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Schmauchspuren #30

Das dunkle, kriminelle Hinterland der Seele kann überall sein: im ehemaligen deutschen Osten, im niederösterreichischen Harland oder im Orient-Express. Und plötzlich wirkt Manhattan nur noch provinziell ...    23.07.2014

Peter Hiess

Manfred Wieninger- Prinzessin Rauschkind

Haymon 2010

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Der Diskont-Detektiv schlägt wieder zu. Na ja, Schlägereien hat er eigentlich weniger gern, und das Ermitteln freut ihn auch selten - aber von irgendwas muß man ja leben im schäbigen Nest Harland, gleich hinter St. Pölten, der angeblichen Hauptstadt von Niederösterreich. Und diesmal ereilt Manfred Wieningers Romanhelden Marek Miert sein Fall beim Zahnarzt, knapp vor der Wurzelbehandlung. Da redet ihn nämlich die verhuschte Sprechstundenhilfe an, eben die Prinzessin Rauschkind aus dem Titel, weil er ihren entschwundenen Geliebten finden soll.

Und kaum sucht er, findet er auch schon: eine Leiche. Die ist zwar ein Doppelgänger, aber die Polizei setzt Miert trotzdem unter Druck, und schon investiert er sein letztes Geld und die letzten Gefallen von alten Schulfreunden in die Affäre. Wie es ihm dabei ergeht, warum es sogar im miesen kleinen Harland Rotlichtkönige und schmuddlige Dealer-Dandys gibt, welche guten Geschichten sich im scheinbar trostlosen Elend verbergen und wie man das abgestandene Privatdetektiv-Genre mit gelungenen Sprüchen und düster-zynischem Vorstadt-Noir belebt, das erfahren Sie bei Wieninger. Wieder einmal.

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Henner Kotte - Augen für den Fuchs

Rotbuch 2010

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Sie können aber auch bei Henner Kotte nachlesen. Der zeichnet Leipzig in seinem neuen Krimi Augen für den Fuchs wieder einmal als Stadt, wo die Wiedervereinigung in vielen Köpfen auf sich warten läßt, wo sich hinter der Vergangenheit des realen Sozialismus böse Mordtaten verbergen, wo man verdrängen will und Westler nicht mag ... Solche zum Beispiel wie Kriminaldirektor Miersch, zugereist aus Bayern, von den Kollegen verachtet, von der Ehefrau in der eigenen Wohnung permanent betrogen, von der Presse seit einem Geiseldrama gejagt. Miersch taumelt in dem Roman wie ein "Bad Lieutenant", weggetreten und halluzinierend, durch die Kulissen, von neuen zu alten Tatorten, während seine Kollegen auch nur zwischen Feindseligkeit und Ratlosigkeit dilettieren, die Provinz eben, die nicht von der Bevölkerungsstatistik abhängt, sondern vom Inneren der Köpfe, ob in den USA, im Euro-Wunderland oder im tiefsten Sibirien. Ach ja, der Fall: ein Krebskranker, der kurz vor dem natürlichen Tod im Sterbebett erwürgt wird. Und eine scheinbar abgeschlossene Mordserie vor 25 Jahren, bei der den weiblichen Opfern die Augen ausgestochen wurden. Schmutzig, grausig, bedrohlich - und manchmal würgt es einem das Lachen heraus.

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Time for Hardcase Crime


Jason Starr - Fake I. D.

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2009

 

Robert B. Parker - Passport to Peril

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2009

 

Anhand der großartigen und hier vollständig behandelten Pulp-Reihe Hard Case Crime (die ihren Erscheinungsrhythmus leider stark reduziert hat) soll es diesmal um zwei Phänomene gehen. Das eine ist das des unsympathischen Helden, der die Hauptrolle im Roman Fake I. D. des bei Diogenes so gern verlegten Autors Jason Starr spielt. Der New Yorker Rausschmeißer und Möchtegern-Schauspieler Tommy Russo verdirbt es sich mit allen, hintergeht jeden, betrügt und mordet, macht sich selbst etwas vor und ist strohdumm. Kann man so jemanden mögen? Nein - im Gegensatz zu Jim Thompsons psychopathischen Antihelden, die dem Leser zumindest widerwilligen Respekt abverlangten. Bei Starr geht die Rechnung nicht auf, zumal die flache, platte Sprache der amerikanischen Gegenwartskultur bei ihm nicht nicht zur Entlarvung des Erzählers dient, sondern scheinbar unfreiwillig passiert. Jetzt wissen wir auch, warum ihn der Eurotrash so mag ...

Das zweite Phänomen erhebt fordernd seine Stimme: Wir wollen bitte die guten alten Kalter-Krieg-Krimis zurück - bevor keiner mehr weiß, worum es in diesem Nicht-Konflikt eigentlich ging! Solche wie Passport to Peril (1951) vom "Original"-Robert B. Parker (nicht dem mit Spenser, sondern einem Ex-Kriegskorrespondenten); eine gepflegte Story, die im Orient-Express nach Budapest beginnt, mit russischen Besatzern, stupiden österreichischen Bauern, amerikanischen Agenten und einem Helden, der mit dem Paß und der Sekretärin eines toten Mannes reist. Mehr davon. Von New York 2010 wissen wir eh schon genug.

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James Rollins - Das Messias-Gen

Blanvalet 2010

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Und dann noch was: Vergessen Sie Dan Brown, vor allem nach seinem unerträglich öden Symbol-Ausrutscher. Abenteuer-Spezialist James Rollins kann´s viel besser, wie er in seinem neuen Roman Das Messias-Gen zeigt. Der beginnt zwar auch in Washington, D. C. (und zwar mit einem radioaktiv verseuchten Toten), führt aber dann mit den bewährten Wissenschaftler-Geheimagenten-Ermittlern der SIGMA Force weiter nach Tschernobyl, Indien, zum Orakel von Delphi und mysteriösen Zigeunerstämmen. Tempo, Pseudo-Science, genmutierte Wölfe und Tiger, Möchtegern-Weltbeherrscher in unterirdischen Zentralen, Spionageintrigen, alles da. Eindeutig nichts für Tom Hanks, umso besser für den Thriller-Freund.

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"Schmauchspuren"


... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

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