Kleist → Kehlmann → Goldt → Kraus

Der Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Prof. Dr. Günter Blamberger (Köln), teilt in einem Rundschreiben »u. a.« mit:

Die Kleist-Jury hat Daniel Kehlmann als Vertrauensperson für den Kleist-Preis 2008 bestimmt und dieser hat als Preisträger Max Goldt ausgewählt, einen Prosakünstler, den Sie vor allem als Kolumnist der ‚Titanic‘ kennen, als einen, der in den letzten 20 Jahren den deutschen Alltag zur Kenntlichkeit entstellt hat – in Witz, Scharfsinn, ästhetischem Urteilsvermögen dem großen Sprachkritiker Karl Kraus vergleichbar.

Nun ist ja manches vergleichbar, aber Goldt und Kraus?

Vor solchem Helden hat es mir gegraut,
da wagt’ ich höchstens diese wenigen Verse:
Er gleicht dem Siegfried durch die dicke Haut
und dem Achilles durch die Ferse.

Aus dem Verein sollte ich wohl auch besser wieder austreten.

May und Kafka

Der Bamberger Verleger Lothar Schmid, der seit 1951 mitverantwortlich für die gleichzeitige Glorifikation und Verhunzung des Schreiberlings Karl May und seiner sogenannten Werke ist, versucht den Freistaat Sachsen dazu zu bringen, den Nachlass seines Zugesels für die Summe von 15 Millionen Euro zu kaufen. Dort scheint man allerdings realistischere Vorstellungen vom »Wert« eines solchen Überbleibsels zu haben und bietet – gnädig genug – für den Haufen Unsinn immerhin noch 3,5 Millionen Euro an. Lothar Schmid jault deshalb. Immerhin, so sagt er in einem Interview mit Eckart Baier für das Börsenblatt des deutschen Buchhandels (Heft 16-2008, S. 17), hätten »Nachlassteile [sic!] eines anderen berühmten Autors, Franz Kafka, den siebenfachen Preis erzielt«. Etwas erstaunt fragt Baier nach:

Ist es denn legitim, Karl May mit Franz Kafka zu vergleichen?
Schmid: Selbstverständlich. Beide sind auf ihre Art geniale und wichtige Schriftsteller.

Wohlgemerkt: »auf ihre Art«!

Miniaturen (5)

»Wie fangen wir sie?« »Mit einem neuen Schnepfengarn aus guten starken Hanfschnüren; geflochten muß es sein von einem zwanzigjährigen Jägerssohn, der noch kein Weib angesehen hat, und es muß schon dreimal der Nachttau darauf gefallen sein, ohne daß sich eine Schnepfe gefangen; der Grund aber hiervon muß dreimal eine gute Handlung sein. Ein solches Netz ist stark genug, die Hexe zu fangen.«»Nun bin ich neugierig, wo Ihr ein solches hernehmt«, sagte Spiegel, »denn ich weiß, daß Ihr keine vergeblichen Worte schwatzt!«

»Es ist auch schon gefunden, wie für uns gemacht; in einem Walde nicht weit von hier sitzt ein zwanzigjähriger Jägerssohn, welcher noch kein Weib angesehen hat; denn er ist blind geboren. Deswegen ist er auch zu Nichts zu gebrauchen als zum Garnflechten und hat vor einigen Tagen ein neues, sehr schönes Schnepfengarn zu Stande gebracht. Aber als der alte Jäger es zum ersten Male ausspannen wollte, kam ein Weib daher, welches ihn zur Sünde verlocken wollte; es war aber so häßlich, daß der alte Mann voll Schreckens davonlief und das Garn am Boden liegen ließ. Darum ist ein Tau darauf gefallen, ohne daß sich eine Schnepfe fing, und war also eine gute Handlung daran Schuld. Als er des andern Tages hinging, um das Garn abermals auszuspannen, kam eben ein Reiter daher, welcher einen schweren Mantelsack hinter sich hatte; in diesem war ein Loch, aus welchem von Zeit zu Zeit ein Goldstück auf die Erde fiel. Da ließ der Jäger das Garn abermals liegen und lief eifrig hinter dem Reiter her und sammelte die Goldstücke in seinen Hut, bis der Reiter sich umkehrte, es sah und voll Grimm seine Lanze auf ihn richtete. Da bückte der Jäger sich erschrocken, reichte ihm den Hut dar und sagte: Erlaubt, gnädiger Herr, Ihr habt hier viel Gold verloren, das ich Euch sorgfältig aufgelesen! Dies war wiederum eine gute Handlung, indem das ehrliche Finden eine der schwierigsten und besten ist; er war aber so weit von dem Schnepfengarn entfernt, daß er es die zweite Nacht im Walde liegen ließ und den nähern Weg nach Hause ging. Am dritten Tag endlich, nämlich gestern, als er eben wieder auf dem Wege war, traf er eine hübsche Gevattersfrau an, die dem Alten um den Bart zu gehen pflegte und der er schon manches Häslein geschenkt hat. Darüber vergaß er die Schnepfen gänzlich und sagte am Morgen: Ich habe den armen Schnepflein das Leben geschenkt; auch gegen Tiere muß man barmherzig sein! Und um dieser drei guten Handlungen willen fand er, daß er jetzt zu gut sei für diese Welt, und ist heute Vormittag bei Zeiten in ein Kloster gegangen. So liegt das Garn noch ungebraucht im Walde und ich darf es nur holen.«

Gottfried Keller
Spiegel, das Kätzchen

Beinahe der komplette Kraus

Kraus_FackelKarl Kraus ist am 12. Juni 1936 in Wien an den Folgen einer Embolie gestorben; ihm ist dadurch erspart geblieben, die Erfüllung seiner schlimmsten Befürchtungen miterleben zu müssen. Am 1. Januar 2007, 70 Jahre nach dem Tod des Autors, sind seine Schriften gemeinfrei geworden. Dies wurde dazu genutzt, die beiden großen Sammlungen Krausscher Schriften in elektronischer Form erneut zu publizieren.

Zum Werk von Karl Kraus gibt es im wesentlichen diese beiden Zugänge: Entweder man kann sich durch einzelne Jahrgänge der »Fackel« arbeiten oder man nimmt die Werkausgabe Christian Wagenknechts zu Hand, die das Werk hauptsächlich entlang der von Kraus selbst zusammengestellten und herausgegebenen Bücher erschließt. Beide liegen nun auch in elektronischer Form vor: »Die Fackel« bei Zweitausendeins, die viele Jahre lang auch die gedruckte Ausgabe verlegt haben, als Sonderband der Digitalen Bibliothek, die »Schriften« in der Hauptreihe der Digitalen Bibliothek als Bd. 156.

kraus_schriftenBeide Ausgaben werden wohl kaum die gedruckten Fassungen ersetzen, bei der »Fackel« noch eher als bei den »Schriften«, bei der sich manch einer wohl überlegen wird, ob er die 70 cm Regalbrett nicht doch für etwas anderes verwenden kann. Beide Ausgaben haben aber natürlich vor den gedruckten Ausgaben den Vorteil der Volltextsuche, der bei einem so umfangreichen Werk wie dem Krausschen (»Die Fackel« hat in der elektronischen Ausgabe mehr als 34.550 reine Textseiten, die »Schriften« immerhin auch noch knapp 14.700) gar nicht hoch genug zu veranschlagen ist. So ist die Zitatsuche bei Kraus – per fas et nefas – endlich auf ein solides Fundament gestellt, wenigstens zum großen Teil, denn vor allem die »Schriften« weisen doch Scanfehler auf, die Kraus selbst sicherlich wenig Freude gemacht hätten (der Buchstabe »l« wird etwa an einigen Stellen als »i« wiedergegeben; aus Felix Salten wird also Felix Saiten, was – besonders im Schwäbischen – wieder ein ganz eigenes Geschmäckle mit sich bringt). Aber derlei sind Kleinigkeiten, die sich mit ein wenig Übung durch geschicktes Suchen ausgleichen lassen.

Die elektronische »Fackel« enthält dabei nicht nur den kompletten Text aller 922 Ausgaben, sondern zudem alle Seiten im Faksimile, das durch einen einfachen Rechtsklick in den Text aufgerufen werden kann. Die »Schriften« bringen auch die erschließenden Anhänge Christian Wagenknechts (inklusive aller Abbildungen), die in der Abfolge so etwas wie eine detaillierte Werkgeschichte zu Karl Kraus liefern.

Trotz der ungeheuren Textmenge liegt hiermit aber immer noch nicht der »ganze Kraus« vor. Bei der »Fackel« wurde leider darauf verzichtet, die der gedruckten Ausgabe bei Zweitausendeins mitgegebene Aktausgabe der »Letzten Tage der Menschheit« von 1918/1919 zu reproduzieren, was eine gute Vergleichbarkeit mit der in den »Schriften« gelieferten überarbeiteten und erweiterten Fassung von 1921 erlaubt hätte. Den »Schriften« wiederum fehlen – wie schon in der Druckfassung – unkommentiert die Frühschriften, hier am wichtigsten sicher »Die demolierte Literatur« und »Eine Krone für Zion«, die auch weiterhin nur in einer hochpreisigen Ausgabe bei Suhrkamp lieferbar sind. Hier hätte es die Kraus-Fachleute, an die sich diese elektronischen Ausgaben ja in der Hauptsache richten, sicherlich begrüßt, wenn man die »Schriften« um die drei Bände der »Frühen Schriften« ergänzt hätte.

Abgesehen von solch eher marginalen Einwänden kann man die elektronischen Ausgaben nur begrüßen. Die von mir immer wieder als vorbildlich empfundene Software der Digitalen Bibliothek rundet den guten Gesamteindruck der beiden Ausgaben ab.

Die Fackel (1899–1936). Digitale Bibliothek Sonderband 34. Frankfurt: Zweitausendeins, 2007. 1 DVD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 128 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; DVD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; DVD-ROM-Laufwerk. 19,95 €.

Karl Kraus: Schriften. Digitale Bibliothek Band 156. Berlin: Directmedia Publishing, 2007. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 75,– €.

Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt

goethe_comicDiese zweibändige Comic-Biografie Goethes ist bereits 1999 zum 250. Geburtstag erschienen; heuer, anlässlich des 175. Todestages, sind die beiden Bände zu einer Sonderausgabe zusammengefasst worden – und natürlich bin ich mit meiner Rezension für beide Jubiläen eigentlich schon zu spät. Schadet aber nichts, denn so gut ist das Ding nicht, dass einer was verpasst hätte.

Autor beider Teile ist Friedemann Bedürftig, und danach sind sie auch geraten: Insgesamt eine oberflächliche und fehlerhafte Darstellung entlang vieler Klischees und unter Auslassung wichtiger Informationen:

  • Ist es wirklich nötig, den jungen Goethe 1774 »An Schwager Kronos« in der geglätteten Fassung von 1787 rezitieren zu lassen?
  • Warum ist das Weimarer Schloss, das am 6. Mai 1774 abgebrannt ist, bei Bedürftig »vor zwei Jahren« abgebrannt, als Goethe im November 1775 in Weimar eintrifft?
  • Warum erfahren wir an keiner Stelle, dass Frau von Stein verheiratet war?
  • Warum werden für eine Szene der Walpurgisnacht Verse aus der Hexenküche zitiert?
  • Warum erfahren wir nicht, dass 1828 Großherzog Karl August stirbt?
  • Warum wird uns suggeriert, die Beschwörung des Erdgeistes, die bereits 1775 fertig war, sei Goethe im Zusammenhang mit der Exhumierung von Schillers Leichnam 1827 in den Sinn gekommen?
  • Warum wird uns als Pars pro toto für Eckermanns Gespräche mit Goethe ausgerechnet ein belangloses Gefasel über Brillen angeboten, das so nicht einmal dem tatsächlichen Gespräch vom 5. April 1830 entspricht?
  • Und warum gibt das Goethe-Institut seinen Namen für einen solchen Kram her?

Magst Priester, Weise fragen,
Und ihre Antwort scheint nur Spott
Über den Frager zu sein.

Die Zeichnungen des ersten Bandes von Christoph Kirsch sind etwas bieder und pädagogisch, während der zweite Band mit Zeichnungen von Thomas von Kummant und der Kolorierung durch Benjamin von Eckartsberg deutlich an Kraft und Ausdruck gewinnt, nicht zuletzt dadurch, dass er im Gegensatz zu Band 1 handgelettert ist.

Ach ja, da fällt mir noch ein: Über das ganze Buch hinweg herrscht ein seltsamer Mischmasch von alter und neuer Rechtschreibung; da hätte man auch mal abschließend drüberschauen können.

Alles in allem also: Inhaltlich gänzlich belanglos, graphisch im zweiten Teil durchaus ansehnlich.

Friedemann Bedürftig / Christoph Kirsch / Thomas von Kummant / Benjamin von Eckartsberg: Goethe – Zum Sehen geboren / Zum Schauen bestellt. Sonderausgabe in einem Band. Köln: Egmont, 2007. 109 Seiten. 14,– €.

Hier geht’s um die Wurst

Heidelbach_Wurst Wiglaf Droste und Vincent Klink geben seit einiger Zeit zusammen das Magazin »Häuptling Eigener Herd« heraus, das inzwischen bei Heft 28 angekommen ist. Darin geht es ums Essen, Kultur und Unkultur, und das Schönste daran ist, dass die Herausgeber und Autoren sich selbst nicht so besonders ernst nehmen. Nikolaus Heidelbach ist einer der bemerkenswertesten Illustratoren in der deutsche Buchlandschaft. Sein Stil ist unverkennbar, seine Illustrationen sind anspielungsreich und hintergründig, hier und da auch unvergleichlich böse. Heidelbach hat u. a. zahlreiche Kinderbücher illustriert und dabei sehr oft in einmaliger Weise die Abgründigkeit der kindlichen Welt getroffen. Und diese drei haben nun zusammen ein Buch gemacht: »Wurst«.

Eigentlich sollte »Wurst« ein Heft des Magazin »Häuptling Eigener Herd« werden, aber Heidelbachs farbige Illustrationen verlangten nach einem anderen Publikationsort. Und so hat Wiglaf Droste den Kölner Verlag DuMont dazu überredet, ein Buch daraus zu machen. Das Buch bringt genau das, was der Titel verspricht: Es dreht sich alles um die Wurst.

Die Beiträge – deren Autoren jeweils mit einer Heidelbachschen Vignette bezeichnet sind – reichen von der autobiographisch gefärbten Erzählung über eine kosmologische Theorie der Fenchelsalami, Listen mit Wursttiteln in Film und Literatur sowie klassischen Wurstzitaten (dass Heine mit seinen »Göttinger Wurstzitaten« hier fehlt, schmerzt gerade im Heine-Jahr ein wenig), einer kleinen Wurstkunde bis hin zu Rezepten, bei denen dem Fleischfresser bereits beim Lesen der Zutatenliste das Wasser im Munde zusammenrinnt.

Dabei beweist sich insbesondre Vincent Klink einmal mehr als begnadeter Erzähler: Seine Geschichte »Allah schaut weg« über vier Köche aus Afrika, die in München die lokale Küche kennenlernen wollen, um später in der Heimat Touristen bekochen zu können, ist ein kleines Meisterstück lakonischer Erzählkunst.

Und der Band ist reichhaltigst illustriert: Nikolaus Heidelbach setzt die Themen Wurst und Erotik, Wurst und Religion und insbesondere Wurst und Tod auf immer neue Weise ins Bild: Eine Saitenwurst, in der sich der Tod versteckt, eine modebewusste Dame auf hochhackigen Schuhen, die sich als Gipfel der Eleganz eine Scheibe Blutwurst umgeschlagen hat, eine verführerische »Kleine Wurstgöttin« mit Senftöpchen, ein goyascher schlafender Koch, dessen Schlaf Flederwürste gebiert. Mein Lieblingsstück ist vielleicht das ganz stille Doppelblatt »Die Hl. Martha führt den Tod mit Blutwurst in Versuchung«.

Ein Lesebuch, ein Bilderbuch, ein Rezeptbuch, ein Verschenk- und Sichselbstbeschenkbuch – und das alles zum Preis eines bescheidenen Abendessens beim Italiener um die Ecke.

Wiglaf Droste / Nikolaus Heidelbach / Vincent Klink: Wurst. DuMont, 2006. Leinen, fadengeheftet, 160 Seiten. 24,90 €.

Klopstock schrieb:

Die Blinden

Saßen zwei Blinde bei einer Schilderei. Der eine fühlte auf der unrechten Seite herum, sagte: ist niedrig Buschwerk, wird etwa für einen Weidmann gekonterfeit sein. Der andre fühlte auf der rechten Seite herum, sagte: Hügel sind’s, etliche nur, all das Andre ist Ebne. Trat noch ein Blinder, ihr guter Gesell, herein, ließ sich den Zwist erzählen, fühlte auf dem glatten Rahmen herum, sagte: was? stilles ebnes Meer ist’s, worin sich die liebe Sonne spiegelt. Hatten die Blinden einen andern guten Gesellen, der konnt’ sehen. Da sie selbigem nun den Zwist der Länge nach hatten erzählt, sprach er: bin hergewandert, euch zur Musika einzuladen, weil mir ein trefflicher Geiger ankommen ist. Habt wohl eh’ davon sagen hören, daß unter Zeiten der Himmel voller Geigen hinge. Da hat er eine herabgenommen, so spielt er! Aber die Streitigkeit? So kommt doch. Ich mag die Schilderei nicht ansehn; sie betrübt mich nur, ’s ist Hermann, der von seinen eignen Blutsfreunden ermordet wird! Aber kommt immer. Der Mann wartet in der Laub’ auf uns, und still ist’s, und Mondschein auch.

Doch sie spotteten nur des Sehenden, fochten das Ding fernerhin unter sich aus, und ließen ihn allein zum Geiger gehen.

»Nachtwachen« von Bonaventura

nachtwachen

Im Jahr 1804 erscheint unter dem Titel »Nachtwachen« ein kleines Büchlein, das kaum die Bezeichnung Roman verdient, und dessen Verfasser sich hinter dem Pseudonym Bonaventura verbirgt. Es hat bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts gedauert, bis man den Autor des Bändchens endlich identifiziert hatte: Ernst August Friedrich Klingemann, ein Theaterintendant und Bühnenautor, dessen sonstige Werke heute beinahe vollständig vergessen sind, hatte mit den »Nachtwachen« sein Meisterstück geliefert.

Erzählt werden die 16 Nachtwachen des Büchleins vom Nachtwächter Kreuzgang, einem Außenseiter, den die bürgerliche Gesellschaft für ebenso verrückt hält wie er sie. Seinen Namen hat er von dem Ort erhalten, an dem er als Waise gefunden worden ist. Bereits durch seine Herkunft von der guten Gesellschaft isoliert, lebt er nun sein Leben im Dunkel der Nacht und läßt die schlafenden Bürger wissen, was die Stunde geschlagen hat. Von den Spießbürgern seiner Stadt wird er wohl als ein Verrückter angesehen, dem man aus Mitleid und weil er sonst zu nichts Vernünftigem zu gebrauchen war, den Posten des Nachtwächters überlassen hat. So verschläft er denn den Großteil des Tages, und man hat braucht sich mit ihm nicht weiter herumzuärgern.

Die Geschichten, Gedanken, Betrachtungen, mit denen Kreuzgang seine Nächte füllt, sind weder kontinuierlich noch konsequent. Vieles bleibt abgerissen und hingeworfen, Fragment im Fragment eines Fragments. Als Nachtwächter schaut er von draußen in die erleuchteten Fenster hinein, sieht Ausrisse vom Leben und Sterben seiner Mitbürger, geht in Blitz und Donner durch die Nacht, spaziert über Friedhöfe und durch dunkle Kirchen, spricht mit Gott, dem Teufel und sich selbst. Und bei diesen Selbstgesprächen kommen viele und vieles nicht gut weg:

Sagt mir, mit was für einer Mine wollt ihr bei unserm Herrgott erscheinen, ihr meine Brüder, Fürsten, Zinswucherer, Krieger, Mörder, Kapitalisten, Diebe, Staatsbeamten, Juristen, Theologen, Philosophen, Narren und welches Amtes und Gewerbes ihr sein mögt; denn es darf heute keiner in dieser allgemeinen Nationalversammlung ausbleiben, ob ich gleich merke, daß mehrere von euch sich gern auf die Beine machen möchten um Reisaus zu nehmen.

Gebt der Wahrheit die Ehre, was habt ihr vollbracht, das der Mühe werth wäre? Ihr Philosophen z. B. habt ihr bis jezt etwas Wichtigers gesagt, als daß ihr nichts zu sagen wüßtet? – das eigentliche und am meisten einleuchtende Resultat aller bisherigen Philosophien! – Ihr Gelehrten, was hat eure Gelehrsamkeit anders bezwekt als eine Zersezung und Verflüchtigung des menschlichen Geistes um zulezt mit Muße und einfältiger Wichtigkeit an das übriggebliebene caput mortuum euch zu halten. – Ihr Theologen, die ihr so gern zur göttlichen Hofhaltung gezählt werden möchtet, und indem ihr mit dem Allerhöchsten liebäugelt und fuchsschwänzt, hier unten eine leidliche Mördergrube veranstaltet und die Menschen statt sie zu vereinigen in Sekten auseinander schleudert und den schönen allgemeinen Brüder- und Familienstand als boshafte Hausfreunde auf immer zerrissen habt. – Ihr Juristen, ihr Halbmenschen, die ihr eigentlich mit den Theologen nur eine Person ausmachen solltet, statt dessen euch aber in einer verwünschten Stunde von ihnen trenntet um Leiber hinzurichten, wie jene Geister. Ach nur auf dem Rabensteine reicht ihr Brüderseelen vor dem armen Sünder auf dem Gerichtsstuhle euch nur noch die Hände und der geistliche und weltliche Henker erscheinen würdig neben einander! –

Was soll ich gar von euch sagen, ihr Staatsmänner, die ihr das Menschengeschlecht auf mechanische Prinzipien reduzirtet. Könnt ihr mit euern Maximen vor einer himmlischen Revision bestehen, und wie wollt ihr, da wir jezt in einen Geisterstaat überzugehen im Begriffe sind, jene ausgeplünderten Menschengestalten placiren, von denen ihr gleichsam nur den abgestreiften Balg, indem ihr den Geist in ihnen ertödtetet, zu benuzen wußtet. – O, und was drängt sich mir nicht noch alles auf über die einzeln stehenden Riesen, die Fürsten und Herrscher, die mit Menschen statt mit Münzen bezahlen, und mit dem Tode den schändlichen Sklavenhandel treiben. –

Die »Nachwachen« sind ein dunkles und wildes Buch, dessen abgerissene und befremdliche Gedanken auch heute noch den einen und anderen Blick auf die Nachtseite des Menschen in seiner bürgerlichen Verfassung erlauben. Es ist eines der seltenen Bücher, die in einer Epoche ganz für sich stehen und denen es deshalb gelingt, weit über ihre Zeit hinaus zu wirken.

Nachtwachen von Bonaventura. Im Anhang: Des Teufels Taschenbuch. Mit einem Nachwort v. Peter Küppers. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004. Pappband, Fadenheftung, 223 Seiten. 22,90 €.

Ole Könnecke: Ein Freund, ein guter Freund

76667616_710da82853Ole Könnecke ist ein Meister der Bildergeschichte, wobei sich seine Bücher durch einen ganz eigenen, stillen Humor auszeichnen. Dabei gelingen ihm wundervoll skurrile Figuren wie etwa Lola oder Doktor Dodo oder solch literarische Zaubergeschichten wie »Fred und die Bücherkiste«. Nun ist nach »Elvis und der Mann im roten Mantel« in diesem Jahr ein weiteres Buch erschienen, in dem der Weihnachtsmann bzw., wie schon die Umschlagzeichnung verrät, gleich mehrere Weihnachtsmänner und ihre sehr unterschiedlichen Tagesabläufe im Zentrum stehen. Es soll hier gar nicht mehr verraten werden, um den Spaß der Erstlektüre nicht zu verderben. Das Buch ist ein heißer Geschenk-Tipp für beinahe alle, bei denen man nicht weiß, was man ihnen sonst schenken soll – nur eben Humor sollte die oder der Beschenkte haben!

Könnecke, Ole: Ein Freund, ein guter Freund. Eine Weihnachtsgeschichte
Sanssouci, 2005. ISBN 3-7254-1378-9
Gebunden
48 Seiten, farbige Illustrationen – 18,3 × 14,4 cm – 7,90 Eur[D]