Akzente_Eurosonic/Noorderslag 2006

In The Dutch Mountains

In der kalten Jahreszeit zieht es Schneehungrige in die Berge und verfrorene Seelen an den Sandstrand. Manche verschlägt es aber auch zu einem ganz besonderen Musikfestival.    16.02.2006

Die Gründe für eine frostige Städtereise in die Niederlande sind vielfältig: Fußballanhänger wollen ihre Mannschaft bei Auswärtsspielen leiden sehen; Hobby-Gourmets verspüren den Wunsch, Pommes unter dicken Schichten Mayonnaise versinken zu lassen; Biertrinker wiederum möchten ihrer Lieblingsmarke die lange Anreise ersparen und sich vor Ort berauschen. Das mit dem Berauschen funktioniert auch mit anderen Mitteln, die der Regen geruchsverstärkend hervorhebt. Man kennt das ja aus den Vorgärten: Nichts riecht frischer als eben erst gemähter Rasen, an dem die Tropfen abperlen.

Nun ist in Groningen der Bedarf am Grünflächenstutzen im Januar ziemlich gering. Was nichts daran änderte, daß während des Aufenthalts die dominanteste Duftmarke von Gras gesetzt wurde. Der unverkennbare Geruch wolkte von 12. bis 14. Januar aus vielen Seitengassen so deutlich, daß schon vor Umrundung einer Häuserfront klar war, was den Ortsunkundigen um die Ecke erwarten würde: der nächste Coffeeshop nämlich.

 

Einmal pro Jahr, jeweils Mitte Januar, liefert die Stadt von überschaubarer Größe mit dem "Eurosonic/Noorderslag"-Doppel einen künstlerischen Grund, sich auf die Reise zu begeben. Dabei wird versucht, nicht nur ein auf Clubs verteiltes Festival, sondern auch wohlorganisierter Branchentreff samt Seminarangebot zu sein. Daß Ausgabe 2006 gefiel, lag daher kaum an geistiger Umnebelung dank aktiver Nutzung der in den Coffeeshops angebotenen Entspannungshilfen. Die Musik der aufgetretenen Bands sprach für sich selbst, die Band-Auswahl freilich oft auch für ein bewußtes Ansteuern internationaler Musikzeitungs-Titelblätter.

Die Editors sind ja durchaus Cover-adäquat und besitzen Schlagzeilenqualität. Man kam der Schwerpunktsetzung von Plattenfirmen, wem denn nun durch ausgedehnte Promotion zu einem Karriereschub verholfen werden soll, also durchaus entgegen. Das ist zwar genauso legal wie die touristische Stippvisite im Coffeeshop, allerdings aber fast genauso überflüssig. Wer den Weg zum Durchbruch schon so gut wie hinter sich hat, schafft auch die restliche Strecke und bedarf keiner Musikmesse als Präsentationsplattform.

Ob ab einem gewissen Grad der Etablierung noch von Nachwuchshoffnung gesprochen werden kann, sei dahingestellt. Zweifellos wird durch diese Art der Bevorzugung aber etwas bewirkt. Das Auswahlverfahren kanalisiert die Neugierde auf Vertrautes, da das Publikum bereits weiß, was es von dieser Band zu halten hat und dabei auf ein medial vorverbreitetes Urteil bauen kann. Wiedersehen macht Freude - und so sieht man bei jenen, deren Namen geläufig sind, halt genauer oder sogar positiver eingestimmt hin.

Übrigens: Schon mal auf der Homepage den Vermerk "Sponsored by ClearChannel" registriert? Ja ja, Größe ist halt berechenbar, kann aber auch ablenken. So ist die ursprüngliche Idee, heimische Bands in die Auslage zu stellen, zwar noch immer greifbar, wird jedoch nur von einem Bruchteil der internationalen Besucher wahrgenommen. Tatsächlich wird der Niederländer-Tag meist stiefmütterlich behandelt und als Abreisetag eingeplant. Überspitzt formuliert: Sobald die letzte britische Band ihre Gitarren im Bus verstaut, ist für Branchenvertreter der Zeitpunkt gekommen, die Koffer zu packen. In diesem Jahr zumindest wäre der verfrühte Abbruch ein Fehler gewesen - standen doch GEM, Taxi To The Ocean, The Heights, El Pino und Amigos Electricos auf dem Spielplan.

 

Bands werden also nicht nur nach Groningen geholt; sie werden auch dorthin entsandt. Dabei achten die Veranstalter aber auf Ausgewogenheit: Jeder soll und kann selbst entscheiden, wo und mit wem er den Konzertabend verbringen will. Nur leider geht diese Rechnung bei den ohnehin schon bekannten Bands nicht ganz auf ...

Davon profitierte klarerweise auch die Musikmesse selbst im Laufe der Zeit – schließlich erstreckte sich das Programm ja nicht immer über drei Tage. Die europäische Talentebörse erwuchs aus einem eintägigen Wettstreit niederländischer Bands, dem "Noorderslag", der nach wie vor Tag drei des Meetings ausmacht. Erst später wurde allmählich das Musiktreiben weiterer Länder, angefangen beim Nachbarn Belgien, einbezogen und diesem Unterfangen auch namentlich Rechnung getragen. Mittlerweile ist das "Eurosonic" in Sachen Auslastung und Ausdehnung am Limit angelangt. Ein Zugewinn an Zuschauern wäre nur bei einer Vermehrung der Veranstaltungsorte möglich - und darunter würde die Übersicht leiden.

Das Konzept hinter "Eurosonic" greift und vermittelt Atmosphäre. Viele der Auftrittsorte werden nur während der Festival-Tage zur temporären Bühne und ansonsten etwa als Kinosaal genutzt. In Groningen ermöglicht das ein Festival der kurzen Wege. "Ich muß draußen bleiben" hieß es nur in den seltensten Fällen.

 

Franz Ferdinand, The Soundtrack Of Our Lives, Kaizers Orchestra, The Go! Team, The Subways und Moneybrother gehören zu den prominenten Absolventen der jüngeren "Eurosonic"-Geschichte. 2006 lag der thematische Schwerpunkt bei den Vorträgen wie auch im Showcase-Teil auf Deutschland. Nichtsdestotrotz entrollte sich der rote Teppich vor allem vor Bands aus Großbritannien. The Editors sorgten für den größten Andrang, aber auch Clor waren umschwärmt und lohnten es mit einer - bei einem Showcase eher unüblichen - Zugabe. Sugarplum Fairy bewiesen aufs Neue, daß sie sich zu einem regelrechten Mädchenschwarm entwickeln, dem der Fan-Troß selbst grenzüberschreitend hinterherreist. Wünschenswert wäre nur, daß diese Entwicklung sich auch in der Musik widerspiegeln würde - die Prädikate "niedlich" und "nett" passen halt kaum zum Wunsch-Genre Rock´n´Roll und den angestrengt coolen Mienen der schwedischen Musiker.

 

Für die Mando-Diao-Blaupause entschädigten dann reichlich Mohair, die sich ihren Namen angesichts der Frisur des Sängers wohl aus "More Hair" zurechtgeschrumpft haben. Sie überraschten mit rar gewordener übersprudelnder Spielfreude und Songs, die Belle & Sebastian in Gemeinschaft mit dem Kinks ersonnen haben könnten.

Achtung, Geheimtip: Lukas Kasha aus Norwegen erfreuten mit einer genauso ungekünstelten, doch noch druckvolleren Show, bei der Indie-Pop und Elektro-Punk zu melodiesicherem Rock der dominanten Art verbunden wurden. Widerstand zwecklos.

Das erschütterndste an King Creosotes Auftritt war die mäßig gefüllte Fläche vor der Bühne. Der optisch wie ein Verwandter Ebbot Lundbergs (Sänger bei TSOOL) wirkende Songwriter sprach zwischendurch das aus, was sich viele Nicht-Niederländer wohl dachten: Haben die nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag auf dem Rad herumzufahren? Unablässig zischten die zweirädrigen Gefährte über die Pflastersteine an harmlosen Touristen vorbei. Seltsam nur, daß man die Pedaletreter nie auf- oder absteigen sah ...

Gelohnt hat sich die Reise nicht zuletzt auch wegen der Shout Out Louds, Washington oder Syd Matters. Es ist anzunehmen, daß die Ausgabe 2007 ähnlich attraktiv und hörenswert sein wird. Ein Vorschlag zur Güte: rechtzeitig Karten und Übernachtungsmöglichkeit sichern - beides ist (vor allem im günstigen Preissegment) in Groningen begrenzt.

Bernadette Karner

Eurosonic/Noorderslag 2006


Groningen, 12.-14. Januar 2006

 

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Kommentare_

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