August Lafontaine: Quinctius Heymeran von Flaming

Diese Lektüre bedarf einiges an Erläuterungen. August Heinrich Julius Lafontaine (1758–1831) war ein Massenschriftsteller der Goethe-Zeit, der seine Romane in serieller Produktion schrieb. Er hatte einen ungeheuren Erfolg beim Publikum, wurde aber von den Kritikern, wenigstens von jenen, die wir auch heute noch lesen, im besten Falle als ein Trivialautor, im schlimmsten als ein Schreiberling unterster Kategorie angesehen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war er zu Recht weitgehend vergessen; dennoch ist das vorliegende Buch ein Nachdruck aus dem Jahr 2008 und in einer – wenigstens damals noch – halbwegs prominenten Buchreihe erschienen, den Haidnischen Alterthümern.

Bei den Haidnischen Alterthümern handelt es sich um eine in lockerer Folge herausgegebene Reihe von Büchern, die allesamt auf Hinweise Arno Schmidts zurückgehen. Schmidt hatte Mitte der 1950er Jahre damit begonnen, für den Südfunk Stuttgart, für den Alfred Andersch damals als Redakteur tätig war, sogenannte Nachtprogramme zu schreiben. Es handelte sich um dialogisch aufbereitete Essays zur Literatur, die spät abends gesendet wurden. Damals war die Arbeit für den Rundfunk für die meisten Schriftsteller recht attraktiv, da die Funkhäuser vergleichsweise gut bezahlten. Schmidt, dessen eigene Werke zwar Anerkennung bei Kritik und Kollegen fanden, sich aber nur schleppend verkauften, war auf Brotarbeiten wie Übersetzungen, Texte fürs Feuilleton oder eben auch die Nachtprogramme für den Funk dringend angewiesen.

Die Aufmachung der 2. Serie
der Haidnischen Alterthümer

Für die Funk-Essays griff Schmidt auf seine breite Lektüre der Belletristik des 18. und 19. Jahrhunderts zurück und konnte auf einige Autoren und Werke hinweisen, die damals halbwegs oder weitgehend vergessen waren. Als Schmidt dann nach dem Erscheinen von Zettel’s Traum (1970) auch für ein etwas breiteres Publikum zu einem Gerücht geworden war, wurden 1978 die Haidnischen Alterthümer begründet, die angeblich die Lieblingsbücher Arno Schmidts herauszubringen gedachten. Man könnte über diesen Anspruch nun Band für Band diskutieren, aber dafür ist hier kaum der richtige Platz. Wie dem auch sei: Es erschienen in 30 Jahren insgesamt 16 Titel, für die sich allesamt eine Empfehlung Arno Schmidts konstruieren ließ.

Im Jahr 2008 fand die Reihe dann ihr Ende mit dem hier besprochenen Roman. Schmidt hatte 1965 einen entsprechenden Funk-Essay verfasst, der den etwas merkwürdigen Titel Eine Schuld wird beglichen trug. Anlass dafür war, dass sich Schmidt in seiner umfangreichen Biographie über den Romantiker Friedrich de la Motte Fouqué dem Urteil der Zeitgenossen folgend über August Lafontaine abfällig geäußert hatte. Angeblich hatte er damals auch drei von dessen Romanen gelesen und für schlecht befunden. Nun aber habe er sich eines Besseren belehrt, weitere Romane konsumiert und müsse Abbitte leisten: So schlecht seien Lafontaines Romane gar nicht gewesen. Ganz am Ende bespricht Schmidt dann auch für einige Minuten eben jenen Quinctius Heymeran von Flaming, der es deshalb zur Ehre eines Nachdrucks gebracht hat.

Der vierbändige Roman vom Ende des 18. Jahrhunderts umfasst 1.200 Seiten, auf denen leider nicht viel mehr steht, als bequem auch auf 300 gepasst hätte. Erzählt wird eine endlose Abfolge von Liebeshändeln, wobei Lafontaine auf dem Rücken dieses Stroms von Ge- und Missverständnissen eine milde Satire auf einige gelehrte Theorien seiner Zeit transportiert. Der Titelheld, der aus einem shandyianischen Adels-Haushalt stammt, dessen Hausherr besessen über seine Ahnenreihe dilettiert, eignet sich auf der Universität eine obskure Rassentheorie an, mit der er nun die Welt interpretiert und dabei natürlich aufs Vortrefflichste scheitert. Es wird unsäglich viel geweint – der Beweis der Echtheit der Gefühle in der bürgerlichen Literatur der Zeit – und geschwätzt, die Missverständnisse und ihre Auflösung sind sehr trivial und vorhersehbar. Auch der Humor, den man dem Buch durchaus nicht absprechen kann, reicht nur für den ersten Band aus; danach ist es wie auf der Rückreise von einer Kaffeefahrt: Man ist sicher, dass man jede mögliche Pointe schon mindestens zweimal gehört hat.

Es handelt sich bei diesem Buch um ganz gewöhnliche Unterhaltungsware des späten 18. Jahrhunderts, wie sie so seitdem in ungebrochener Tradition den Buchmarkt betritt und wieder verlässt. Der dünne satirische Anstrich hebt das Buch zwar ein wenig über die Masse hinaus, doch macht sich hier nur einer über ganz offensichtlichen Unfug der Anthropologen seiner Zeit lustig, ohne dabei wirklich das Niveau eines originellen und freien Denkens zu erreichen. Lafontaine steckt im Gegenteil ganz tief in der bürgerlichen Moral seiner Zeit fest und bedient letztlich die entsprechenden Vorurteile zuverlässig. Auch sind die meisten seiner Figuren gänzlich eindimensional und verfügen ausschließlich über Charakterzüge, die dem Verlauf der Handlung dienlich sind. Einzig die Mutter Flaming ist ihm ein wenig menschlich geraten; er wusste also schon, was er da treibt.

Mit Blick auf Arno Schmidt und seine banal-psychoanalytische Sprachtheorie – „Das’ss ja heutzutage bekannt genug, daß jeder Könner zu seinem Können grundsätzlich åuch noch ’ne gänzlich zwecklose Theorie hinzuerfindn muß.“ – ist es nicht unwitzig, dass er einen Roman in den Druck zurückgelobt hat, dessen Protagonist mit einer kruden, selbstgezimmerten Theorie durch die Welt läuft, mit der er überall nur Celten, Mongolen, Slaven und Neger wahrnimmt, aber nicht in der Lage ist, die Realität oder Individualität seiner Mitmenschen zu erfassen.

Wer sich einen Eindruck verschaffen will – auch weil das Buch in die in Deutschland nur dünn besetzte Epoche der Empfindsamkeit gehört – kann getrost nach der Lektüre des zweiten der ursprünglichen vier Bände aufhören; ich selbst habe die letzten 450 Seiten nur mehr quer gelesen.

August Lafontaine: Quinctius Heymeran von Flaming. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2008. 2 Pappbände mit Leinenrücken, Silber-Kopfschnitt, Lesebändchen, 632 + 822 Seiten. 39,90 €.

„Verrückt nach Karten“

Von Zeit zu Zeit fällt einem doch wieder einmal ein rundum gelungenes Buch in die Hand! Dieser großformatige Band (ein wenig über DIN A4) widmet sich dem Zusammenhang zwischen Kartographie und Literatur, also nicht nur dem Phänomen der fiktiven Karten, sondern auch dem der geographischen Karten, die zu Stoff für die Phantasie von Autoren wurden oder die selbst ihre weißen Flächen mit erfundenen Kontinenten, Inseln, Ländern und Bewohnern angefüllt haben. Er ist üppig bebildert und enthält zahlreiche locker geschriebene, gut lesbare und interessante Essays, die sich von ganz verschiedenen Richtungen aus dem zentralen Thema annähern: So eröffnet der Herausgeber Huw Lewis-Jones den Band mit einem ausführlichen Gang durch den Teil der englischsprachigen Literatur, der auf die ein oder andere Weise mit der Kartographie verbunden ist; es folgen dann Autoren der phantastischen Literatur, Zeichner phantastischer Karten (darunter Daniel Reese, der die Karten für die Herr-der-Ringe-Verfilmungen von Peter Jackson gezeichnet hat), Leserinnen und Leser (so etwa die witzige und immer originelle Sandi Toksvig, die durch die durch und durch englische Quizshow QI endgültig zur Berühmtheit geworden ist), ja es findet sich mit Roland Chambers sogar ein Illustrator, der die durchaus weit verbreitete Furcht vor Karten thematisiert.

Der Band ist zu stundenlangem staunenden Blättern ebenso gut wie zur unterhaltendsten Lektüre, die selbst wieder Anlass werden wird zu eigenen Entdeckungen und neuen Lektüren. Als deutschsprachiger Leser wünschte man sich natürlich, dass auch die eigene Literatur vorkäme, so etwa Arno Schmidt mit seinen selbstgezeichneten Karten und Skizzen oder auch Heimito von Doderer mit seinen riesigen Wandplänen, auf denen er die Welt seiner Figuren entworfen hat. Aber man kann nicht alles haben.

Es ist noch ein wenig früh für Geschenktipps zum Fest: Aber mit diesem Buch macht man allen Freunden gleich welchen Literaturgenres eine Freude. Ein ideales Geschenk für sich und andere!

Huw Lewis-Jones (Hg.): Verrückt nach Karten. Geniale Geschichten von fantastischen Ländern. Darmstadt: wbg Theiss, 2019. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 256 Seiten. 34,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (118)

Unser Publikum ist noch so jung und einfältig, daß es eine Fabel nicht versteht, wenn es am Schluß keine Moral findet. Es errät keinen Scherz, spürt keine Ironie; es ist einfach schlecht erzogen. Es weiß noch nicht, daß in anständiger Gesellschaft und in einem anständigen Buch offenkundiges Schimpfen keinen Platz finden darf; daß die gegenwärtige Bildung eine schärfere, nahezu unsichtbare und nichtsdestotrotz tödliche Waffe erfunden hat, die, im Gewande der Schmeichelei, den unabwendbaren und sicheren Schlag versetzt. Unser Publikum gleicht einem Provinzialen, der, da er das Gespräch zweier Diplomaten belauscht hat, die einander feindlichen Höfen angehören, versichert bleibt, daß jeder der beiden seine Regierung hintergeht zugunsten ihrer gegenseitigen, zärtlichsten Freundschaft.

Michail Lermontov
Ein Held unserer Zeit

Allen Lesern ins Stammbuch (112)

Vieles Lesen macht stolz und pedantisch; viel sehen macht weise, verträglich und nützlich. Der Leser baut eine einzige Idee zu sehr aus; der andere (der Weltseher) nimmt von allen Ständen etwas an, modelliert sich nach allen, sieht, wie wenig man sich in der Welt um den abstrakten Gelehrten bekümmert, und wird ein Weltbürger.

Georg Christoph Lichtenberg
Sudelbücher (H 30)

Stephen Leacock: Nonsense Novels

Indessen strich der Monat, welcher Lord Ronald vom Earl zugemessen worden, dahin. Es war bereits der 15. Juli, dann ein, zwei Tage später war’s der 17. Juli, und beinahe unmittelbar darauf der 18. Juli.

Stephen Leackock dürfte in Deutschland allgemein so unbekannt sein, wie er mir war. Leacock wurde 1869 in Südengland geboren und wanderte als Sechsjähriger mit seiner Familie nach Kanada aus. Dort erhielt er eine hervorragende Ausbildung, schlug sich als Lehrer durchs Studium zuerst der Sprachen, dann der Politologie, in der er auch seinen Studienabschluss machte. Ab 1908 hatte er ein Professur in Montreal für Politologe und Ökonomie inne; sein Buch Elements of Political Science (1906) wurde zu einem internationalen Standardwerk des Fachs. Als belletristischer Schriftsteller begann Leacock bereits während seiner Studienzeit zu arbeiten; sein Œuvre umfasst humoristische Erzählungen, Essays, sozialkritische Romane und Biografien (über Mark Twain und Charles Dickens). In den zwanziger Jahren wurden einige seiner Bücher auch ins Deutsche übersetzt (Kurt Tucholsky rezensierte ihn lobend), aber das Interesse an ihm wurde nach dem Zweiten Weltkrieg offensichtlich nicht wiederbelebt.

Ich selbst bin jetzt durch die Übersetzung eines seiner Büchlein durch Friedhelm Rathjen auf ihn gestoßen. Die Nonsense Novels (Erstausgabe 1911) sind eine Sammlung literarischer Genre-Parodien, die sich über Ton und Stoffe der Trivialliteratur des späten 19. Jahrhunderts lustig machen, vom Sherlock-Holmes-Roman und der unheimlichen Novelle über die romantische Erzählung von ritterlicher Liebe, dem Gouvernanten-Schicksal- und Seefahrer-Roman bis hin zum Zukunfts-Roman à la H. G. Wells. Diese letzte Parodie lässt mit ihrem Hohelied auf Mühe und Arbeit allerdings etwas zu sehr den Ökonomen Leacock durchblicken.

Die Parodien leben durchweg von der bizarren Übersteigerung der Tendenzen ihrer Vorlagen, so dass der Titel der Sammlung den Ton des Buches recht gut trifft. Rathjen baut den exaltierten Stil Leacocks hübsch nach, so dass auch der deutschsprachige Leser in den vollen Genuss dieses literarhistorischen Nonsens kommt.

Stephen Leacock: Nonsense Novels. Übersetzt und hg. von Friedhelm Rathjen. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2018. Bedruckter Pappband, 140 Seiten. 35,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Allen Lesern ins Stammbuch (111)

Besonders ist, daß unsere Dichter von unsern vernünftigen, Leuten von Stand nicht mit Vergnügen gelesen werden. Der Fehler kann unmöglich in unserm Publikum liegen, er liegt sicherlich in unsern Dichtern, es sind meist junge oder alte Knaben, die im Zirkel unerfahrner Bewunderer aufgewachsen sind, und daher nicht zunehmen können. Wer nicht zu gewissen Jahren oft in Gesellschaft war, wo er nicht die erste Rolle spielte, und seine Kräfte in einer Spannung sein mußten, um nicht eine üble Meinung von sich zu erwecken, wird gewiß ein Tropf werden und das sind gewiß allemal 9 unter 10 unserer gerühmten Dichter. Der Mann der Welt kann nichts von ihnen lernen, er übersieht sie, so wie das handlungsvollste Schauspiel auch noch Bemerkungen enthalten muß, die selbst den Denker bei der Lampe beschäftigen können müssen, so kann selbst die Ode indem sie die Einbildung mit Bildern hinreißt wie das Licht einen, dem der Star jetzt ausgezogen worden, tiefe Bemerkungen enthalten, die den Mann von Überlegung wenn der Rausch verfliegt beschäftigen können. Aber mein Gott wie kann der etwas sagen der nichts weiß?

Georg Christoph Lichtenberg
Sudelbücher (F 613)

Sinclair Lewis: Main Street

Warum lügen Romane eigentlich immer so schrecklich?

Main Street, 1920 erschienen, ist der Roman, mit dem Sinclair Lewis seinen Durchbruch als Autor hatte. Ihm waren bereits sechs andere Romane mit mäßigem Erfolg vorausgegangen, doch Main Street traf offenbar einen Nerv der Zeit, denn während der ersten sechs Monate verkaufte sich das Buch 180.000 mal und brachte es innerhalb von nur wenigen Jahren auf eine Auflage von 2.000.000 Exemplaren. Dieser Bestseller begründete den anhaltenden Ruhm des Autors, der ihm 1930 als erstem us-amerikanischem Autor den Literatur-Nobelpreis einbringen sollte.

Erzählt wird die Geschichte Carols, die nach dem Studium einige Zeit als Bibliothekarin in Saint Paul, Minnesota arbeitet. Dann lernt sie, die eigentlich nicht darauf aus ist zu heiraten, den Arzt Will Kennicott kennen, der ihr sehr rasch einen Heiratsantrag macht. Angesichts der Tatsache, dass sie beruflich nicht zufrieden ist, nimmt sie den Antrag an, auch weil sie überzeugt ist, Will durchaus zu lieben. Will nimmt sie mit in die Kleinstadt Gopher Prairie, ebenfalls in Minnesota, in der er praktiziert. Minnesota ist den Deutschen zumindest von seiner winterlichen Seite wahrscheinlich durch den Film Fargo bekannt; hier leben vorwiegend deutsche und skandinavische Einwanderer, die ihren Lebensunterhalt als Farmer verdienen. Gopher Prairie ist eine typische, provinzielle Kleinstadt, die für die umliegenden Farmen Läden, Schule und eben auch einige Ärzte vorhält.

Wie man sich leicht denken kann, stößt die hübsche und – vergleichsweise – hochgebildete junge Carol in Gopher Prairie zuerst auf eine spürbare Ablehnung. Zwar hat sie als Frau des Arztes sofort einen gewissen gesellschaftlichen Status, aber ihre städtische Kleidung, ihre Ideen zur Ausgestaltung ihres Hauses und ihrer Partys und die Art, wie sie ihre Bildung ins Gespräch einfließen lässt, machen sie zur Außenseiterin. Man muss den Einheimischen von Gopher Prairie allerdings zugutehalten, dass Carol sich nicht besonders um Anpassung an die vorgefundenen Verhältnisse bemüht, sondern von Beginn an der Auffassung ist, ihre vornehmste Aufgabe sei es, die Stadt und ihre Bewohner zu reformieren. Dazu gehört auch ihr Plan, die in ihren Augen hässliche Hauptstraße (Main Street) städtebaulich zu verschönern, ein Traum, den sie bereits während ihrer Studienjahre entwickelt hat. Carol ist daher weitgehend isoliert; einzig bei einem der Juristen der Stadt, einem eingeschworenen Einzelgänger, und einem lesenden Arbeiter findet sie einige Sympathien; selbst ihr Mann steht eigentlich auf der Seite derer, die Carol etwas merkwürdig finden, wenn er auch zu glauben scheint, dass sich diese Probleme mit der Zeit von selbst geben werden. Ihre einzige erklärte Freundin, eine Lehrerin, die auch die Bibliothek betreut, ist eher daran interessiert, Carol für ihr eigenes, christlich motiviertes Reformprojekt einzuspannen.

Nachdem diese Grundkonstellation aufgestellt ist, schleppt sich der Roman über viele Seiten hin, um eine immer erneute Verschärfung der Krise heraufzubeschwören. Dort, wo Carol sich langsam an den Alltag Gopher Prairies anpasst, wirft sie sich selbst vor zu verspießern; im Gegenzug gibt es immer wieder Ereignisse, die ihr klar machen, dass sie nie in dieser Stadt zufrieden wird leben können. Lewis spielt auch mit einer Liebesaffäre Carols, die aber nie richtig in Gang kommt, offenbar weil er die Moral seiner potenziellen Leserinnen fürchtet. Auch ein eigenes Schlafzimmer für Carol oder die Geburt eines Kindes ändern die Situation nicht wirklich. Schließlich bricht Carol aus der Kleinstadtatmosphäre aus, geht nach Washington und lebt einige Jahre ein unabhängiges und selbstständiges Leben. Am Ende siegt aber doch die Normalität, und sie kehrt zu ihrem Mann in die kleinstädtischen Verhältnisse zurück, gereift durch die Jahre ihrer Unabhängigkeit und die Einsicht, dass auch in der großen Welt nicht alles Gold ist, was glänzt. 

Dieses versöhnliche, sehr amerikanische Ende hat wahrscheinlich nicht unwesentlich zu dem Erfolg des Buches beigetragen. Main Street vermeidet konsequent die Katastrophe, die sich aus dem Missverhältnis der inneren und äußeren Welt der Protagonistin entwickeln ließe; man vergleiche dazu nur die offensichtliche literarische Vorlage der Madame Bovary (dumme Gans mit literarischer Bildung heiratet Provinzdoktor und scheitert an ihrem aus den Romanen entnommenen Weltbild). Der Kompromiss mit dem Publikumsgeschmack, den der Autor offensichtlich erfolgreich eingegangen ist, führt auch dazu, dass er über weite Strecken wesentlich nicht weiß, was er mit seiner Protagonistin weiterhin anfangen soll. Und so ist der Roman nicht nur auf weiten Strecken anekdotisch, sondern auch deutlich zu lang geraten und im Abgang mehr als seicht. Von der ironischen Schärfe, die Babbitt beherrscht, ist hier nur an einigen wenigen Stellen ein Vorschein zu erkennen. Erst nach diesem Erfolg war sich Lewis als Autor sicher genug, um seinen eigentlichen Ton anzustimmen.

Sinclair Lewis: Main Street.  Aus dem amerikanischen Englisch von Christa E. Seibicke. München: Manesse, 2018. Pappband, Fadenheftung, Le­se­bänd­chen, 1002 Seiten. 28,– €.

Hannes Leidinger: Der Untergang der Habsburgermonarchie

So begannen mehr oder minder alle ein Doppelspiel.

Eine Geschichte des Ersten Weltkrieges mit zwei Schwerpunkten: zum einen Österreich im allgemeinen, zum anderen die Folgen des Krieges für den Vielvölkerstaat im speziellen. Trotz ihrer Spezialisierung kommt auch Leidingers Darstellung nicht darum herum, ab ovo anzufangen und die Vorgeschichte und Entwicklungen hin zum Ersten Weltkrieg nochmals nachzuerzählen. Dabei ist allerdings einer der drei Einstiege Leidingers ins Thema originell und reizvoll, der in einer knappen, aber präzisen Durchleuchtung von Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ als Quelle für das Kakanien vor dem Ausbruch der Katastrophe besteht. Ich habe im Weiteren dann Joseph Roth, Karl Kraus oder auch Franz Kafka vermisst, aber man kann nicht alles haben; auch das wenige, was Leidinger zu Trakl zu sagen hat, ist leider eher banal.

Immerhin kommt Leidinger in der Mitte des Buches zum Tod Kaiser Franz Joseph I. und damit zum konkreten Anfang vom Ende, so dass sich die zweite Hälfte den politischen und gesellschaftlichen Wirren der beiden letzten Kriegsjahre und dem oben schon zitierten Doppelspiel aller Seiten (Ungarn, Tschechen, Polen, Serben, Russen etc. pp.) widmen kann. Nur sehr wenige scheinen bedingungslos am Habsburgerreich haben festhalten wollen, und man kann sich des Eindrucks nicht entziehen, dass dies bereits 1916 gänzlich obsoleter war. Das Streben nach nationaler Eigenständigkeit gepaart mit der Erfahrung der zweit- oder gar drittklassigen Behandlung der nichtdeutschsprachigen Völker während des Krieges entwickelt zu starke zentrifugale Kräfte, als sie das ohnehin schon brüchige Reich hätte aushalten können. Auch Leidinger findet bei allem Streben nach Objektivität keine wirksamen Gründe das Reich zusammenzuhalten.

Leidinger liefert nur wenig Militärgeschichte des Krieges; stattdessen stellt er anhand zahlreicher Einzelzeugnisse die sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Kriegsverlaufs in den unterschiedlichen sozialen Gruppen und Nationen der Monarchie dar. Dennoch (mag auch sein: deswegen) resümiert Leidinger:

Dass das Ende Österreich-Ungarns im November 1918 allerdings eher militärisch, politisch und territorial zu verstehen ist, nicht so sehr aber wirtschaftlich, sozial und noch weniger mental beziehungsweise kulturell, lässt übrigens mögliche Alternativen zu den historischen Geschehnissen erkennen. Das sechste Fazit ist daher eher eine Vermutung: Als der südafrikanische General Jan Smuts in der Schweiz geheime Friedensgespräche mit den Österreichern führte, offerierte er Londons Beistand bei der Umwandlung der Donaumonarchie in ein „wirklich liberales Reich“ und eine „wohlwollende Schutzmacht“ nach britischem Vorbild. Obwohl Smuts damit die globale Rolle des „Empires“ beschönigte, tat sich darin wenigstens langfristig die Perspektive eines zentraleuropäischen „Commonwealth“ auf.

Das „Scheitern Mitteleuropas“ und entsprechender Föderationspläne in der Zwischenkriegszeit verweist freilich auf die Schwierigkeiten, den Donauraum in der einen oder anderen Form als Einheit zu erhalten. Die Probleme waren allerdings vielfach von der Monarchie mit verursacht. Das Festhalten am Ausgleich von 1867 benachteiligte die meisten „Völker“ zugunsten der Deutschen und Magyaren im Reich. Ihre Führungsschichten sowie insbesondere der innerste Kreis der Verantwortlichen rund um den Regenten hatten schließlich auch durch das fragwürdige Krisenmanagement im Juli 1914, beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges, maßgeblichen Anteil am eigenen Sturz und Bedeutungsverlust. Siebentes Fazit: Das Habsburgerreich ging vor allem auch an seinen eigenen Eliten zugrunde.

Deutlich, doch – wenn man sich einen Moment besinnt – nicht wirklich überraschend.

Eine gut geschriebene, sauber strukturierte, besonders im zweiten Teil sehr detaillierte und  informative österreichische Geschichte  des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen.

Hannes Leidinger: Der Untergang der Habsburgermonarchie. Innsbruck u. Wien: Haymon, 2017. Pappband, 440 Seiten. 29,90 €.

Sinclair Lewis: It Can’t Happen Here

Der Roman entstand und erschien 1935 und beschreibt einen faschistischen Staatsstreich in den USA nach dem Vorbild der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland. Der demokratische (im Sinne der US-amerikanischen Partei, nicht der Staatsform) Kandidat Berzelius Windrip gewinnt die Wahl 1935 mit einem populistischen Programm, das sich an Arme und Veteranen wendet und ihnen vergleichsweise goldene Zeiten verspricht. Nach seiner Inauguration Anfang 1936  hebelt er durch Not­stands­ge­set­ze den Kongress aus und zerschlägt die traditionellen US-Staaten durch das Einführen von willkürlichen Verwaltungsgrenzen und -strukturen, in denen seine Parteigänger als Funktionäre eingesetzt werden. Gestützt und geschützt wird dieser Prozess durch eine private Miliz, die Minute Men (M. M.), die faktisch die Polizeigewalt inne haben.

Protagonist des Romans ist Doremus Jessup, älterer Chefredakteur einer Tageszeitung einer Kleinstadt an der amerikanischen Ostküste. Sozial etabliert, verheiratet mit drei Kindern und einer Geliebten, nicht parteipolitisch gebunden, ist Jessup das Muster des liberalen nordamerikanischen Intellektuellen: klassisch gebildet, sich der sozialen Frage bewusst mit einer leichten Tendenz zum demokratischen Sozialismus, misstrauisch allen starken Ideologien der Zeit gegenüber – also letzten Endes ein idealisierter Selbstentwurf Lewis’. Im Gegensatz zu den meisten seiner Bekannten misstraut Jessup von Beginn an dem Kandidaten Windrip, hält sich aber zurück in dem Glauben, dass das alles vorübergehen wird.

Erst ein Gewaltverbrechen an einem Rabbi und einem Universitäts-Professor durch einen betrunkenen hohen Vertreter des neuen Staates, also ein Übergriff politischer Barbaren auf die gesellschaftliche Gruppe, der er sich selbst zuordnen, veranlasst ihn zu einem ersten offen kritischen Kommentar in seiner Zeitung. Die Reaktion des neuen Staates lässt nicht lange auf sich warten: Jessup wird verhaftet und einem Richter vorgeführt, der sich aber überraschend milde zeigt, indem er Jessup dazu zu überreden versucht, sich mit dem neuen Staat zu arrangieren. Um seinem Vorschlag Nachdruck zu verleihen, lässt er Jessups Schwiegersohn umgehend standrechtlich erschießen und  setzt ihm in seiner zeitung einen staatlichen Aufpasser vor die Nase, den er vorgeblich als seinen Nachfolger einarbeiten soll.

Jessup betreibt daraufhin erfolgreich seine Pensionierung und beginnt zugleich, sich dem politischen Widerstand gegen die Diktatur zu verbinden. Er betreibt im Neuen Untergrund eine geheime Presse, die Flugblätter mit Nachrichten und Gerüchten herstellt und verteilt. Insgesamt geht man in der kleinen lokalen Widerstandsgruppe sehr lax mit der Geheimhaltung um, so dass es kein Wunder ist, dass Jessup nach nur wenigen Monaten in einem Konzentrationslager landet. Nach nur fünf Monaten und nicht der grausamsten aller denkbaren Behandlungen wird er durch Initiative seiner Geliebten befreit und nach Kanada gebracht, wo er eine Stelle in der US-amerikanischen Exil-Regierung findet. Der Roman hat ein offenes Ende, das die ersten Erfolge des politischen und militärischen Widerstandes gegen den neuen Staat beschreibt, an dessen Spitze nach mehrfachen Staatsstreichen inzwischen ein Militär steht. Der letzte Satz feiert den ewigen Jessup, der nun bei aller ironischen Distanz und wohl in Ermangelung eines Besseren dann doch zum idealen Vorkämpfer der guten Sache gemacht werden muss.

Der Roman war ein sofortiger großer kommerzieller Erfolg. Man plante sogar eine Hollywood-Verfilmung, die aber trotz weitreichenden Vorbereitungen nie zustande kam– man darf staatliche Rücksichtnahme auf die Beziehungen zum Deutschen Reich als Ursache dafür annehmen. Stattdessen gab es eine sehr erfolgreiche Umsetzung für die Bühne. Es ist leicht zu erkennen, dass nicht nur Sinclair das Szenarium des Romans für eine nicht ganz und gar abwegige utopische Alternative zur US-amerikanischen Geschichte hielt.

Angeregt zu dem Buch wurde Lewis durch die Reportagen seiner Ehefrau Dorothy Thompson, die von 1924 bis 1934 in Berlin gelebt und den Aufstieg der Nationalsozialsten zur Macht journalistisch eng begleitet hatte. Aus ihrer Kenntnis und der weiterer Bekannter, die in dieser Zeit in Europa gelebt hatten, bezog Lewis im Wesentlichen die Vorbilder für die faschistische Machtübernahme in seinem Roman. Streng genommen gehört das Buch nicht in das Genre der Alternativen Geschichte, da es in der unmittelbaren Zukunft spielt, also eine Warnutopie darstellt, wird aber natürlich heute so gelesen. Es hat durch den aktuellen weltweiten  Rechtspopulismus, aber auch durch den in den USA gezogenen durchaus provokanten Vergleich des Aufstiegs Donald Trumps mit dem von Lewis’ Diktator Berzelius Windrip überraschend an Popularität gewonnen.

Sinclair Lewis: It Can’t Happen Here. New York: Penguin Random House, 2014. Kindle-Edition, 195 Seiten. 5,49 €.

Jahresrückblick 2017

2017 ist das erste Jahr, für das das bislang bei den Jahresrückblicken eingehaltene Schema der jeweils drei besten und schlechtesten Lektüren nicht passen will. Von daher lasse ich von jetzt an die noch aus news:de.rec.buecher ererbte Form hinter mir. Also:

Dagegen ragen aus der Lektüre positiv zwei Sachbücher und die ersten Lektüren zweier us-amerikanischer Autoren heraus:

  • Mit To Hell And Back beweist Ian Kershaw einmal mehr seine herausragende Qualität als historischer Autor.
  • Nikolaus Wachsmann liefert mit KL einen grausigen Referenztext zum Thema Konzentrationslager. Ein Text, der nicht nur durch die Lektüre erschüttert, sondern auch durch den Gedanken an den Autor, der sich gezwungen hat, dieses Material zu Papier zu bringen.
  • Mit Thomas Wolfes Erstlingsroman Schau heimwärts, Engel habe ich ein beeindruckendes us-amerikanisches Talent kennengelernt, dessen Erzählen zwar offensichtlich ein undiszipliniertes Naturereignis ist, sich zum Ausgleich aber als inhaltsreich und weltsatt erweist.
  • Ebenfalls eine private Neuentdeckung war Sinclair Lewis mit seinem Babbitt. Eine in weiten Teilen gelungene Satire auf das Amerika der 20er Jahre mit Anklängen an den schon damals erkennbaren aufsteigenden Faschismus in der freiesten aller Nationen.

Insgesamt ist mir aufgefallen, dass ich in der Belletristik nur einen einzigen lebenden Autor gelesen habe, dessen Roman aber nur eine weitere Ent­täu­schung darstellte. Von allen anderen sogenannten Romanen dieses Jahres habe ich die Finger gelassen; einzig Marcus Brauns Der letzte Buddha ist meiner Aufmerksamkeit zu lange entgangen; diese Lektüre wird im nächsten Jahr aber sicherlich nachgeholt werden.

Allen Lesern von Bonaventura wünscht der Nachtwächter ein zufriedenes, gesundes und lektürereiches Jahr 2018!