Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; »Aspekte«-Literaturpreis für das Debüt ›Freigang‹ (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman ›Die letzte Vorstellung‹ wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (›Mord am Meer‹). Ulrich Woelk lebt in Berlin.

Ulrich Woelk
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Interview
Ein Gespräch über den neuen Roman von Ulrich Woelk: ›Nacht ohne Engel‹
Ihr Roman beginnt auf dem Flughafen Tegel in Berlin. Eine gut aussehende Frau Anfang vierzig, deutlich als Geschäftsreisende zu erkennen, sucht ein Taxi. Sie heißt Jule und ist eine der beiden Hauptfiguren des Romans. Wer ist sie?
Auf den ersten Blick ist sie eine Frau, die perfekt einen idealen Lebensentwurf verwirklicht: Sie ist gebildet, beruflich erfolgreich und hat – wie man später erfährt – zwei Kinder großgezogen. Sie könnte also glücklich und zufrieden sein, aber ein paar Brüche in ihrer Biographie gibt es doch. Sie wollte eigentlich gar nicht Ökonomin werden, und ihre Ehe ist geschieden. Aber letztlich gilt ja: Berufe dienen der Sicherung des Lebensunterhalts, und Scheidungen sind längst der Normalfall. Kurzum: Jule ist eine in jeder Hinsicht moderne und selbstbestimmte Frau.
Sie steigt in das Taxi von Vincent, der im Rückspiegel seinen Fahrgast beobachtet und dem schließlich klar wird, dass er sie kennt, aber lange nicht mehr gesehen hat. Wer ist Vincent?
Vincent wird bald fünfzig Jahre alt und fährt Taxi. Er hat keine beeindruckende Karriere gemacht, ist sehr gebildet und Vater einer zwanzigjährigen Tochter, die er zehn Jahre lang mehr oder weniger allein großgezogen hat und zutiefst liebt. Sein Leben ist völlig anders verlaufen als das von Jule. Für das, was als glänzende Biographie gilt, hat er sich nie interessiert. Man könnte auch sagen: Er ist seinen Idealen treu geblieben – mit allen Konsequenzen.
Vincent und Jule haben Anfang der 90er etwas erlebt, was man als Liebe auf den ersten Blick bezeichnen könnte, auch wenn es nur von sehr kurzer Dauer war. Heute scheinen sie keine Gemeinsamkeiten mehr zu haben. Oder ist da noch etwas?
In meinem Roman haben die beiden 24 Stunden Zeit, diese Frage für sich zu beantworten. Sie tauchen in ihre Lebensgeschichten ein, erzählen sich, was seit damals geschehen ist und wie sie geworden sind, was sie nun sind. Beide wissen dabei, dass ein nahtloses Anknüpfen an das, was einst war, vollkommen ausgeschlossen ist. Und trotzdem verabschieden sie sich nach der Taxifahrt vom Flughafen zum Hotel nicht einfach nur freundlich, sondern verabreden sich für den Nachmittag.
Vincent und Jule haben sich zu einer Zeit kennengelernt, da vieles im Auf- und Umbruch war. Was denken Sie: Was war damals prägend, welche Ideale waren leitend?
Die späten achtziger und frühen neunziger Jahre waren eine Zeit, die in sich so widersprüchlich war, wie ich es vorher oder nachher nicht mehr erlebt habe. Einerseits war da dieser immense Optimismus: Der Konflikt zwischen den politischen Blöcken, der Kalte Krieg, war Geschichte. Die Grenzen in Europa waren niedergerissen geworden; das war etwas Großartiges! Doch andererseits wuchs das Ozonloch, wurden die Regenwälder niedergebrannt, havarierten Ölplattformen und drohte am Persischen Golf ein Krieg.
Wenn Vincent sich an diese Zeit erinnert, wird ihm seine Zerrissenheit als junger Mensch wieder bewusst, und so geht es mir auch. Wir waren jung und haben nächtelang über den Weltuntergang diskutiert. Und dann haben wir uns Hals über Kopf verliebt, und auf einmal war uns alles andere egal.
Aber wie lange trägt dieser Glückszustand? Vergeht Liebe wieder oder bleibt die Anziehung, die man für einander empfindet, ein Leben lang bestehen?
Beides ist möglich, beides geschieht. Eine Liebe, die man in der Jugend erlebt, ist eine ungeheuer intensive Erfahrung, und wenn sich das Leben später etwas beruhigt, kann es passieren, dass man sich nach der Intensität dieser Jahre zurücksehnt. Vielleicht sind Jugendlieben deswegen eine Art Mythos. Und die Illusion, man könnte noch einmal in die Vergangenheit zurückkehren, entwickelt eine gewaltige Kraft. Vielleicht ist der Unterschied gar nicht so groß, ob die Liebe oder die Sehnsucht nach Liebe zwei Menschen zueinander hinzieht.
Vincent und Jule haben sich ganz bewusst für ihr Leben entschieden. Sie wollten frei sein. Gibt es einen Preis für diese Freiheit?
Sich für etwas zu entscheiden heißt immer, sich gegen etwas anderes zu entscheiden. Zum Beispiel entscheidet sich Vincent gegen ein äußerst lukratives Jobangebot, fährt stattdessen weiter Taxi und kümmert sich um seine Tochter. War das die richtige Entscheidung? Er wird es nie erfahren, weil es diesen Was-wäre-wenn-Film, den wir in Gedanken gelegentlich abspielen, in der Realität nicht gibt. Jule wiederum beschließt nach ihrer gemeinsamen Nacht, Vincent nicht wiederzusehen und einen anderen Weg einzuschlagen. Aber vielleicht wäre sie mit Vincent glücklich geworden.
Manchmal denke ich: Gesellschaften, die weniger Spielraum bieten, sind insofern die glücklicheren, als es den beständigen Zweifel an den eigenen Entscheidungen nicht gibt. Natürlich ist das eine verengte Sicht – aber dass das freie Leben automatisch auch das glücklichere ist, stimmt mit Sicherheit nicht.
Ihr Roman trägt den Titel ›Nacht ohne Engel‹? Warum?
Damals war der Film „Der Himmel über Berlin“ mit seiner Geschichte über einen Engel auf der Berliner Siegessäule sehr populär. Vincent und Jule unterhalten sich darüber: Was, wenn es Engel gäbe? Ich denke, Engel sind eine Metapher dafür, dass einen jemand sicher leitet, ohne einem die Freiheit eigener Entscheidungen zu nehmen – aber das ist ein Widerspruch in sich. Engel versinnbildlichen etwas Unmögliches: Freiheit ohne Irrtum. Am Ende des Romans wird die Siegessäule für Vincent zu einem Schicksalsort, doch der Schutz eines Engels ist ihm nicht vergönnt. Was er erlebt, ist eine ›Nacht ohne Engel‹.
Sie lassen im Roman öfters ›The Great Pretender‹ von Queen erklingen. Ist Freddie Mercurys Version des Songs der Soundtrack des Romans?
„The Great Pretender“ war ein Solo-Projekt von Freddie Mercury, für das er sich vermutlich sehr bewusst entschieden hat: Der große Vortäuscher. Er will damit wohl nichts anderes sagen als: Wir machen uns und allen anderen etwas vor, wenn wir glauben, glücklich zu sein oder glücklich werden zu können. Denn ob uns das gelingt, haben wir gar nicht in der Hand. Und trotzdem gibt es keine Alternative dazu, es immer wieder zu versuchen. So hat er selbst es ja auch gemacht: Es gibt bei Freddie Mercury keine Resignation. So lange er konnte, hat er mit aller Energie weitergemacht. Und einen besseren Weg haben wir alle nicht.
Das Gespräch führte Günther Opitz, dtv
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