Thomas Mann: Buddenbrooks

»Tom, Vater, Großvater und die Anderen alle! Wo sind sie hin? Man sieht sie nicht mehr. Ach, es ist so hart und traurig!«

Der erste und bis heute zu Recht beliebteste Roman Thomas Manns. Erzählt wird die Geschichte einer Lübecker Kaufmannsfamilie über gut 40 Jahre hin, beginnend mit Jahr 1835 als die Familie ein neues Haus bezieht, was sich rückblickend als der tatsächliche Höhepunkt ihrer geschäftlichen Stellung erweisen soll. Ganz im Sinne des Untertitels „Verfall einer Familie“ erweisen sich alle späteren Erfolge als Scheinsiege, die nur für eine Weile noch den wahren Status der Familie überdecken. Die scheidende Generation des alten Johann Buddenbrook blickt mit rationalem Kopfschütteln auf die religiöse Euphorie der romantischen Generation seines Sohnes Jean; die Generation der Enkelkinder Thomas, Christian und Antonie wird nicht nur in geistiger Orientierungslosigkeit heranwachsen, sie wird auch – in unterschiedlicher Weise – unter ihrem zu empfindlichen Nervenkostüm zu leiden haben. Die Geschichte der Familie vollendet sich in Thomas Sohn Hanno, einer überfeinerten Künstlernatur, die nicht mehr in der Lage ist, den zum Leben nötigen Willen aufzubringen und sich dem Typhus ergibt und aus dem Leben entkommt.

Bricht man das Buch auf diese Struktur herunter, kann man den Verdacht entwickeln, dass es zu konstruiert sei, um gelingen zu können; Thomas Mann versteht es jedoch, dieses Skelett des Romans mit einer solchen Fülle von zeitspezifischen und – man entschuldige – allgemein menschlichen Details anzureichern, dass die Konstruktion tatsächlich als Skelett eines organischen Ganzen zurücktritt. Je weiter die Erzählung fortschreitet, desto mehr verschiebt Mann den Fokus der Erzählung vom Gesellschaftsroman hin zur Familiengeschichte, was in einer nahezu eigenständigen, in sich geschlossenen Geschichte des Schülers Hanno gipfelt, dessen früher Tod auch den Abschluss des Familienromans bildet.

Für einen so jungen Autor – Mann war erst 21 Jahre alt, als er den Roman begann – weist das Werk nicht nur einen ungewöhnlich stimmigen und detaillierten historischen Hintergrund auf, er belegt auch Manns differenziertes sprachliches Vermögen und außergewöhnliches erzählerisches Gespür. Zusammen mit dem zu dieser Zeit offenbar noch bestehenden Vertrauen in den Stoff seiner Erzählung macht diese Melange »Buddenbrooks« zu Manns eingängigstem und populärstem Roman.

Ich habe an anderer Stelle schon einmal meine wechselvolle Lektüre-Geschichte mit Thomas Manns Schriften angedeutet. Meine jetzige, wohl fünfte Lektüre von »Buddenbrooks« war die bislang genussvollste und zugleich entspannteste. Kritik an Werk oder Autor erschien mir diesmal als überflüssig oder kleinlich angesichts dessen, was hier gelungen ist. Einer der großen Romane der deutschen Literatur, als sie noch ganz und gar unberührt zu sein schien von den Zweifeln des 20. Jahrhunderts.

Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 1.1. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2002. Leinen, Fadenheftung, 843 Seiten. 78,– €.

Thomas Mann: Der Zauberberg

»Siehst Du wohl,« sagte Hans Castorp später zu seinem Vetter, »siehst Du wohl, daß es in der Literatur auf die schönen Worte ankommt? Ich habe es gleich gemerkt.«

mann-zauberbergZuletzt habe ich den »Zauberberg« mit großer Begeisterung 1986 während des Studiums gelesen. Während ich zur gleichen Zeit den Glauben an Thomas Mann als bedeutendem deutschen Intellektuellen endgültig durch die Lektüre der »Betrachtungen eines Unpolitischen« verloren habe, hat dieser Roman die Überzeugung verfestigt, dass er einer der besten deutschsprachigen Erzähler war. In den Jahren dazwischen habe ich immer wieder einmal versucht, Mann zu lesen, bin aber damit nie recht fertig geworden: Im »Doktor Faustus« war mir bei der Zweitlektüre der Erzähler nur schwer erträglich, um »Lotte im Weimar« recht zu goutieren verstand ich wohl noch zu wenig von Goethe – da hat sich erst die dritte Lektüre als vergnüglich erwiesen –, der »Joseph« war eindeutig zu geschwätzig für den in weiten Teilen unerheblichen Stoff und an den »Zauberberg« wollte ich dann nicht noch einmal heran, aus Furcht, ihn mir zu verderben. Erst mit dem Erscheinen der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe stellte sich die Lust wieder ein, es erneut zu versuchen.

Erzählt wird bekanntlich die Geschichte des jungen Hamburger Ingenieurs Hans Castorp, der auf drei Wochen nach Davos reist, um seinen kranken Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen. Im internationalen Kurhotel Berghof angekommen, verliebt er sich in eine wenige Jahre ältere Russin, Clawdia Chauchat, deren Augen ihn an eine alte, homoerotische Liebe aus seiner Schulzeit erinnern. So ist er mehr als glücklich als der Chefarzt Dr. Behrens auch bei ihm eine Lungenerkrankung diagnostiziert, die ihn zwingt, seinen Aufenthalt auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Dies motiviert seinen letztlich siebenjährigen Aufenthalt auf dem Berghof, der unter der Hand zu einem Bildungsgang gerät. Erst der Ausbruch des Ersten Weltkriegs spült Castorp zusammen mit vielen anderen Insassen des Hotels wieder ins Flachland, wo der Erzähler seine Spur im Schlachtgetümmel verliert.

Was mich bei der ersten Begegnung mit diesem umfangreichen Buch fasziniert hat, war der Eindruck der erstaunlich ausgewogenen zeitlichen Beherrschtheit des Textes: Die Beschleunigung des Erzähltempos von der ausführlichen Schilderung der ersten Tage, Wochen und Monate bis zu dem unmerklichen Verfließen ganzer Jahre am Ende erschien mir so mühe- und bruchlos gestaltet, dass dieser Eindruck damals beinahe jede andere Wahrnehmung überlagerte. Dies hat sich bei der erneuten Lektüre nicht wieder im gleichen Maße eingestellt. Besonders im letzten Drittel empfand ich dieses Mal manche Passage als überdehnt und manches Motiv als zu breit ausgewalzt. So etwa die Auseinandersetzungen zwischen den beiden um die Menschwerdung Castorps ringenden Dämonen Settembrini und Naphtha, die Parodie auf die Mode der Geisterbeschwörung, die sich zugleich über die Psychoanalyse lustig macht, die Ausführungen zur Musik – das alles könnte auch kürzer und konziser gefasst werden und enthält viel Geschwätz, das einfach nur der Verarbeitung von eben angefallenem Stoff dient und weniger einer tatsächlichen Notwendigkeit des Erzählens entspringt.

Das ist aber nur die eine Seite; auf der anderen muss ich sagen, dass ich das Buch durchaus wieder mit großem Vergnügen gelesen habe. Wem es gelingt, den Text insgesamt als ein Spiel mit Motiven, Strömungen und Tendenzen seiner Zeit wahrzunehmen, der kann all dem mit vergnügter Distanz folgen. Das Verweben sowohl einer Bildungsroman- als auch einer Liebesroman-Parodie, die einander zudem auch noch erzählerisch bedingen, ist sehr fein und ungezwungen ausgeführt. Und nicht zuletzt habe ich auch den Genuss an Manns sprachlichem Manierismus wieder gefunden, der mir zwischenzeitlich verloren gegangen war. Natürlich kann es auch leicht geschehen, dass einem die letztlich gänzlich substanzlose Haltung des Erzählers auf die Nerven geht, aber mir ist es wenigstens diesmal gelungen, dass das Vergnügen an der Lektüre weit überwogen hat. Ich bin gespannt, wie meine Lesegeschichte mit Thomas Mann weitergehen wird …

Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2002. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1103 Seiten. 42,– €. Zusammen mit dem umfangreichen Kommentarband: 84,– €. Der Text der GkFA erscheint im April 2012 erstmals auch im Taschenbuch.

P. S.: Vielleicht doch noch ein paar Worte zum Kommentarband: Mit gut 520 Seiten ist er fast halb so umfangreich wie der Text des Romans. Neben soliden Kapiteln zur Entstehung und Rezeption enthält er einen umfangreichen Einzelstellenkommentar, der in der Hauptsache den ungeheuer umfangreichen stofflichen Resonanzraum des Romans deutlich macht. Hier lassen sich schöne Funde machen, und es wird deutlich, was für ein außergewöhnlicher Organisator großer Stoffmengen Thomas Mann gewesen ist. Für die genießende Lektüre ist der Kommentar durchaus nicht notwendig, aber er hilft sehr beim Entdecken der hinter dem Gobelin verlaufenden Fäden.

Thomas Mann: Der Tod in Venedig

Die Meisterhaltung unseres Stiles ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menge zu uns höchst lächerlich, Volks- und Jugenderziehung durch die Kunst ein gewagtes, zu verbietendes Unternehmen.

Tod-in-VenedigNachdem mir bei der Besprechung von Koeppens »Der Tod in Rom« der grobe Schnitzer unterlaufen war, Gustav Aschenbach für einen Tonsetzer zu erklären, war klar, dass es dringend an der Zeit war, Thomas Manns Erzählung wieder einmal zu lesen. Innerlich hatte ich wohl vor etwa zwanzig  Jahren mit den Erzählungen Manns abgeschlossen, nachdem ich auch die letzten eher aus einem Sinn für einen Abschluss als aus echtem Interessen heraus gelesen hatte. Viele der kürzeren Erzählungen von Thomas Mann schienen mir damals wenig zu taugen, so dass ich mich , wenn Mann bei mir noch einmal dran sein würde, auf die Romane konzentrieren wollte. Überhaupt muss ich gestehen, dass mir die Deutschen Thomas Mann weit zu überschätzen scheinen, nicht etwa als Erzähler, wo er fraglos zur ersten Garnitur gehört, sondern als Intellektuellen.

Wie genau Thomas Mann um die Windigkeit seines Status als Intellektueller wusste, macht eine kleine Passage aus seinem schlechtesten Roman »Königliche Hoheit« deutlich. Da muss die Königliche Hoheit gelegentlich in einem kleinen Ort ein Denkmal enthüllen und zu diesem Anlass einige Worte sagen:

Als er im Namen des Großherzogs, »meines gnädigsten Herrn Bruders«, die Enthüllung des Johann-Albrecht-Standbildes zu Knüppelsdorf vollzog, hielt er auf dem Festplatze gleich nach dem Vortrage des Vereins »Geradsinnliederkranz« eine Rede, in der alles untergebracht war, was er sich über Knüppelsdorf notiert hatte, und die allerseits den schönen Eindruck hervorrief, als habe er sich zeit seines Lebens vornehmlich mit den historischen Schicksalen dieses Mittelpunktes beschäftigt. […] Und Klaus Heinrich stand lächelnd, mit einem Gefühle der Ausgeleertheit unter seinem Theaterzelt, froh in der Sicherheit, daß niemand ihn weiter fragen dürfe. Denn er hätte nun kein Sterbenswörtchen mehr über Knüppelsdorf zu sagen gewußt.

Präziser lässt sich der Status des Festredners Thomas Mann nicht auf den Punkt bringen.

Doch zu »Der Tod in Venedig«: Der ältliche Schriftsteller Gustav Aschenbach, nobilitierter Dichter und Urenkel der deutschen Klassik, lässt sich für einen Moment gehen und weicht einer Schreibblockade aus, indem er in Urlaub fährt. In Venedig angekommen, verliebt er sich in einen 14-jährigen polnischen Knaben. Zwar versucht er dem Wieland’schen Rezept für Verliebte zu folgen und so rasch wie möglich fortzulaufen, auch eine Sublimierung ins Geistig-Platonische wird probiert, letztlich hilft aber nichts gegen den einmal ausgebrochenen Mangel an »Zucht« und Aschenbach bleibt auf der Strecke: Mit einem letzten Blick auf das Rückenstück  des göttlichen Knaben erliegt er der Cholera, die er sich im unmoralischengesunden Klima Venedigs zugezogen hat.

Das Erstaunliche an den Texten Thomas Manns ist immer wieder, wie es ihm gelingt, aus dem dünnen Fädchen seines persönlichen Erlebens und Empfindens Erzählungen von bemerkenswert artifizieller Dichte zu stricken. »Der Tod in Venedig« ist, was Ornatus, Motivik, Vorausdeutung, Spiegelungen und  Ringstrukturen angeht, eine Perle traditioneller Erzählkunst. Der Wechsel von ausgewogensten Satzungeheuern und kürzesten Sentenzen verleiht dem Erzähler – bei aller inhaltlichen Schwülstigkeit und Überfrachtung des Erzählten – gerade genügend ironische Distanz, um ihn nicht unerträglich werden zu lassen. Wenn irgend ein deutscher Schriftsteller mit traumwandlerischer Sicherheit auf der Schneide eines Rasiermessers hat tanzen können, dann war es wohl Thomas Mann.

Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Kindle Edition. Frankfurt/M.: Fischer E-Books, 2009. 317 KB. 6,99 €.

(Die zweite Hälfte dieser Besprechung ist auch in der
Reihe 100 Seiten beim Umblätterer erschienen.)

Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom

Wen sollte meine Musik erfreuen? Sollte sie überhaupt erfreuen? Sie sollte beunruhigen. Sie würde keinen hier beunruhigen.

Furioser Abschluss der Trilogie des Scheiterns, 1954, also nur ein Jahr nach »Das Treibhaus« erschienen. Der Titel ist eine offensichtliche Anspielung auf die Erzählung »Der Tod in Venedig« von Thomas Mann. Bei Koeppen ist der Protagonist jedoch kein Schriftsteller, sondern »Tonsetzer«, der junge Komponist Siegfried Pfaffrath, der allerdings nur eine ausgezeichnete Position in einem Figurenensemble einnimmt. Mit »Der Tod in Rom« kehrt Koeppen erzähltechnisch zum ersten Teil der Trilogie zurück: Auch diesmal verfolgt er zahlreiche Figuren über den Verlauf von gut 48 Stunden, wobei zwei seiner Figuren allein durch die schiere Textmenge, die ihnen zugeordnet ist, ausgezeichnet werden: der schon erwähnte Siegfried Pfaffrath und sein Onkel Gottlieb Judejahn. Siegfried wird darüber hinaus auch noch dadurch herausgehoben, dass über ihn nicht nur personal erzählt wird, sondern er in zahlreichen Passagen auch als Ich-Erzähler auftritt.

Erzählt wird die Begegnung der Mitglieder einer deutschen Familie in Rom Anfang Mai 1954. Friedrich Wilhelm Pfaffrath, Oberbürgermeister einer deutschen Stadt, in der er bereits im Dritten Reich eine entsprechende hohe Verwaltungsposition inne hatte, ist mit seiner Frau, deren Schwester und seinem jüngsten Sohn Dietrich, einem Jura-Studenten, in Rom, um den mit seiner Schwägerin Eva verheirateten Gottlieb Judejahn zu treffen: Judejahn war SS-General und zumindest zeitweilig in dieser Funktion auch in Rom stationiert; zurzeit ist er Militätberater im Nahen Osten, eine Tätigkeit, die er als Fortsetzung seines Kampfes gegen die Juden versteht. Judejahn ist in Rom, um für seine Auftraggeber Waffen zu kaufen.

Pfaffraths älterer Sohn Siegfried ist zur gleichen Zeit in Rom, da anlässlich eines Musik-Kongresses eine seiner Kompositionen uraufgeführt werden soll. Dirigent ist der Siegfried väterlich zugetane Kürenberg, der vor dem Machtantritt der Nazis in der Stadt Pfaffraths tätig war und dessen Frau Ilse eine geflüchtete Jüdin aus eben dieser Stadt ist. Ilses Vater wurde von den Nazis wohl unter direkter Verantwortung Judejahns umgebracht, das Kaufhaus der Familie niedergebrannt. Kürenbergs sind nach England geflüchtet, wo Siegfried später als Insasse eines Gefangenenlagers mit Kürenberg Kontakt aufgenommen hat. Weder Siegfried noch die Kürenbergs ahnen zu Anfang des Romans etwas von den schicksalhaften Verwicklungen ihrer Familien.

Ebenfalls in Rom hält sich Adolf, der Sohn von Judejahn und Eva, auf: Wie Siegfried hat auch er in einer Ordensburg die Erziehungsmaschinerie der Nationalsozialisten durchlaufen, ist dann zu Kriegsende fortgelaufen und hat sich der katholischen Kirche zugewandt. Er ist noch in der Ausbildung zum Priester, was bei seinen beiden Elternteilen massive Verachtung auslöst. Aber auch Siegfried, der seine eigene Homosexualität als eine Folge der Erziehung in der Ordensburg begreift, lehnt den von Adolf gewählten Weg ab: Für ihn ist eine Sinngebung der menschlichen Existenz durch die christliche Religion nicht mehr glaubwürdig. Allerdings kann auch seine in der Hauptsache aus seiner Verzweiflung gespeiste Musik diese Funktion nicht erfüllen. Siegfried ist ganz im Sinne der zeitgenössischen Literatur als existenzialistische Figur entworfen.

Während Koeppens Darstellung des Großbürgertums der unmittelbaren Nachkriegszeit am Beispiel der Familie Pfaffrath eine gewisse resignative Gleichgültigkeit gegenüber der neuen Demokratie und eine sentimentale Trauer um die gute, alte Zeit Großdeutschlands zeigt, gerät ihm Judejahn zum Beispiel eines ungebrochen weiter der Ideologie des Nationalsozialismus anhängenden, unbelehrbaren Fanatikers. Judejahn bereut keine seiner Handlungen während des Dritten Reichs, betont sogar mehrfach, dass der Fehler darin bestanden habe, nicht genug Leute umgebracht zu haben, verwendet weiterhin ungebrochen die Phrasen des Nationanalsozialismus und hat nichts von seiner umfassenden Verachtung alles und aller Nichtdeutschen verloren. Judejahn ist nicht nur immer noch ein williger Handlager des Todes, er selbst ist der Tod in Rom, ohne Menschlichkeit und Mitleid, ohne jegliche Kultur, ungebildet, hasserfüllt und voller Ressentiment. In dieser Figur rechnet Koeppen nicht nur mit der unmenschlichen Ideologie des Dritten Reichs ab, er macht auch deutlich, dass sich Vertreter dieses Denkens immer noch auf freiem Fuß befinden und nur darauf warten, nach Deutschland zurückzukehren, um dort wieder die alten Verhältnisse herbeizuführen. Es wird schwer sein, eine solch intensive Darstellung der Unmenschlichkeit nationalsozialistischen Denkens in einer einzigen Figur in der deutschsprachigen Literatur noch einmal zu finden.

Mit diesem Roman hat leider auch das Romanwerk Koeppens seinen Abschluss gefunden. Es ist sehr bedauerlich, dass dieser Autor, der offensichtlich eine der großen erzählerischen Begabungen der Nachkriegsliteratur war, die Geschichte der Bundesrepublik nicht weiter begleitet hat. Es ist allerdings, nimmt man seine Einschätzung von der Wirkungslosigkeit der Kunst ernst, auch nur zu verständlich.

Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom. In: Gesammelte Werke 2. Romane II. st 1774. Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1990. Broschur, S. 391–580 von insg. 581 Seiten.

Statt einer Besprechung

Anlässlich meiner ich weiß nicht wievielten Lektüre von »Don Karlos« statt einer Besprechung dies:

»Ich habe jetzt etwas Wundervolles gelesen, etwas Prachtvolles …«, sagte er. Sie gingen und aßen gemeinsam aus einer Tüte Fruchtbonbons, die sie bei Krämer Iwersen in der Mühlenstraße für zehn Pfennig erstanden hatten. »Du mußt es lesen, Hans, es ist nämlich ›Don Carlos‹ von Schiller … Ich leihe es dir, wenn du willst …«
»Ach nein«, sagte Hans Hansen, »daß laß nur, Tonio, das paßt nicht für mich. Ich bleibe bei meinen Pferdebüchern, weißt du. Famose Abbildungen sind darin, sage ich dir. Wenn du mal bei mir bist, zeige ich sie dir. Es sind Augenblicks- photographien, und man sieht die Gäule im Trab und im Galopp und im Sprunge, in allen Stellungen, die man in Wirklichkeit gar nicht zu sehen bekommt, weil es zu schnell geht …«
»In allen Stellungen?« fragte Tonio höflich. »Ja, das ist fein. Was aber ›Don Carlos‹ betrifft, so geht das über alle Begriffe. Es sind Stellen darin, du sollst sehen, die so schön sind, daß es einem einen Ruck gibt, daß es gleichsam knallt …«
»Knallt es?« fragte Hans Hansen … »Wieso?«
»Da ist zum Beispiel die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von dem Marquis betrogen ist … aber der Marquis hat ihn nur dem Prinzen zuliebe betrogen, verstehst du, für den er sich opfert. Und nun kommt aus dem Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht, daß der König geweint hat. ›Geweint?‹ ›Der König geweint?‹ Alle Hofmänner sind fürchterlich betreten, und es geht einem durch und durch, denn es ist ein schrecklich starrer und strenger König. Aber man begreift es so gut, daß er geweint hat, und mir tut er eigentlich mehr leid als der Prinz und der Marquis zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und ohne Liebe, und nun glaubt er einen Menschen gefunden zu haben, und der verrät ihn …«
Hans Hansen sah von der Seite in Tonio’s Gesicht, und irgend etwas in diesem Gesicht mußte ihn wohl dem Gegenstande gewinnen, denn er schob plötzlich wieder seinen Arm unter den Tonio’s und fragte:
»Auf welche Weise verrät er ihn denn, Tonio?«
Tonio geriet in Bewegung.
»Ja, die Sache ist«, fing er an, »daß alle Briefe nach Brabant und Flandern …«
»Da kommt Erwin Jimmerthal«, sagte Hans.

Thomas Mann
Tonio Kröger

Zwei Thomas-Mann-Hörbücher

Nach der großen Anstrengung des Doktor Faustus (1947) schrieb Thomas Mann noch zwei in Ton und Inhalt humoristische und leichte Romane: Der Erwählte (1951) und Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954). Letzteres blieb insoweit Fragment, als der veröffentlichte Text nur den ersten Teil der Pseudoautobiografie Krulls darstellt und eher unvermittelt abbricht. Dennoch handelt es sich bei den Bekenntnissen um den deutlich prominenteren Text, was sicherlich auch der sehr rasch erfolgten Verfilmung mit Horst Buchholz in der Hauptrolle geschuldet ist.

978-3-8291-1534-6Der Erwählte ist eine parodistische Neuerzählung des Gregorius des Hartmann von Aue. Es ist die Geschichte eines aus einem Geschwisterinzest hervorgegangenen Knaben, der als Kleinkind ausgesetzt, auf einer der Kanalinseln aufwächst und dort zum Geistlichen erzogen wird. Trotz dieser Ausbildung drängt es ihn, Ritter zu werden, was er auch durchsetzt, als er nach einem handgreiflichen Vorfall mit einem seiner Ziehbrüder von seiner unseligen Herkunft erfährt und die Insel verlässt. Er kehrt unwissentlich in seine Heimat zurück, befreit die Stadt, in der seine Mutter residiert, von einer Belagerung und heiratet im Anschluss seine Mutter, mit der er zwei Töchter zeugt. Als zufällig die verwickelten Verwandtschaftsverhältnisse zutage kommen, verpflichtet Gregor seine Mutter zur Aufgabe der Regierung und zu wohltätigem Dienst, während er selbst sich im Sünderhemd zu einem Exil auf einer winzigen Felseninsel verbannt, auf der er auf wundersame Weise von der Erde selbst genährt wird. Befreit wird er nach 17 Jahren von zwei römischen Gesandten, die sich nach göttlicher Vision auf die Suche nach ihm gemacht hatten, um ihn als Papst nach Rom zu führen.

Der märchenhafte Grundton dieser Erzählung ist bereits in der Vorlage zu finden und wird von Thomas Mann in ausschmückendem Stil und epischer Breite übernommen. Da schon Hartmann nicht die Absicht verfolgt, die Biografie eines konkreten Papstes zu schreiben, kann sich Thomas Manns Text gänzlich im Reich der Ironie bewegen. Kein Satz, keine Szene ist der Ernsthaftigkeit verpflichtet, alles bewegt sich im Spielerischen. Das Faszinierendste dürfte sein, dass der Text sogar dann parodistisch wirkt, wenn der Leser die Vorlage nicht kennt. Von allen Romanen Thomas Manns ist Der Erwählte vielleicht sein freiester und gelöstester überhaupt.

978-3-8291-1536-0 Bekenntnisse des Hochstapler Felix Krull ist im Gegensatz dazu keine Parodie eines konkretes Textes, sondern gleich eines ganzes Genres: des deutschen Entwicklungsromans. Auch hier hat die Parodie in der Hauptsache humoristische und keine literaturkritische Absicht. Erzähler ist der alte Felix Krull, der die Geschichte seines Lebens aufschreibt: Sohn eines Sektproduzenten aus dem Rheingau, der sich den Folgen eines Bankrotts durch Selbstmord entzieht, sieht er sich gezwungen, eine Stellung als Liftboy in Paris anzutreten. Er ist von auffallender Schönheit, und seine Neigung zu gehobener Sprache und Umgangsformen zeichnen ihn ebenso aus wie eine skrupellose Dreistigkeit bei Diebstahl und Betrug. Seine Karriere als Hochstapler beginnt im eigentlichen Sinne, als er einen luxemburgischen Marquis kennenlernt, der ein Double benötigt, das für ersatzweise für ihn eine von seinen Eltern angeordnete Reise nach Südamerika antritt. Felix reist also nach Lissabon, von wo aus er mit einem Schiff nach Argentinien fahren soll. Unterwegs macht er die Bekanntschaft deutschen Professors Kuckuck, der in Lissabon ein Museum leitet. Natürlich wird er auch in die Villa Kuckuck eingeladen, wo er sich sowohl in die Tochter als auch in die portugiesische Frau des Professors verliebt. Leider bricht der Roman gerade an dem Punkt ab, als Felix sowohl bei der Mutter als auch bei der Tochter zum Ziel gekommen ist. Aus dem Fragment heraus lässt sich leider nur vermuten, ob nicht die wirkliche Hochstapelei Krulls darin besteht, sich diesen fantastischen Lebenslauf zuzuschreiben.

Von beiden Büchern – so wie von zahlreichen anderen Romanen Thomas Manns – gibt es ungekürzte Lesungen Gert Westphals aus einer Zeit, als es das Hörbuch zumeist nur im Radio und nur ausnahmsweise als Audiocassette gab. Heute liegen diese Lesungen selbstverständlich auf CD vor, und es steht zu hoffen, dass auch hier bald MP3-Versionen eine kompakte und preisgünstige Alternative liefern. Westphal hat für meinen Geschmack eine ideale Stimme für die Texte Thomas Manns; er befindet sich stets auf der Höhe der Texte – einzig sein Englisch hat einen störenden Akzent – und macht Manns hier und da zu feisten Manierismus durch seine Sprechkunst durchsichtig  und erträglich. Nachdem ich in den letzten Jahren eher Schwierigkeiten hatte, mich mit Manns Spätwerk noch einmal anzunähern, haben diese beiden Hörbücher mir einen neuen Weg eröffnet, und ich werde es demnächst auch einmal mit der Westphalschen Lesung des Doktor Faustus versuchen.

Thomas Mann: Der Erwählte. Ungek. Lesung von Gert Westphal. Berlin: Universal/Deutsche Grammophon, 2005. 10 CDs mit zus. etwa 660 Minuten Laufzeit. Ca. 60,– €.

Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Ungek. Lesung von Gert Westphal. Berlin: Universal/Deutsche Grammophon, 2005. 13 CDs mit zus. etwa 990 Minuten Laufzeit. Ca. 75,– €.

Horst Günther: Das Bücherlesebuch

buecherlesebuchDer Titel Bücherlesebuch ist etwas unspezifisch; im Mittelpunkt dieses Buchs steht der Gedanke, wie eine private Bibliothek aufzubauen wäre. Zwar werden auch öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken behandelt, auch dem Bibliographienwesen wird ein wenig Raum gewidmet, aber der Hauptteil des Buches besteht aus Empfehlungen zur europäischen Literatur, ergänzt um einige kurze Abschnitte zu Fachbereichen wie Philosophie, Geschichte, Jura, Naturwissenschaften, Kunst und einigen anderen. Sogar für ein Musikarchiv als Ergänzung der Bibliothek wird plädiert.

Die Stärke des Buches liegt in Günthers ganz subjektivem Ansatz, der um seine eigene Perspektive weiß, weder das deutliche Urteil scheut, noch glaubt, damit sei die Sache erledigt: »Man lege seiner Neugier keine Zügel an …« [S. 131], ist wahrscheinlich der Satz, der den Geist des Buches am besten zusammenfasst. Erfrischend ist es, etwa solche Einschätzungen zu lesen:

Was Thomas Mann betrifft, so nehme man einmal eine Seite aus dem Tod in Venedig und lege sie neben eine aus Goethes Wahlverwandtschaften und prüfe, wer schreiben kann. Er hat ja seine Verdienste, aber man lasse sich doch nicht einreden, daß ein Dokument des deutschen Zusammenbruchs wie der Doktor Faustus ein Meisterwerk sei. Er hat auf das Trauma mit einer opportunistischen Geschichtsdeutung reagiert, die dem gebildeten Philister ein Verhängnis mundgerecht vorlegt. [S. 102]

Das ist unfraglich ungerecht, aber eben von einer subjektiven Ungerechtigkeit, die aus einem Überblick heraus gewonnen ist und die Dinge in Relation zu setzen versteht. Solch klärende Subjektivität ist im Gespräch von Leser zu Leser – wohlgemerkt nicht unter Literaturwissenschaftlern, denn die sind einer höheren Objektivität verpflichtet, ohne sie in den meisten Fällen zu erreichen – meist nützlicher als abwägende Versuche, allem gerecht zu werden.

Kernstück ist eine sehr knapp gehaltene Geschichte der europäischen Literaturtradition beginnend beim Gilgamesch-Epos und endend im 20. Jahrhundert. Günthers Empfehlungen sind nicht überraschend und können sicher in ähnlicher Zusammenstellung an zahlreichen Stellen gefunden werden. Auch hier ist es der persönliche Zugriff Günthers, seine eigene Lesegeschichte, die das Buch aus der Masse heraushebt. Hier spricht – ich habe es schon gesagt – ein Leser zu Lesern, ohne Dünkel und auf gleicher Augenhöhe.

Günther behandelt sein breites Thema in kurzen, prägnanten Abschnitten, die es auch erlauben, im Buch zu blättern, kursorisch zu lesen, sich das eine anzueignen und das andere zu ignorieren. Eine kurzweilige und anregende Lektüre für alle leidenschaftlichen Leser und solche, die es erst noch werden wollen.

Horst Günther: Das Bücherlesebuch. Vom Lesen, Leihen, Sammeln: von Büchern, die man schon hat, und solchen, die man endlich haben will. Wagenbach Taschenbuch 200. Berlin: Klaus Wagenbach, 1992. 166 Seiten. 8,50 €.