu schlagen.
  2. Michael Krüger: Das Irrenhaus – ein Buch wie aus dem Labor eines Creativ-Writing-Seminars: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.
  3. Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun – ein Roman, der sich mir überhaupt nicht erschlossen hat. Als historisches Phänomen verständlich, als Romanprojekt zumindest mit komplett unzugänglich.

Allen Lesern ins Stammbuch (92)

Probater Rat für Schriftsteller

Man schreibt seine eigenen Betrachtungen nachlässig hin, man läßt sie drucken, bei den verschiedenen Korrekturen werden einem dann nach und nach eine Menge guter Einfälle kommen. Faßt darum Mut, ihr, die ihr euch noch nicht erkühnt habt, etwas drucken zu lassen, auch Druckfehler sind nicht zu verachten, und mit Hilfe von Druckfehlern witzig zu werden, darf als eine rechtschaffene Art gelten, wie man es wird.

Sören Kierkegaard
Entweder-Oder

Michael Krüger: Das Irrenhaus

Und Georg Faust? Ich wünschte ihn zum Teufel.

krueger-irrenhausEin Roman wie aus dem Labor des letzten Creative-Writing-Seminars: Der untätige Protagonist (Gontscharow), das Mietshaus als Kleine Welt (Zola, Perec), Identitätsspaltung (Krausser) und schlechtgelauntes Gemaule über dies und das in der rezenten Welt (Bernhard). Wäre der Autor nicht ein 73-jähriger ehemaliger Verleger, könnte man einen belesenen Jung-Autor hinter dem Text vermuten. Entsprechend unerheblich ist das ganze geraten: Der Leser mag sich amüsieren, er wird das ganze aber ebenso schnell wieder vergessen, wie er es gelesen hat.

Erzählt wird die Geschichte vom Schriftsteller Georg Faust (o, wie so anspielungsreich!), der überschnappt und sich für den Besitzer des Hauses hält, in dem er wohnt und in das er sich gerade eingezogen wähnt. Faust schreibt Naturlyrik, hat das eine oder andere Techtelmechtel mit seinen Nachbarinnen und ahnt je länger der Text sich abspult um so mehr, dass er eigentlich doch nicht der Hausbesitzer, sondern ein Deutscher Schriftsteller ist. Am Ende verschwindet er in die Unerheblichkeit aus der er erstanden ist.

Krüger schreibt ein etwas gestelztes und mit seltsamen Wörtern (Sonderübertragungen von Pokal- oder Europacup-Spielen, Handtelefonnummer) angereichertes Deutsch und scheint über die Gepflogenheiten in Deutschland nur mehr unzureichend informiert zu sein (Lehrer haben im Sommer nicht vier Wochen Ferien). Vielleicht ist das Buch sogar als Parodie gemeint, ist dann aber vom parodierten Genre nicht ausreichend abgehoben. Alles in allem ein Buch, wie man sie zu jeder Zeit in beliebiger Menge finden kann. Als Verleger hätte Krüger das Dinx wohl kaum zum Druck befördert.

Michael Krüger: Das Irrenhaus. Innsbruck: Haymon, 2016. Kindle-eBook, 192 Seiten (Druckversion). 14,99 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (87)

Eine ganze Horde von Beobachtern ist in alle Lebensgebiete eingebrochen und jeder weiß in jedem Bescheid. Die alten Phrasen sind abgetan. Aber ihr Inhalt war länger lebendig und mußte ehrlicher erworben sein als der der neuen. Dagegen sind die neuen viel handlicher und ermöglichen es jedem ohne Unterschied der Begabung und der Konfession, Literatur zu treiben. Vor einer Sache, über die man nichts sagen konnte, war man ehedem verloren. Jetzt gehts; was man nicht deklinieren kann, das sieht man als »merkwürdig« an.

Karl Kraus

Reiner Stach: Ist das Kafka?

Stach-Ist-das-KafkaReiner Stach, der gerade seine gr0ße Kafka-Biographie mit dem dritten Band abgeschlossen hat, liefert mit „Ist das Kafka?“ ein Seitenstück, in dem Kafkas Person und Leben anhand von 99 Fundstücken anekdotisch dargestellt werden. Biographisch umfassen die im Großen und Ganzen chronologisch angeordneten, kurzen Kapitel die Zeit von Kafkas Schulzeit bis zu seinem Tod. Dabei legt Stach ein besonderes Augenmerk darauf, weit verbreiteteten Vorurteilen über Kafka und sein Leben entgegenzutreten. Daher erfährt man einiges über das Sexualleben des jungen Franz, aber auch über Familie, Freunde und Bekannte, seine Berufstätigkeit und nicht zuletzt auch sein Leben als Schriftsteller.

Die Fundstücke bestehen aus Texten Kafkas, sowohl aus dem zu Lebzeiten veröffentlichten Werk als auch aus dem Nachlass, Briefen und Tagebucheinträgen, Erinnerungen von Freuden und Bekannten sowie Fotos. Nahezu alle Kapitel sind mit einem erläuternden Kommentar Stachs versehen, doch stellt sich nirgendwo der Eindruck ein, dass Stach die jeweilige Quelle überschreibt, sondern er liefert nur den jeweiligen Kontext und gibt sparsame Hinweise zum Verständnis.

Ergänzt werden die Fundstücke im Anhang durch ausführliche biographische Notizen zu den Autoren der Quellen; daneben findet sich ein tabellarischer Lebenslauf Kafkas, der den großen Zusammenhang herstellt, den ein mit Kafkas Biographie eher unvertrauter Leser beim Durchgang durch die Fundstücke durchaus vermissen könnte.

Ein guter Einstieg in die Beschäftigung mit Kafka und eine praktische Vorschule zur großen Kafka-Biographie Stachs, sowohl für Kafka-Anfänger als auch für jene geeignet, die sich schon intensiver mit Kafka auseinandergesetzt haben.

Reiner Stach: Ist das Kafka? 99 Fundstücke. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2012. Kindle-Edition, 336 Seiten (gedruckte Ausgabe). 9,99 €,

Aus gegebenem Anlass (XIII)

Reklamefahrten zur Hölle

In meiner Hand ist ein Dokument, das, alle Schande dieses Zeitalters überflügelnd und besiegelnd, allein hinreichen würde, dem Valutenbrei, der sich Menschheit nennt, einen Ehrenplatz auf einem kosmischen Schindanger anzuweisen. Hat noch jeder Ausschnitt aus der Zeitung einen Einschnitt in die Schöpfung bedeutet, so steht man diesmal vor der toten Gewißheit, daß einem Geschlecht, dem solches zugemutet werden konnte, kein edleres Gut mehr verletzt werden kann. Nach dem ungeheuren Zusammenbruch ihrer Kulturlüge und nachdem die Völker durch ihre Taten schlagend bewiesen haben, daß ihre Beziehung zu allem, was je des Geistes war, eine der schamlosesten Gaukeleien ist, vielleicht gut genug zur Hebung des Fremdenverkehrs, aber niemals ausreichend zur Hebung des sittlichen Niveaus dieser Menschheit, ist ihr nichts geblieben als die hüllenlose Wahrheit ihres Zustands, so daß sie fast auf dem Punkt angelangt ist, nicht mehr lügen zu können, und in keinem Abbild vermöchte sie sich so geradezu zu erkennen wie in diesem:

Kraus_Annonce

Aber was bedeutet wieder jenes Gesamtbild von Grauen und Schrecken, das ein Tag in Verdun offenbart, was bedeutet der schauerlichste Schauplatz des blutigen Deliriums, durch das sich die Völker für nichts und wieder nichts jagen ließen, gegen die Sehenswürdigkeit dieser Annonce! Ist hier die Mission der Presse, zuerst die Menschheit und nachher die Überlebenden auf die Schlachtfelder zu führen, nicht in einer vorbildlichen Art vollendet?
Sie erhalten am Morgen Ihre Zeitung.
Sie lesen, wie bequem Ihnen das Überleben gemacht wird.
Sie erfahren, daß 1½ Millionen eben dort verbluten mußten, wo Wein und Kaffee und alles andere inbegriffen ist.
Sie haben vor jenen Märtyrern und jenen Toten entschieden den Vorzug einer erstklassigen Verpflegung in der Ville-Martyre und am Ravin de la Mort.
Sie fahren im bequemen Personen-Auto aufs Schlachtfeld, während jene nur im Viehwagen dahingelangt sind.
Sie hören, was Ihnen da alles zur Entschädigung für die Leiden jener geboten wird und für ein Erlebnis, wovon Sie bis heute Zweck, Sinn und Ursache nicht zu erkennen vermochten.
Sie begreifen, daß es veranstaltet wurde, damit einmal, wenn von der Glorie nichts geblieben ist als die Pleite, wenigstens ein Schlachtfeld par excellence vorhanden sei.
Sie erfahren, daß es doch etwas Neues an der Front gibt und daß es sich heut dort besser leben läßt als ehedem im Hinterland.
Sie erkennen, daß das, was die Konkurrenz bieten kann, die bloß über die Toten der Argonnen- und Somme-Schlachten, über die Beinhäuser von Reims und St. Mihiel verfügt, eine Bagatelle ist neben der erstklassigen Darbietung der Basler Nachrichten, denen es unzweifelhaft gelingen wird, mit den Verlusten von Verdun ihre Abonnentenliste aufzufüllen.
Sie verstehen, daß das Ziel die Reklamefahrt und diese den Weltkrieg gelohnt hat.
Sie erhalten, und wenn Rußland verhungert, ein reichliches Frühstück, sobald Sie sich entschließen, dazu auch noch die Schlachtfelder von 1870/71 mitzunehmen, es geht in Einem.
Sie haben nach dem Mittagessen noch Zeit, die Einlieferung der Überreste der nicht agnoszierten Gefallenen mitzumachen, und nach Absolvierung dieser Programmnummer noch Lust zum Nachtessen.
Sie erfahren, daß die Staaten, deren Opfer Sie in Krieg und Frieden sind, Ihnen sogar, und das will viel heißen, die Paßformalitäten ersparen, wenn die Reise aufs Schlachtfeld geht und Sie sich nur rechtzeitig bei der Zeitung ein Ticket besorgen.
Sie erkennen, daß diese Staaten Strafparagraphen haben, welche das Leben und sogar die Ehre von Preßpiraten ausdrücklich schützen, die aus dem Tod einen Spott und aus der Katastrophe ein Geschäft machen und den Abstecher zur Hölle als Herbstfahrt besonders empfehlen.
Sie werden Mühe haben, diese Paragraphen nicht zu übertreten, aber dann den Basler Nachrichten ein Anerkennungs- und Dankschreiben schicken.
Sie bekommen unvergeßliche Eindrücke von einer Welt, in der es keinen Quadratzentimeter Oberfläche gibt, der nicht von Granaten und Inseraten durchwühlt wäre.
Und wenn Sie dann noch nicht erkannt haben, daß Sie durch Ihre Geburt in eine Mördergrube geraten sind und daß eine Menschheit, die noch das Blut schändet, das sie vergossen hat, durch und durch aus Schufterei zusammengesetzt ist und daß es vor ihr kein Entrinnen gibt und gegen sie keine Hilfe – dann hol‘ Sie der Teufel nach einem Schlachtfeld par excellence!

Karl Kraus
Die Fackel, Nr. 577-582 (Nov. 1921)

Drei Propheten

Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, [/] Doch ihre Weine trinkt er gern.

Goethe

Klages-MenschEs ist nicht wirklich verwunderlich, dass es noch Menschen gibt, die den Wirrkopf Ludwig Klages lesen. Klages ist durch seine – na, Nähe zum wäre ein Euphemismus; sagen wir also: Verwickelung mit dem Nationalsozialismus in Misskredit geraten, dem er nur deshalb nicht komplett in die Fänge gegangen ist, weil Alfred Rosenberg in ihm eine ernstzunehmende Konkurrenz sah und ihn verbellt hat. Alles in allem ist Klages Position heute undiskutabel geworden: zuviel Mythengeraune, Völkisches, Rassistisches schwebt da allenthalben umeinander, als dass man ihn noch einmal auszugraben versuchen könnte.

Verwunderlich ist bei dieser Lage der Dinge aber, dass sein Vortrag „Mensch und Erde“ von 1913 regelmäßig wieder aufgelegt und offenbar auch gelesen wird. Das Jubiläumsjahr 2013 sieht diesmal sein Wiedererscheinen bei Matthes & Seitz, die so unverdächtig des falschen Gedankenguts sind, dass sie sich auch leisten können, wirre, rechte Rassisten zu drucken. Mit diesem Vortrag, den er bei einer jugendbewegten Gedenkfeier zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig gehalten hat, ist Klages zu einem der frühen Propheten der ökologischen Bewegung geworden. Zumindest wenn man den Text nur kursorisch liest, klagt Klages die wissenschaftliche Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Zerstörung der Arten und Lebensräume an. Vieles von dem, was er an Beispielen anführt, ist zwar eher der westlichen Luxus- und Massengesellschaft anzulasten als konkret dem Projekt der Durchtechnisierung  der Welt, aber da Klages ebenso den Verfall der Kultur, die Vernichtung der Naturvölker und Vertreibung der Wölfe aus Europa bedauert, kommt es so genau nicht darauf an. Wichtig sind nur zwei Dinge: Die Welt ist in einem üblen Zustand und Rettung wird kommen in einem mythischen Endkampf, in dem die Gerechten am Ende durch mindestens ein Wunder den Sieg davontragen.

Was sich in der Wiederauflage des Büchleins – und in dem hier und da affirmativen Zitieren Klages’ – allerdings deutlicher zeigt als in Klages Vortrag selbst, ist die fortschreitende Fragmentierung – fast hätte ich Eklektizismus geschrieben, aber das hieße das Brouhaha unserer Zeit schon überschätzen – unserer Kultur, also das, was in aller Hilflosigkeit Postmoderne genannt wird – Epigonentum am Epigonentum, wenn es je eines gegeben hat. Wer Klages war, was er tatsächlich gemeint haben könnte, all das ist völlig gleichgültig. Da er ein paar undeutliche Phrasen und Zusammenhänge zur Verfügung stellt, die irgendwie in unseren Kram passen, zitieren wir ihn fröhlich und kümmern uns einen Dreck um den Rest. Den kennt ja ohnehin keiner.

Ludwig Klages: Mensch und Erde – ein Denkanstoß. Berlin: Matthes & Seitz, 2013. Broschur, 62 Seiten (wovon der Vortrag selbst 30 Seiten umfasst). 10,– €.

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Emmott-Zehn-MilliardenGanz in dieselbe Kerbe, wenn auch mit einem anderen Beil, schlägt Stephen Emmotts Traktat „Zehn Milliarden“. Auch er beschwört den nahenden Untergang der Menschheit innerhalb des laufenden Jahrhunderts. Emmotts, der es für nötig hält zu betonen, dass er Wissenschaftler sei (S. 15), malt ein schwarzes Bild von einer Zukunft, in der nicht nur 10 Milliarden Menschen den Planeten bevölkern und ihn damit durch die Produktion von Lebensmitteln, den übermäßigen Verbrauch von Wasser und die Produktion von Abfall notwendig zerrütten, sondern er bezweifelt auch, dass noch ein gangbarer Weg existiert, den katastrophalen Untergang der menschlichen Spezies an den Folgen ihrer eigenen Existenz zu verhindern. Darin ist ihm zuzustimmen. So wird es kommen, und je eher je besser.

Doch leider kann seiner optimistischen Einschätzung vom Untergang der Menschheit nicht zugestimmt werden, da sich die Spezies, auch wenn sie etwas anderes glaubt, auch weiterhin als Teil eines natürlichen Systems darstellt, das sich erlauben wird, sie auf das Maß zusammenzustutzen, das bedauerlicherweise ihre weitere Existenz, unter welchen Bedingungen dann auch immer, ermöglichen wird. Aber davon haben andere anderswo ausreichend ausführlich geschrieben.

Die ironische Pointe an dem Büchlein von Emmott ist jedoch, dass auch sein Inhalt deutlich zu kurz ist, um allein eine für den Buchmarkt geeignete Verkaufseinheit zu bilden. Während Matthes & Seitz sich die Mühe macht, dem Klages ein etwa gleich langes Nachwort anzuhängen, greift Suhrkamp zu einem schon andernorts erprobten Mittel: Man nimmt einfach den PowerPoint-Vortrag des Autors und druckt ihn 1:1 ab; so geraten auf viele Seiten nur ein oder zwei Sätze, die dort einen ganz wundervoll einprägsamen Eindruck machen. Damit gelingt es Suhrkamp, das Textlein auf stattliche 200 Seiten auszuwalzen. Das ist natürlich eine grandiose Idee bei einem Buch, dessen Kern die Kritik der Verschwendung von natürlichen Ressourcen bildet. (Wer mag, kann sich auf der Seite des Suhrkamp Verlages mittels einer Leseprobe einen Eindruck von diesem Meisterwerk des Buchdrucks verschaffen.)

Stephen Emmott: Zehn Milliarden. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Berlin: Suhrkamp, 2013. Bedruckter Pappband, 206 Seiten. 14,95 €.

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Ein Kubikkilometer genügt

Ein Mathematiker hat behauptet,
daß es allmählich an der Zeit sei,
eine stabile Kiste zu bauen,
die tausend Meter lang, hoch und breit sei.

In diesem einen Kubikkilometer
hätten, schrieb er im wichtigsten Satz,
sämtliche heute lebenden Menschen
(das sind zirka zwei Milliarden!) Platz!

Man könnte also die ganze Menschheit
in eine Kiste steigen heißen
und diese, vielleicht in den Kordilleren,
in einen der tiefsten Abgründe schmeißen.

Da lägen wir dann, fast unbemerkbar,
als würfelförmiges Paket.
Und Gras könnte über die Menschheit wachsen.
Und Sand würde daraufgeweht.

Kreischend zögen die Geier Kreise.
Die riesigen Städte stünden leer.
Die Menschheit läge in den Kordilleren.
Das wüßte dann aber keiner mehr.

Erich Kästner
Gesang zwischen den Stühlen (1932)