Giovanni Boccaccio: Von berühmten Frauen

Aber wozu die vielen Worte?

Giovanni Boccaccio ist durch ein Jugendwerk, das Decamerone, berühmt geworden. Das Buch hat ihm den Weg in das Umfeld Petrarcas eröffnet, den er später nicht müde wurde, seinen Lehrer zu nennen. Er ist dann von der Volkssprache zum Lateinischen übergegangen und hat an­ge­fan­gen, gelehrte Bücher zu verfassen, so eine heute nur wenig bekannte, umfangreiche Genealogie der heidnischen Götter und eben auch eine Anthologie kurzer Bio­gra­phien berühmter Frauen ‒ De mulieribus claris ‒, die gerade bei C. H. Beck in kleiner Auswahl neu übersetzt in der Reihe textura wieder erschienen ist.

Das Büchlein enthält 31 der ursprünglich 106 Kurzportraits, bei denen Boc­cac­cio der Antike ein absolutes Übergewicht einräumt: 100 seiner Texte behandeln Frauengestalten der Antike, wobei er mit der biblischen Ur­mut­ter Eva beginnt, um auch im Weiteren keine Unterschiede zwischen my­tho­lo­gi­schen und historischen Figuren zu machen. Die vom Übersetzer getroffene Auswahl ist amüsant und unterhaltsam und hat gerade die richtige Länge, um den Leser nicht zu strapazieren. Die Übersetzung kommt dem modernen Leser entgegen, ohne dabei die Herkunft des Originals aus dem Lateinischen gänzlich zu verleugnen.

Eine moderne Lektüre dieses spätmittelalterlichen Textes ist nicht ohne Reiz, denn so sehr sich Boccaccio auch bemüht, die berühmten Frauen nicht nur „als Frauen“ zu rühmen, so sehr ist es am Ende immer wieder ihre Tu­gend­haf­tig­keit, auf der ihre Berühmtheit gründet. Dort, wo sich andere Qua­li­tä­ten beim besten Willen nicht verleugnen lassen, setzt sich sein Weltbild letztlich doch durch:

Ich würde meinen, dass die Natur bisweilen Fehler begeht, wenn sie Seelen mit menschlichen Körpern verbindet: wenn sie beispielweise eine Seele in eine weibliche Brust gießt, die sie für eine männliche vor­ge­se­hen hatte. Da jedoch Gott selbst der Schöpfer solcher Menschen ist, wäre es verwerflich zu glauben, er sei bei seiner Schöpfung kurz eingenickt.

Ganz niedlich wird es dort, wo er sich gezwungen sieht, die rezente Königin von Neapel, Johanna von Anjou, als Schlussstück aufzunehmen, und an ihr unter anderem dies zu loben findet:

In den von ihr beherrschten Gebieten sorgte sie dafür, dass nicht nur Arme, sondern auch Reiche Tag und Nacht sicher und furchtlos ihrer Wege gehen können.

Wer es gelingt, dass sogar die Reichen vor Räubern sicher sind, muss über wahre Herrscherinnenqualität verfügen!

Mit ein wenig Ironie gelesen, eine überraschend frische und vergnügliche Lektüre.

Giovanni Boccaccio: Von berühmten Frauen. Ausgewählt und aus dem Lateinischen übersetzt von Martin Hallmannsecker. München: C. H. Beck, 2021. Bedruckter Pappband, 159 Seiten. 18,‒ €.

George Orwell: Farm der Tiere / 1984

George Orwell ist – zumindest in Deutschland – der Autor zweier Bücher oder vielleicht auch nur zweier Sätze: „Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher als andere“ und “Big Brother is Watching You”. Das zeigt sich nun einmal mehr, nachdem am 1. Januar seine Texte gemeinfrei geworden sind: Es sollen allein acht Neu-Übersetzungen von Nineteen Eighty-Four und fünf von Animal Farm erscheinen,* und das obwohl Michael Walters Übersetzungen aus den 80er Jahren sicherlich immer noch tadellos und lesbar sind. Orwell zeigt also zumindest noch wirtschaftliches Potenzial. Ob es über die üblichen Schlagworte hinaus noch eine Auseinandersetzungen mit ihm geben kann, wird sich zeigen müssen.

Farm der Tiere

Wurde er gefragt, ob er seit Jones’ Verschwinden nicht glücklicher sei, sagte er nur: «Esel haben ein langes Leben. Keiner von euch hat je einen toten Esel gesehen», und mit dieser kryptischen Antwort mussten sich die anderen begnügen.

Der Text wurde Ende 1943, Anfang 1944 geschrieben, aber Orwell hatte ein wenig Mühe, einen Verleger dafür zu finden. Orwell machte dafür in einem Essay, der der Erstausgabe als Vorwort beigegeben war und den Manesse zusammen mit Orwells Vorwort zur ukrainischen Übersetzung im Anhang dieser Neu-Übersetzung mitliefert, die freiwillige Selbstzensur der Verlage verantwortlich, die in Kriegszeiten keinen Text drucken wollten, der offensichtlich gegen einen wichtigen Verbündeten und seinen politischen Führer polemisiert. Das ist nicht unwahrscheinlich, bleibt aber natürlich letztendlich Spekulation. Es mag auch sein, dass den Verlegern die Allegorie zu offensichtlich oder auch zu platt gewesen ist.

Erzählt wird von einer Revolution auf der etwas heruntergekommenen „Herrenfarm“, auf der ein sterbender alter Eber die Tiere, insbesondere die anderen Schweine, für die Ungerechtigkeit ihrer Existenz sensibilisiert. Anlässlich eines eher beiläufigen Falls herrschaftlicher Gewalt des stets betrunkenen Farmers Jones entsteht ein Aufstand der Tiere, der zur Vertreibung der Menschen von der Farm führt. Die so befreiten Tiere bilden nach der Lehre des alten Ebers eine sozialistische Kommune, in der die Schweine aufgrund ihrer Intelligenz natürlicherweise die Führungsebene bilden. Die beiden anführenden Eber, Napoleon und Schneeball, leben eine Weile in Konkurrenz zueinander, bis Napoleon, der einen Wurf junger Hunde von den anderen Tieren isoliert und zu seiner Leibgarde ausgebildet hat, in einem Putsch die Macht übernimmt, Schneeball vertreibt und alle demokratischen Strukturen abschafft.

Unter der Diktatur Napoleons treten für die Tiere – außer den Schweinen und der Polizeitruppe der Hunde – bald ärgere Verhältnisse ein als zuvor: Mehr Arbeit – es muss nicht nur die übliche Arbeit erledigt werden, sondern zudem wird noch eine weitgehend sinnlose Windmühle errichtet – und wenigerer Futter, da man statt Jones, seiner Frau und seinen Knechten nun die Oberschicht der Schweine durchfüttern muss, die langsam – und das ist die Endpointe des Buches – immer mehr zu Menschen werden und von ihren Nachbarn nach und nach als Geschäftspartner akzeptiert und auch hofiert werden.

Alles in dieser Erzählung ist offenbar und vorhersehbar, aber es ist auch detailliert und intelligent umgesetzt: Die Katze als Individualistin, der Esel als zynischer Stoiker und der zahme Rabe als Vertreter des Klerus sind schön ausgespielt. Es war Orwells Absicht, seine Allegorie verständlich und durchsichtig zu gestalten:

Nach meiner Rückkehr aus Spanien wollte ich den Sowjetmythos in einer Geschichte entlarven, die jedermann ohne Weiteres verstehen und die unschwer in andere Sprachen übersetzt werden konnte. [S. 159]

Der bis heute anhaltende Erfolg des Buches beweist, wie gut ihm dies gelungen ist. Das Buch eignet sich durchaus nicht nur als Allegorie auf den Stalinismus, sondern kann als Beschreibung zahlreicher Diktaturen des 20. Jahrhunderts gelesen werden. Nur bleibt das „Märchen“ letztendlich fatalistisch; die politische Vision des Sozialisten Orwell kann und sollte auch nicht thematisiert werden. Auch das machte das Buch für ein großes, besserwisserisches Publikum der westlichen Hemisphäre attraktiv.

Die Übersetzung Blumenbachs ist, wie zu erwarten, tadellos und eingängig; auf einen detaillierten Vergleich mit dem Original oder den beiden älteren Übersetzungen habe ich verzichtet.

George Orwell: Farm der Tiere. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Zürich: Manesse, 2021. Pappband, Lesebändchen, 190 Seiten. 18,– €.

1984

Die Sache konnte unmöglich glücklich enden; so etwas geschah im wirklichen Leben nicht.

Nur vier Jahre nach dem Erscheinen von Farm der Tiere und dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgte Orwells nächste Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus. Diesmal richtet sich der Text nicht nur gegen Stalinismus oder Nationalsozialismus, sondern gegen das System des staatlichen Totalitarismus schlechthin. Zu diesem Zweck entwickelte Orwell die Utopie des absoluten Machtstaates Ozeanien, der sich im Jahr 1984 seit 25 Jahren als eine von drei verbliebenen Supermächten in einem endlosen Krieg befindet. Der Staat wird beherrscht von einer namenlosen Partei, an deren Spitze wiederum der wahrscheinlich fiktive Große Bruder steht, eine absolute Führerfigur, zu der die Mehrheit der Parteigenossen bewundernd aufblickt.

Die Gesellschaft Ozeaniens ist ein Drei-Klassen-System, in dem die Arbeiterschicht – genannt Prolos – 85 % der Bevölkerung ausmachen; sie sind als Individuen vollständig bedeutungslos und dienen nur als Quelle von Arbeitskraft und Reservoir von Soldaten. Die restlichen 15 % bilden Die Partei: Mehr als 13 % gehören zur Äußeren Partei, die die alte Verwaltung abgelöst hat. Die Mitglieder der Äußeren Partei stehen potenziell unter ständiger Überwachung, die sowohl technisch als auch durch gegenseitige Bespitzelung und Indoktrination ihrer Kinder realisiert wird. Die Verwaltung ist in vier riesigen Ministerien organisiert, die als Ministerien der Wahrheit (Propaganda), des Friedens (Krieg), der Liebe (Hass, eigentlich die Geheimpolizei) und Fülle (Produktion) das Stadtbild Londons beherrschen. Die verbleibenden weniger als 2 % (immerhin noch sechs Millionen Menschen) bilden die Innere Partei, die staatliche Führung Ozeaniens im engeren Sinne. Sie leben in Luxus und Reichtum, und ihre Überwachung scheint zwar vorhanden zu sein, ist aber weniger rigoros als die der Äußeren Partei. Es gibt in Ozeanien nicht viele Informationen über die Gesellschaften der beiden anderen Großmächte Eurasien und Ostasien, aber es darf vermutet werden, dass in ihnen ganz ähnliche Verhältnisse herrschen.

Die wirtschaftliche Situation ist durch den permanenten Kriegszustand bestimmt. Die Prolos und, wenn auch in geringerem Maße, die Mitglieder der Äußeren Partei leben in ständigem Mangel. Die Ernährung ist schlecht und von Ersatzstoffen geprägt. Genussmittel existieren zwar für die Mitglieder der Äußeren Partei: Sie haben etwa Gin, Zigaretten und Schokolade, aber von so schlechter Qualität, dass selbst ihr dauerhafter Genuss keine vollständige Gewöhnung herbeiführt. Die ständige Reduzierung der Rationen wird begleitet von einer Propaganda, die deren Erhöhung und überhaupt eine kontinuierliche Steigerung der Lebensqualität verkündet. Es wird von Parteimitgliedern erwartet, dass sie diesen offensichtlichen Widerspruch ignorieren bzw. als positive gegenseitige Verstärkung begreifen können. Ob sich Ozeanien tatsächlich im Krieg befindet, ist zumindest ungewiss. Da die Partei sämtliche Nachrichtenkanäle beherrscht, ist es für ein einfaches Parteimitglied nicht möglich, die Nachrichten über den Krieg zu prüfen. Sicher aber scheint zu sein, dass niemand in der Staatsführung daran interessiert ist, den permanenten Kriegszustand zu beenden.

Konkret erzählt wird die Geschichte des Parteigenossen Winston Smith, der im Ministerium der Wahrheit an der beständigen Umarbeitung der Vergangenheit mitarbeitet. Die Aufgabe seiner Abteilung ist es, die Archive jeweils an den aktuellen Stand der Wirklichkeit anzupassen, wie sie von der Inneren Partei definiert wird. So müssen in alten Zeitungen etwa Statistiken gefälscht werden, um ehemalige Voraussagen an die aktuelle Produktion anzupassen und so die real nicht existierende Überproduktion zu beweisen. Allerdings ist es wahrscheinlich so, dass auch die aktuellen Zahlen keiner Realität entsprechen, was den betriebenen Aufwand ein wenig merkwürdig erscheinen lässt. Auch müssen die Biographien von Personen, die in politische Ungnade gefallen sind oder die ermordet wurden, aus den Archiven getilgt und die entsprechenden Passagen mit anderem Material aufgefüllt werden. Wozu diese Arbeit letztlich dient, wer also mit den gefälschten Archiven getäuscht werden soll, bleibt im gesamten Roman undeutlich. In anderen Abteilung des Ministeriums der Wahrheit werden Romane produziert, die weitgehend maschinell strukturiert und geschrieben werden. Andere wiederum arbeiten an der Ausgestaltung der Parteisprache Neusprech, die irgendwann die Alltagssprache ablösen und das Formulieren ketzerischer Gedanken unmöglich machen soll. (Bertrand Russells Konzept der Idealsprache lässt grüßen.)

Trotz seiner Zugehörigkeit zur Äußeren Partei ist Winston Smith ein heimlicher Ketzer. Er ist der Überzeugung, dass der Lebensstandard in seiner Kindheit – Winston ist 1944 oder 1945 geboren – höher gewesen sei, er glaubt zu wissen, dass das Essen früher besser war, er kann sich an den Geruch von echtem Kaffee erinnern und was der Dinge mehr sind. Außerdem weigert sich sein Gehirn, einander widersprechende Tatsachen einfach zu vergessen, also etwa dass vor wenigen Tagen die Ration an Schokolade gekürzt wurde, während jetzt die Nachricht ausgegeben wird, sie sei erhöht worden. Sein ketzerischster Gedanke aber ist, dass er sich erinnert, dass vier Jahre zuvor Eurasien der Kriegsgegner Ozeaniens war, während die Partei nicht nur behauptet, der Gegner sei Ostasien, sondern es sei auch immer schon Ostasien gewesen.

Der erste der drei Teile des Romans liefert eine Beschreibung der Ozeanischen Gesellschaft und des inneren Widerstandes Winstons. Gleich auf den ersten Seiten des Romans beginnt er, ein Tagebuch zu führen, was allein ein todeswürdiges Verbrechen darstellt. Nicht, dass es verboten wäre, das zu tun; es ist überhaupt nichts wirklich verboten, da es keine geschriebenen Gesetze mehr gibt. Zugespitzt wird Winstons Lage dadurch, dass sich ihm eine junge Frau aufdrängt, die auch im Ministerium für Wahrheit arbeitet. Beide treffen sich, haben Sex – für Genossen geächtet von der Partei, weil sie keine emotionale Bindung zu jemand anderem als dem Großen Bruder erlaubt –, richten sich ein geheimes Liebesnest ein und schließen sich auch noch der wahrscheinlich ebenfalls fiktiven Widerstandsbewegung des Staatsfeindes Emmanuel Goldstein an. Mit ihrer Verhaftung durch die Gedankenpolizei endet der zweite Teil des Romans. Der dritte beschreibt Winstons Umerziehung im Ministerium der Liebe. Die Partei legt großen Wert darauf, Winston von seinem Wahn zu heilen, dass er eine Realität wahrnimmt und erinnert, die den Aussagen der Partei widerspricht. Erst wenn das gelingt, ist Winston reif für seine Exekution.

Der Roman ist außergewöhnlich reich an Erfindungen und ideologischen Konzepten, ist überaus sorgfältig konstruiert, führt eine große Menge präziser Einzelheiten der erfundenen Welt vor, ist psychologisch glaubhaft und nimmt sowohl seinen Figuren als auch seinen Lesern jegliche Hoffnung, dass ein solcher Staat jemals zu besiegen wäre. Wie schon an anderer Stelle gesagt, ist Orwell so konsequent, dass er seinem Protagonisten jeden äußeren oder inneren Fluchtort verweigert. Orwells totalitärer Staat ist tatsächlich total. Dabei betreibt Orwell für die ideologische Seite seiner Fiktion einen ungewöhnlich hohen Aufwand. Ein nicht unerheblicher Abschnitt des zweiten Teils wird mit langen Zitaten aus einer theoretischen Analyse des Systems der Partei gefüllt, die einem Handbuch für den absoluten Staat entnommen sein könnte. Er fügt außerdem einen Anhang hinzu – wahrscheinlich der ungelesenste Teil des Romans –, der die Idee der Parteisprache Neusprech erläutert. All das macht klar, um welche Genauigkeit sich Orwell bemüht hat. Es ist, als solle diese Präzision im Detail der Beliebigkeit der Welt, die die Partei als Wirklichkeit erzeugt, gegenüberstehen.

Es ist nicht ohne Ironie, dass dieser Roman auf breiter Front als Beschreibung eines Überwachungsstaates gelesen wurde und wird. Die Überwachung betrifft bei Orwell überhaupt nur einen kleinen Teil der Bevölkerung und ist dort alles andere als absolut. Viel wichtiger als die tatsächliche Überwachung der Parteimitglieder ist die Drohung, jederzeit beobachtet werden zu können; sie vernichtet jegliches Privatleben eines Parteigenossen. In der Effektivität ihrer Überwachung sind die realen Staaten des 21. Jahrhunderts Ozeanien so weit voraus, dass Orwell wahrscheinlich staunend vor dem Phänomen stünde, dass sich in ihnen überhaupt noch irgendwer als frei empfinden kann. Andererseits ist der permanente Kriegszustand der alle anderen überwältigende Aspekt der Orwellschen Dystopie. Er dient nicht nur der Kontrolle der Bevölkerung, sondern auch dazu, sie in Armut und damit in Unwissenheit – „Unwissen ist Stärke“ ist eines der drei zentralen Schlagworte der Partei – zu halten, indem er die Überproduktion an Konsumgütern, die aufgrund des Einsatzes von Maschinen existiert, im Aufwand des Krieges vernichtet. Dabei ist es, wie Julia scharfsinnig feststellt, völlig unerheblich, ob sich Ozeanien tatsächlich im Krieg befindet oder ob es den Krieg nur inszeniert, indem es seine Raketen auf die eigene Bevölkerung abschießt.

Es mag an der Zeit sein, Orwell historisch zu lesen, um vor dieser Folie zu begreifen, wie sich Machtergreifung und -erhaltung im 21. Jahrhundert entwickelt haben, gerade jetzt, wo ein Elefant im Porzellanladen der Macht gegen seinen Willen und unter Umsturzdrohungen von der Bühne abtreten muss. Dem Totalitarismus orwellscher Ausprägung sind wir anscheinend entgangen, aber wohl um den Preis, dass die Strukturen der Macht heute subtiler geworden sind, als es für Freiheit und Würde der Menschen gut ist.

George Orwell: 1984. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Zürich: Manesse, 2021. Pappband, Lesebändchen, 446 Seiten. 22,– €.


* Ich habe Ankündigungen gefunden von: Anaconda (beide Titel), dtv (beide), Fischer, Insel, Manesse (beide), Nikol (beide), Reclam (beide) und Rowohlt. Hinzukommen zwei Bearbeitungen von 1984 als Graphic Novel (Knesebeck und Splitter) und noch einige originalsprachliche Ausgaben.

Thomas Wolfe: Eine Deutschlandreise

Wolfe war mit seinem Schau heimwärts, Engel für mich eine der großen Entdeckungen der letzten Jahre. Bereits eine flüchtige biographische Annäherung an den Autor macht klar, dass Deutschland unter allen europäischen Staaten den größten und nachhaltigsten Eindruck auf ihn gemacht hat. Nun ist bei Manesse eine Sammlung aller – so wenigstens der Herausgeber im Vorwort – Deutschland betreffenden Notizen, Briefe und kurzer Texte erschienen. Dokumentiert werden auf diesem Weg sechs Reisen Wolfes nach Deutschland zwischen 1926 und 1936. Während sich gleich zu Anfang eine Spannung zwischen seiner sentimentalen Begeisterung für die Landschaft und alten Städte einerseits und seiner Antipathie gegen eine bestimmte Sorte specknackiger Grobiane andererseits zeigt, steht am Ende sein Erschrecken über dass unter der Nazi-Diktatur unfrei gewordene Land.

Dabei dokumentiert Wolfe nicht nur die Unfreiheit, die Einzug ins private Leben der Deutschen genommen hat – Einschränkungen bei der Verfügung über das eigene Vermögen, Gastgeber, die Bedenken haben, wen Wolfe mit zu einer Party bringen könnte, ein Mann (Vorbild für ihn ist Heinz Ledig, der Sohn seines Verlegers Ernst Rowohlt), der sich Sorgen macht, man werde ihm seine wilde Ehe verbieten, wenn sie entdeckt wird etc. pp. –, sondern in einer Reiseerzählung auch die Judenverfolgung des Dritten Reichs.

Dem steht gegenüber, dass Wolfe in derselben Zeit in Deutschland eine Art von Ruhm und Prominenz erfährt, die ihm in seinem Heimatland weitgehend unbekannt sind. In Deutschland wird er nicht nur von seinem Verleger als bedeutender Autor gefeiert, er ist auch ein geschätzter Gast des US-amerikanischen Botschafters, unternimmt mit dessen Tochter einen Ausflug nach Eisenach und Weimar, wird von einer Party zur nächsten gereicht usw. usf. Finanziell zahlt sich das aber nur bedingt aus, da Wolfe seine Tantiemen nicht ins Ausland transferieren darf; so unternimmt er seine letzte Reise nach Deutschland wohl in der Hauptsache, um das Geld auszugeben, das sich aus dem Verkauf seiner Bücher dort inzwischen angesammelt hatte.

Insgesamt kann der Band natürlich kein sehr geschlossenes Bild liefern, da er sehr unterschiedliche Textsorten vereint, die mit recht verschiedenen Intentionen verfasst wurde. Die Notizbuch-Einträge gehen oft nicht über reine Erinnerungsnotate hinaus, die Briefe sind sehr unterschiedlich in Ton und Stilisierung je nachdem, wer ihr Empfänger ist, und kurze Erzählungen sind nicht unbedingt Wolfes Stärke als Erzähler. Dennoch alles in allem ein sehr lesenswerter und informativer Band, sowohl was die Person Wolfes angeht, als auch seinen Blick auf das sich verändernde Deutschland der Zwischenkriegsjahre betreffend.

Thomas Wolfe: Eine Deutschlandreise. Hg. v. Oliver Lubrich. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Renate Haen, Barbara von Treskow und Irma Wehrli. Zürich: Manesse, 2020. Pappband, Lesebändchen, 410 Seiten. 25,– €.

Salman Rushdie: Quichotte

Solche Geschichten gehen alles in allem nicht gut aus.

Georg Christoph Lichtenberg hat einmal gemeint:

Ob ich gleich weiß, daß sehr viele Rezensenten die Bücher nicht lesen die sie so musterhaft rezensieren, so sehe ich doch nicht ein was es schaden kann, wenn man das Buch lieset, das man rezensieren soll.

Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe I. München: Hanser, 1968. S. 659. [J 46]

Woran allein man gut erkennen kann, dass Lichtenberg mit der Literatur unserer Zeit nicht hinreichend bekannt war. Denn die meisten Rezensionen zu Salman Rushdies neuem Roman, in die ich hineingeschaut habe, werden mit dem Buch spielend fertig, weil ihre Verfasser das Buch offenbar nicht oder wenigstens nur flüchtig gelesen haben. Hat man dagegen den Roman und halbwegs gründlich gelesen, sieht man sich vor die herkulische Aufgabe gestellt, das Buch in aller Kürze vorzustellen zu sollen, ohne es entweder in einem vollständig falschen Licht erscheinen zu lassen oder sich komplett in kryptisches Raunen zu verlieren. Versuchen wir es dennoch:

Erzählt wird diese Geschichte auf mindestens zwei fiktionalen Ebenen – Arno Schmidt hätte von einem Längeren Gedankenspiel gesprochen –, erstens der des fiktiven Schriftstellers Sam DuChamp (das ist nur sein Pseudonym, seinen wahren Namen erfahren wir nicht), eines mäßig erfolgreichen Verfassers von Agenten-Thrillern, der gerade dabei ist die Geschichte eines Quichottes des 21. Jahrhunderts zu schreiben, die die besagte zweite Ebene bildet. Dieser Schriftsteller, der wie die meisten Figuren dieser Ebene nur nach seiner verwandtschaftlichen Beziehung benannt wird, Bruder also, lebt in New York und ist seit vielen Jahren mit seiner Schwester, Schwester genannt, zerstritten, nachdem er ihr vorgeworfen hatte, sich am väterlichen Erbe betrügerisch bereichert zu haben. Schwester ist Rechtsanwältin und lebt, verheiratet mit einem Richter, mit dem sie die Tochter Tochter hat, in London. Sie steht kurz vor dem Gipfel der gesellschaftlichen Anerkennung, da sie Sprecherin des englischen Oberhauses werden soll. Aber auch hier ist nicht alles Gold, was glänzt.

Weder Bruder noch Schwester sind ihre Karrieren an der Wiege gesungen worden: Beide stammen – wie der sie erfindende Autor Salman Rushdie – aus Bombay. Auch der von Bruder erfundene Quichotte stammt aus dieser Stadt, lebt aber ebenfalls schon lange in den USA; er ist etwa 70 Jahre alt, wird zu Anfang des Buches von seinem Cousin zwangspensioniert – er hat zuletzt als Pharmavertreter gearbeitet. An seine Vergangenheit kann er sich nur lückenhaft erinnern, da er früher einmal einen Schlaganfall erlitten hat; seitdem ist er etwas wunderlich geworden, verbringt seine Freizeit hauptsächlich vor dem Fernseher (das sind seine Ritterromane!) und ist verliebt in die ebenfalls aus Indien stammende Talkshow-Moderatorin Salma R. (!) In die Freiheit des Ruhestandes entlassen, begibt er sich auf eine Quest, Salmas Liebe zu erlangen. Um den langen Weg nach New York nicht alleine zurücklegen zu müssen, erfindet er sich einen Sohn, Sancho, der auf gewisse Weise eine dritte fiktionale Ebene in das Buch einzieht. Dieser erfundene Sohn, obwohl zuerst eindeutig ein Gedankenprodukt Quichottes, gewinnt rasch an Selbstständigkeit und wird zur dritten Hauptfigur des Romans. Er erweist sich dabei weniger als ein Abbild des Sancho Pansa des Cervantes, sondern ist offenbar an Collodis Pinocchio entlang erfunden.

Das Buch erzählt in alternierenden Abschnitten die Geschichten Quichottes, Bruders und schließlich auch Sanchos. Dabei nutzt Rushdie alle Freiheiten des traditionellen pikarischen Romans: Immer wieder finden sich Nebengeschichten und unvorbereitete Abschweifungen, Pfade der Erzählung, die letztlich nirgends hin führen, fantastische Einschübe, albtraumhafte Sequenzen und was der Tricks mehr sind. Die Flut der Anspielungen auf Literatur, aber besonders auch auf Film und Fernsehen ist überwältigend – allein mit der Aufzählung der Offensichtlichsten ließen sich Seiten füllen –; ganz nebenbei wird ein Agententhriller eigebaut, in den Bruders Sohn Sohn verwickelt ist; es wird die Opioid-Sucht in der amerikanischen Gesellschaft thematisiert; der alltägliche Rassismus in den USA kommt ebenso vor wie das Problem des Kindesmissbrauchs in Familien; und nicht zuletzt sind auch Verschwörungstheoretiker prominent vertreten und ein wirtschaftlich erfolgreiches Genie, das den Weltuntergang prophezeit und die Menschheit auf die Erde eines Paralleluniversums hinüber retten will. Und bei all diesen Wendungen und Themen findet Rushdie immer erneut einen Weg, sie auf den Ritter von der traurigen Gestalt und seinen verzweifelten Kampf gegen die Realität zu­rück­zu­be­zie­hen.

Ich weiß wohl, dass Rushdies Bücher immer so sind, wenn ich auch von seinen Romanen zu wenige gelesen habe, um dieses Vorurteil tatsächlich inhaltlich füllen zu können, aber es hat mich überwältigt. Dieses Buch ist von einem Reichtum an Erfindung, einer Freiheit der Phantasie, einer Stringenz des Gedankens und nicht zuletzt einem so souveränen Humor, dass ihm eine Besprechung wohl nicht gerecht werden kann. Um auch mit Lichtenberg zu schließen, sei einmal mehr gesagt:

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.

Ebd. S. 359. [E 79]

Salman Rushdie: Quichotte. Aus dem Englischen von Sabine Herting. München: C. Bertelsmann, 2019. Pappband, 461 Seiten. 25,– €.

Raymond Queneau: Zazie in der Metro

»Was für ein Krampf, das Dahrsein«

Nach langwierigen Vorarbeiten erschien dieser Roman 1959 und war praktisch über Nacht ein Erfolg, wurde bereits in darauf folgenden Jahr verfilmt und auch ins Deutsche übersetzt. Mit diesem Roman wurden die deutschen Leserinnen und Leser zum ersten Mal mit der Avantgarde der französischen Literatur bekannt, die Eugene Helmlé wenigstens für eine Weile praktisch im Alleingang ins Deutsche übersetzte. Nach Queneaus Stilübungen hat Frank Heibert nun auch dessen bekanntesten Roman neu übertragen.

Zazie in der Metro erzählt von einem Wochenende in Paris, an dem Jeanne Grossestittes – ihr Namen ist auch im Original ein so grobes Wortspiel – ihre Tochter Zazie bei ihrem Onkel Gabriel abgibt, da sie sich ungestört mit einem Liebhaber vergnügen möchte. Zazie kommt aus der Provinz und ihr wichtigstes Ziel bei diesem ersten Besuch der Großstadt ist eine Fahrt in der Metro. Zu Zazies Pech wird die Metro an dem Wochenende bestreikt, so dass ihr erst ganz am Ende die ersehnte Fahrt vergönnt ist, die sie aber wohl aufgrund einer zuvor durchgefeierten Nacht verschläft.

Zazie ist wahrscheinlich so um die 13 Jahre alt, ziemlich vorlaut – „Leck mich!“ ist ihre Lieblingsphrase – und hat, wenn man ihr glauben darf, schon einiges durchgemacht: einen Alkoholiker als Vater, der sie missbraucht hat, die Ermordung dieses Vaters durch die Mutter und deren Liebhaber, den Gerichtsprozess, in dem sie aussagen musste. Es ist also nicht verwunderlich, dass Zazie etwas frühreif geraten ist. Und auch die Menschen, die sie durch ihren Onkel nun kennenlernt, sind hauptsächlich bestimmt durch ihr Verhältnis zu Sex, Alkohol und die Polizei. Aber das hindert sie nicht daran, in dem sich immer weiter steigernden Chaos des Wochenendes ihr Vergnügen zu finden.

Insgesamt ist das Buch episodisch und erzählt eine Alltagsgeschichte, deren Fiktion immer wieder durch Figurenverwandlungen, Wortspiele, Leseransprache etc. durchbrochen wird. Queneau mischt die unterschiedlichsten Sprachstile von der hohen Literatursprache bis zum Straßenargot, das in bester avantgardistischer Manier phonetisch wiedergegeben wird. Die Neuübersetzung ist in Tempo und Sprachwitz auf der Höhe des Originals und ermöglicht die vergnüglich Wiederentdeckung eines Klassikers der französischen Moderne.

Raymond Queneau: Zazie in der Metro. Aus dem Französischen von Frank Heibert. Berlin: Suhrkamp,22019. Pappband, Lesebändchen, 239 Seiten. 22,– €.

Raymond Queneau: Stilübungen

Raymond Queneau gehört zu einer Gruppe französischer Schriftsteller, die sich in Deutschland einen kleinen, aber treuen Kreis von Lesern erobern konnte, was in der Hauptsache der unermüdlichen Übersetzungsarbeit Eugen Helmlés zu verdanken sein dürfte. Queneaus bekanntester Text dürfte der kleine Roman Zazie in der Metro (1959) sein, auch wegen der Verfilmung durch Louis Malle.

Die Stilübungen sind eine Sammlung kurzer Variationen auf eine vollständig nichtssagende Anekdote von einem jungen Mann, der sich in einem Bus mit einem anderen Passagier streitet, weil dieser ihn mehrfach angerempelt hat und sich dann auf einen freien Platz setzt; zwei Stunden später entdeckt der anonyme Erzähler den jungen Mann erneut, als der von einem Bekannten über einen fehlenden Knopf an seinem Mantel belehrt wird. Diese kurze Erzählung wird nun durch allerlei stilistische Varianten gejagt, sowohl in Prosa als auch in Versform. So kommen insgesamt mehr als Hundert Kurztexte zusammen, die auf immer andere Weise um dasselbe Nichts tanzen.

Interessanterweise sind eine bedeutende Anzahl dieser Stilübungen noch während des Zweiten Weltkriegs unter der deutschen Okkupation Frankreichs entstanden und veröffentlicht worden. 1947 erschien dann ein Buch mit 99 Stilübungen, die aber mit der Zeit immer noch erweitert wurden. Eugen Helmlé übersetze dann 1961 zusammen mit Ludwig Harig 100 dieser Kurztexte ins Deutsche und eröffnete damit überhaupt erst die Rezeption Queneaus in Deutschland. Jetzt arbeitet Frank Heibert diesen Übersetzungen noch einmal nach, indem er vor drei Jahren zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel eine stark erweiterte Ausgabe der Stilübungen neu übersetzte und in diesem Jahr auch Zazie in der Metro folgen ließ. Die Neuübersetzung ist frisch und macht Spaß holt damit die besten Qualitäten Quenaus wieder zurück ins Bewusstsein der jüngeren deutschen Leserschaft.

Für alle, die Vergnügen an Sprachspielen und -variationen haben, eine sehr gute Gelegenheit, sich Queneaus wirklich bedeutendem literarischen Werk zu nähern.

Raymond Queneau: Stilübungen. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. bibliothek suhrkamp 1495. Berlin: Suhrkamp,22017. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 215 Seiten. 22,– €.

„Verrückt nach Karten“

Von Zeit zu Zeit fällt einem doch wieder einmal ein rundum gelungenes Buch in die Hand! Dieser großformatige Band (ein wenig über DIN A4) widmet sich dem Zusammenhang zwischen Kartographie und Literatur, also nicht nur dem Phänomen der fiktiven Karten, sondern auch dem der geographischen Karten, die zu Stoff für die Phantasie von Autoren wurden oder die selbst ihre weißen Flächen mit erfundenen Kontinenten, Inseln, Ländern und Bewohnern angefüllt haben. Er ist üppig bebildert und enthält zahlreiche locker geschriebene, gut lesbare und interessante Essays, die sich von ganz verschiedenen Richtungen aus dem zentralen Thema annähern: So eröffnet der Herausgeber Huw Lewis-Jones den Band mit einem ausführlichen Gang durch den Teil der englischsprachigen Literatur, der auf die ein oder andere Weise mit der Kartographie verbunden ist; es folgen dann Autoren der phantastischen Literatur, Zeichner phantastischer Karten (darunter Daniel Reese, der die Karten für die Herr-der-Ringe-Verfilmungen von Peter Jackson gezeichnet hat), Leserinnen und Leser (so etwa die witzige und immer originelle Sandi Toksvig, die durch die durch und durch englische Quizshow QI endgültig zur Berühmtheit geworden ist), ja es findet sich mit Roland Chambers sogar ein Illustrator, der die durchaus weit verbreitete Furcht vor Karten thematisiert.

Der Band ist zu stundenlangem staunenden Blättern ebenso gut wie zur unterhaltendsten Lektüre, die selbst wieder Anlass werden wird zu eigenen Entdeckungen und neuen Lektüren. Als deutschsprachiger Leser wünschte man sich natürlich, dass auch die eigene Literatur vorkäme, so etwa Arno Schmidt mit seinen selbstgezeichneten Karten und Skizzen oder auch Heimito von Doderer mit seinen riesigen Wandplänen, auf denen er die Welt seiner Figuren entworfen hat. Aber man kann nicht alles haben.

Es ist noch ein wenig früh für Geschenktipps zum Fest: Aber mit diesem Buch macht man allen Freunden gleich welchen Literaturgenres eine Freude. Ein ideales Geschenk für sich und andere!

Huw Lewis-Jones (Hg.): Verrückt nach Karten. Aus dem Englischen von Hanne Henninger. Geniale Geschichten von fantastischen Ländern. Darmstadt: wbg Theiss, 2019. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 256 Seiten. 34,– €.

Bernhard Shaw: Die heilige Johanna

Shaw-Effendi, der Töpfer, der mit leeren Tongefäßen gute Geschäfte machte, …

Kurt Tucholsky

Johanna von Orléans bzw. Jeanne d’Arc ist eine jener Figuren des Mittelalters, die im 19. Jahrhundert als Symbolfiguren einer neu empfundenen nationalen Identität aufgebaut wurden. So wie man sich in Deutschland ideologisch etwa unter der Fahne eines steinernen Friedrich Barbarossa sammelte, so schossen in Frankreich marmorne und eherne Denkmäler der Jungfrau aus dem Boden, die die moderne Einheit der Nation mittels der historischen Heldin feiern und festigen sollten. Voltaire hatte sich wenige Jahrzehnte zuvor noch über das Mädchen aus Domrémy lustig gemacht. Es ist daher kein großes Wunder, dass Shaw während einer Frankreich-Reise auf diese historische Figur aufmerksam wurde, von der er zu Recht feststellte, dass sie trotz ihrem erheblichen Einfluss auf die englische Geschichte in der Literatur seines Landes praktisch nicht vorkam. Einzig in Shakespeares König Heinrich VI., bei dem Shaw aber eher zweifelte, ob es überhaupt von Shakespeare stamme, trat sie auf, doch wurde ihr diese Darstellung nur wenig gerecht.

Als Shaw Anfang 1923 nach einem neuen Stoff suchte, war es seine Ehefrau, die ihn an das alte Projekt eines Stücks über Johanna erinnerte. Das Stück war dann im August 1923 bereits fertig und wurde Ende desselben Jahres in New York uraufgeführt. Es war ein großer internationaler Erfolg, hatte bereits 1924 in Deutschland und ein Jahr später auch in Frankreich Premiere. Es ist unzweifelhaft einer der Hauptgründe gewesen, warum Shaw 1925 der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde.

Die Buchausgabe setzt vor das Stück eine gut 70-seitige Abhandlung Shaws, in der er seine Auffassung Jeanne d’Arcs und ihrer geschichtlichen Rolle nicht nur umständlicher, sondern auch deutlich langweiliger als im Stück erörtert. Interessant an Shaws Zugriff ist, dass er Johanna nicht nur als Symbolfigur einer nationalen Einigung begreift, sondern sie als Vorschein zweier geschichtlicher Entwicklungen deutet: der Reformation und des Absolutismus. Der Reformation insoweit Johanna ihre direkte Beziehung zu Gott und seinen Boten durch ihre Visionen über die Autorität der Kirche stellt und hartnäckig jede Belehrung über den Charakter dieser Visionen verweigert, des Absolutismus, da sie den König, nicht den Adel, zum Machtzentrum Frankreichs erklärt, dem von Gott alles französische Land geschenkt worden sei. Im Stück erkennen die Vertreter von Kirche (Bischof Cauchon) und Hochadel (Graf Warwick) diese Gefahren und werden so zu natürlichen Verbündeten beim Kampf gegen das vermeintlich gefährliche Mädchen. Shaw hat dieser Zugriff nachträglich viel Kritik eingebracht, da er den anachronistischen Terminus Protestantismus im Stück verwendet, den man ihm aber für die notwendige Klarheit bei der Darstellung seiner Position schlicht zugestehen sollte.

Das Stück selbst erzählt in sechs in sich abgeschlossenen Szenen die Entwicklung von Jeannes erstem Auftreten 1429 bei Robert von Baudricourt, der sie zum Dauphin bringen lässt, bis zu ihrer Verbrennung 1431 nach. Die Dialoge sind in der Übersetzung Wolfgang Hildesheimers erfrischend unprätentiös – Karl Kraus hatte dem früheren Shaw-Übersetzer Siegfried Trebitsch bescheinigt, er übersetze „die […] Stücke des Herrn Shaw aus dem Englischen in eine ihm gleichfalls fremde Sprache“ – und das Stück trotz seinem historischen Stoff sehr eingängig. Angehängt wird ein Epilog, in dem Shaw in einer Traumsequenz Karls VII. (des früheren Dauphins) die Nachwirkung Johannas von ihrer Rehabilitation 1453 bis zur Heiligsprechung im Jahr 1920 wenigstens aufblitzen lässt; das Stück kommt sicherlich gut auch ohne diesen Wurmfortsatz aus. Auch Shaw setzt sich wie sein Vorgänger Schiller nicht groß mit dem Status der Visionen Jeannes auseinander; für ihn hat sie einfach eine lebhafte Phantasie und diese Erklärung muss hinreichen. Bei Shaw erwächst die Stellung Jeannes im Heer nicht ihrem göttlichen Auftrag, sondern schlicht der Tatsache, dass die französischen Befehlshaber keine Alternative mehr sehen und Johanna nach dem Motto folgen, dass es schlimmer auch nicht mehr werden könne. Insbesondere der Dauphin ist bei Shaw eigentlich gar nicht mehr bereit zu kämpfen, sondern will sich mit den Engländern auf einen Frieden einigen, der ihm seine Ruhe garantiert; nur widerwillig lässt er sich auf die von Jeanne initiierte Kampagne zur Befreiung Orléans ein.

Worin Shaw sich sicherlich irrt, ist zum einen, dass der Prozess gegen Johanna in irgend einem Sinne fair gewesen sei – das ist bei jeglichem Religionsprozess schlicht unmöglich – und dass er unpolitisch gewesen sei. Hier unterdrückt er das historische Faktum, dass das erste Urteil gegen Johanna – lebenslange kirchliche Haft – nicht auf den Widerstand der Verurteilten, sondern im Gegenteil auf den des englischen Hofes traf. Von daher ist auch seine Darstellung, es sei Johanna selbst gewesen, die sich am Ende für den Scheiterhaufen entschieden habe, als historisch falsch abzulehnen.

Sieht man davon ab, dass Shaw am Mythos Johannas ebenso scheitert wie seine Vorgänger, ist es ein flottes und amüsantes Stück eines alten Mannes um die Verbrennung eines 19-jährigen Mädchens, die in ihrer jugendlichen Naivität glaubte, es genüge das Gute zu wollen, um in der Welt bestehen zu können, durch eine Gruppe von Männern, die der Zufall in eine Position der Macht gespült hat. Es muss dann jede und jeder selbst schauen, wie sie oder er damit zurecht kommt.

Bernhard Shaw: Die heilige Johanna. Aus dem Englischen von Siegfried Trebitsch (Essay) und Wolfgang Hildesheimer (Drama). st 1861. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 82016. Broschur, 237 Seiten. 11,– €.

Mark Greengrass: Das verlorene Paradies

Diese Geschichte Europas der frühen Neuzeit (1517–1648) gehört in die Reihe der Penguin Geschichte Europas, aus der hier schon der Band von Ian Kershaw zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besprochen wurde. Es scheint mir interessant, dass man bei Random House offenbar nicht davon überzeugt ist, dass die gesamte Reihe für die eigene Verlagsgruppe attraktiv ist, so dass wir einzelne Bände wohl noch in anderen Verlagen erwarten dürfen. Die Reihe lässt sich aus zwei Bänden natürlich nicht beurteilen, aber der allgemeine Eindruck ist durchaus positiv.

Der Originaltitel des Bandes ist etwas deutlicher als der der Übersetzung: “Christendom Destroyed” macht eines der zentralen Konzepte des Autors sofort deutlich, während der literarischere deutsche Titel suggeriert, beim späten Mittelalter habe es sich um eine Art von Paradies gehandelt, wovon in keiner Weise die Rede sein kann und im Buch auch nicht ist.

Der Autor liefert eine sehr detailorientierte Geschichte der Zeit, die bei sehr konkreten Lebensumständen (Wohnverhältnisse, Siedlungsformen, Lebenserwartung, Familienplanung, Ehe, Erbrecht, Primogenitur, Krieg und Krankheiten, Hungersnöte, Klima, Sonnenflecken, Vulkanausbrüche, Essensgewohnheiten und unklare Todesursachen – alles in dieser Reihenfolge) beginnt und sich langsam zu dem vorarbeitet, was man gemeinhin als große Geschichte von einem Geschichtsüberblick erwartet. Wie schon angedeutet, legt der Autor ein bedeutendes Gewicht auf das religiöse Schisma der Reformation, das er einerseits mitverantwortlich macht für einen wesentlichen Wandel im Verhältnis zwischen Untertanen und herrschender Klasse. Andererseits sieht er ein, dass nicht alles, was in der frühen Neuzeit nach einem religiösen Konflikt aussieht, tatsächlich religiöse Ursachen hat oder religiöse Ziele verfolgt.

Es lassen sich dem Buch eine Vielzahl interessanter Details entnehmen, wenn auch die Darstellung hier und da seltsame blinde Flecken aufweist: Kein einziger Satz zur Entstehung der King James Bible, obwohl andere Bibelübersetzungen ausführlich besprochen werden, eine einzige flüchtige Erwähnung der Mayflower und was der Kleinigkeiten mehr sind.

Als ganz und gar missraten muss aber die deutsche Übersetzung angesehen werden, die das Buch gänzlich unnötig aufbläht und den eher lakonischen Stil des Autors durch eine besserwisserische Geschwätzigkeit ersetzt:

auswird
“The Ottomans also turned themselves into a naval power.”„Die Osmanen betrieben auch Flottenbau, um Seemacht zu werden.“
“Protestant reformers undermined pilgrimage to the Holy Places.”„Die Reformatoren hielten Pilgerfahrten zu den heiligen Stätten ohnehin für unwichtig.“
“By 1650, over 180 tons of gold had been exported from the Indies, and 16,000 tons of silver from the New World.”„Bis 1650 waren mehr als 180 Tonnen Gold aus Ostindien und 16.000 Tonnen Silber aus der Neuen Welt nach Europa gelangt.“

Gerade dieser letzte Zusatz aus der Phantasie des Übersetzers ist besonders ärgerlich, da wenige Seiten zuvor ausdrücklich thematisiert wurde, dass ein bedeutender Anteil des Peruanischen Silbers nach China exportiert wurde.

Zum Ausgleich dafür lässt der Übersetzer an anderen Stellen willkürlich Wörter und auch schon einmal ganze Sätze weg, ändert die Reihenfolge der Sätze, die er doch noch die Freundlichkeit besitzt zu übersetzen, und nimmt sich auch sonst all die Freiheiten heraus, die seine Tätigkeit früher einmal zu einem der phantasievollsten im holzverarbeitenden Gewerbe machten. Gleichgültig, wo man die Übersetzung aufschlägt, bietet sich einem dasselbe Bild. Kurz gesagt: Die Übersetzung macht das Buch für einen ernsthaft interessierten Leser vollständig unbrauchbar. Mit ist unklar, warum eine Organisation wie die Wissenschaftliche Buchgesellschaft eine solche Katastrophe zum Druck befördert.

In Details durchaus interessant, im Ganzen wenig überraschend, auf Deutsch ungenießbar.

Mark Greengrass: Das verlorene Paradies. Europa 1517–1648. Aus dem Englischen von Michael Haupt. Darmstadt: wbg Theiss, 2018. Pappband, 781 Seiten. 39,95 €.

Rudyard Kipling: Kim

»Je mehr man über die Eingeborenen weiß, desto weniger kann man vorhersagen, was sie tun werden oder was nicht.«

Rudyard Kipling ist in Deutschland in der Hauptsache als Autor des „Dschungelbuchs“ wahrgenommen worden; nur wenige dürften wissen, dass er 1907 der erste englische Literaturnobelpreisträger wurde und bis heute der jüngste Träger dieses Preises geblieben ist – Kipling war erst 41 Jahre alt, als ihm der Preis verliehen wurde. Während ihn die meisten deutschen Leser als eine Art von Kinderbuch-Autor ansehen werden, war Kipling in seiner Heimat aufgrund seines politischen Engagements eine höchst umstrittene Person; von seinen Gegnern wurde er gern als Faschist beschimpft, war aber im Grunde wenig mehr als ein erzkonservativer Militarist, der mit der Militärpolitik der britischen Regierungen stets höchst unzufrieden blieb. Auch sein Bild Indiens wurde von seinen ideologischen Kontrahenten gern bespöttelt: Wie man bei George Orwell lesen kann, wurde diesem von Bekannten Kiplings versichert, Kipling habe von Indien nur wenig Ahnung gehabt.

Wie dem auch immer gewesen sein mag, bildet „Kim“ zusammen mit den beiden „Dschungelbüchern“ die Grundlage für das Indien-Bild zahlreicher Europäer. Kipling wurde 1865 in Bombay geboren und stand über die Schwestern seiner Mutter sowohl mit der künstlerischen als auch der politischen Elite Englands in verwandtschaftlicher Beziehung. Kiplings Vater war Künstler und Kunstpädagoge und später Museumsdirektor in Indien; Kipling erhielt zuerst die bei vermögenden Engländern übliche Erziehung in England; er wohnte in dieser Zeit bei seiner Tante Georgiana Burne-Jones, der Frau des Präraphaeliten Edward Burne-Jones. Eine anschließende universitäre Ausbildung in England konnte Kiplings Vater nicht finanzieren, so dass Kipling 1882 nach Indien zurückkehrte und in Lahore einen Job als Journalist bei der Civil & Military Gazette übernahm. In dieser Tageszeitung erschienen dann auch seine ersten Gedichte und Erzählungen. Bereits 1889 verließ Kipling Indien wieder und erreichte nach einer Weltreise London. Bereits verheiratet lebte Kipling anschließend für einige Zeit in den USA, bevor er sich dauerhaft in England niederließ. Als er 1907 den Literaturnobelpreis erhielt, war er bereits ein ebenso weltbekannter wie umstrittener Autor. Alle seine vier Romane hat Kipling in dem Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende verfasst – „Kim“ erschien als letzter 1901 in Buchform –, später beschränkte er sich auf Erzählungen und Gedichte.

Kim, der titelgebende Protagonist des Romans, ist ein halb irischer, halb indischer Waisenjunge, der bei einer Schwester seiner indischen Mutter in Lahore aufwächst. Als der Roman beginnt, ist Kim etwa 12 Jahre alt – die Handlung ist historisch nicht präzise einzuordnen, spielt aber sicherlich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts – und von einem eingeborenen Inder kaum zu unterscheiden. Er bewegt sich auf den Basaren wie ein Fisch im Wasser, hat Freunde unter den Fakiren und ist insbesondere befreundet mit dem afghanischen Pferdehändler Mahbub Ali, für den er von Zeit zu Zeit diskret kleine Aufträge erledigt. Erzählanlass aber ist, dass Kim vor dem Museum von Lahore einen Lama, also einen buddhistischen Mönch aus Tibet kennenlernt, dem er sich nahezu augenblicklich als Schüler zugesellt. Die beiden beginnen eine Reise durch Nordindien, da der Lama auf der Suche nach einem geheimnisvollen Fluss ist, der ihm Erleuchtung bringen soll.

Unterwegs treffen die beiden auf das Regiment, zu dem Kims Vater gehörte; Kim wird als Engländer erkannt und man will ihn in eine englische Wai­sen­schu­le stecken. Doch der Lama verpflichtet sich, für Kims Ausbildung zu bezahlen, und so besucht Kim – zwar zuerst nur widerwillig – eine der besten englischen Schulen in Lucknow. Natürlich erweist es sich, dass Mahbub Ali für den englischen Geheimdienst in Indien arbeitet und Kim aufgrund seiner Intelligenz und seiner Fähigkeit, als Inder durchzugehen, für eine Karriere in diesem Dienst vorgesehen ist. Während der Ferien erhält er eine Spezialausbildung als Spion und wird nach dem Ende seiner Schulzeit – er ist nun etwa 16 Jahre alt – zusammen mit seinem Lama wieder auf die Straßen Nordindiens geschickt. Es spinnen sich eine Reihe von Geheimdienst-Abenteuern an, in denen sich Kim natürlich aufs Beste bewährt, aber auch an seine körperlichen Grenzen gerät. Das Buch hat ein offenes Ende, das den Protagonisten nach seiner ersten Bewährungsprobe quasi als Unseren Mann in Ambala in die Welt entlässt.

Kipling erzählt diese Geschichte vor einem breiten Panorama nordindischer Kultur und Landschaft. Hindus, Moslems und Buddhisten treffen aufeinander, Kim und sein Lama geraten bis in die Berglandschaft des Himalaya mit ihren wieder ganz eigenen, lakonischen Bergbauern. Auch sprachlich ist die Erzählung von einer ungewöhnlichen Fülle geprägt; wenn Kipling vielleicht auch nicht so sehr viel von der Politik Indiens verstanden haben mag, wie man dort sprach, wusste er ziemlich genau. Es ist dieser kulturelle Reichtum, der das Buch zu einem Klassiker hat werden lassen. Leider geht in sprachlicher Hinsicht in der Übersetzung notwendig viel verloren, aber Gisbert Haefs ausführlicher Kommentar und sein Nachwort holen einiges davon wieder ein.

Rudyard Kipling: Kim. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Fischer Taschenbuch 90526. Frankfurt/M.: Fischer, 22016. Broschur, 431 Seiten. 10,99 €.