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Schmauchspuren #9

Warum die aufregendste Krimireihe der letzten Zeit nicht im normalen Buchhandel erhältlich ist, wer für eine Burenwurst mordet und wie ein Psychiater zum Helden wird: Peter Hiess berichtet über neue Krimis.    26.02.2014

Peter Hiess

Brian Azzarello & Eduardo Risso - 100 Bullets

DC/Vertigo bzw. Speed Comics und/oder Panini

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Meine Damen und Herren, Krimifreunde und -innen! Hiermit steht es offiziell fest: Sie versäumen die beste Krimiserie der jüngeren Literaturgeschichte - außer Sie lesen Comics.

Dabei trabte die Serie "100 Bullets" vor acht Jahren los wie ein One-Trick-Pony. Da tauchte ein gewisser Agent Graves bei typischen Verlierern der amerikanischen Klassengesellschaft auf und überreichte ihnen einen Diplomatenkoffer. Darin befanden sich ein Dossier, das nachwies, wer am Schicksal der betreffenden Person schuld war; dazu eine Pistole und 100 Kugeln, die garantiert keine Behörde zurückverfolgen würde. Im Verlauf weniger Hefte entwickelte sich die scheinbar simple Rachegeschichte zu einer dichten, immer wieder schockierenden und überraschenden Story um eine Verschwörung der reichen Familien, die in Wahrheit die USA beherrschen, ihre historische Killertruppe und komplexe Intrigen zwischen allen Beteiligten. Die phantastisch geschriebene und wunderschön gezeichnete Serie nähert sich nun dem Ende ihrer 100 geplanten Folgen - und sorgt nach wie vor für atemlose Spannung. Wer wissen will, wie Noir heute aussehen muß, sollte sich alle bisher erschienenen Trade-Paperbacks im Original (schon wegen der Sprache, dem Slang, den Wortspielen) besorgen und sie drei-, viermal lesen. Und wer des Englischen nicht mächtig ist, braucht wenigstens die deutsche Fassung. Sonst bleiben wir ewig bei Agatha Christie und den öden Skandinaviern hängen. Und das ist die Wahrheit.

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Carl Hiaasen - Sumpfblüten

Manhattan/Goldmann 2007

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Nach so einem starken Auftritt hat es natürlich jeder schwer, der auf die Bühne steigt - gerade jemand wie Carl Hiaasen, der mit "Sumpfblüten" zwar wieder einen durchaus skurrilen Kriminalroman vorlegt, sich abar gar nicht erst groß bemüht, eingefahrene Gleise zu verlassen. Man kennt die Elemente: die Abscheu des hauptberuflichen Journalisten Hiaasen vor den geldgierigen Umweltzerstörern in Florida und der verblödeten US-Gesellschaft; sein durchwegs neurotisches Personal mit all den üblichen Schwächen, dem Hang zur (genitalen) Selbstverstümmelung und den liebenswerten Traumata; die blutige Komödie der Irrungen und Wirrungen; das ironische Happy-End. Insgesamt ist das ungefähr so überraschend wie ein Abend bei MTV: "Pimp my Florida".

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Pierre Emme - Würstelmassaker

Gmeiner-Verlag 2006

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Der Gmeiner-Verlag hat sich auf das aufstrebende Subgenre der Lokalkrimis spezialisiert und gibt neben Mordgeschichten aus deutschen Landen auch eine Serie über einen Privatermittler aus Wien heraus: Pierre Emmes kulinarischer (nicht schon wieder!) Detektiv Markus Palinski nimmt sich in "Würstelmassaker" des Falls um den "Schlächter von Döbling" an, der überall Leichenteile hinterläßt. Der Held, seine Frauen-, Polizei- und Ministerialkontakte, die manchmal konstruiert wirkende Handlung und Erzählweise - das alles ist liebenswerter Schund, bei dem nur die literarischen Ambitionen stören. Daß man als Wiener vieles wiedererkennt und manchmal auch das Milieu riecht, erfreut wiederum. Und deshalb werden Sie an dieser Stelle bald mehr von Emme und Gmeiner lesen.

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div. Hard Case Crime


Donald Hamilton - Night Walker

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2006

 

Charles Williams - A Touch of Death

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2006

 

Übrigens: Auch am Original-Pulp von einst kann man sich anscheinend sattlesen. Oder liegt´s daran, daß die Bände 16 und 17 der amerikanischen "Hard Case Crime"-Reihe unglücklich ausgewählt sind? Donald Hamiltons "Night Walker" (1954) jedenfalls kann mit seiner klischeehaften Story vom Navy-Leutnant, der nach einem Unfall bandagiert und mit fremder Identität im Krankenhaus erwacht, nicht wirklich überzeugen: zu dick aufgetragene Southern Belles, ein zu wackeliger Spionage-Plot, zu wenig Spannung.

"A Touch of Death" von Charles Williams (1953) wiederum kommt nur langsam in Gang, hat als Ich-Erzähler einen stupiden, geldgierigen Ex-Footballer - und führt das Noir-Klischee von der gefährlichen Femme fatale zum logischen Ende: Die kaltblütige Art, wie die schöne Witwe (und Gattenmörderin) Madelon den "Helden" um den Finger wickelt und gemein austrickst, macht sie zur Vorläuferin von Linda Fiorentino in "The Last Seduction" (ein Film, den man gesehen haben sollte ...).

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John Katzenbach - Der Patient

Knaur Tb. 2006

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Verfilmt sollten auch die Romane des Ex-Gerichtsreporters John Katzenbach werden. Drei gibt es bisher auf deutsch: Der erste, "Die Anstalt" (kriminell gute Erinnerungen aus einem Irrenhaus) wurde an dieser Stelle besprochen; der zweite heißt "Der Patient" und bleibt in der Psychoszene. Der Protagonist ist ein gesetzter Psychiater in New York, der plötzlich die Nachricht erhält, daß jemand namens "Rumpelstilzchen" binnen 15 Tagen sein Leben zerstören wird, wenn der Arzt sich nicht vorher umbringt oder herausfindet, wer sich da an ihm rächen will. Erst als die Existenz des Seelenklempners in Trümmern liegt, schlägt er zurück - und das auf sehr packende Weise. Über Katzenbachs neues Werk "Das Opfer" erfahren Sie demnächst mehr in diesem Theater.

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"Schmauchspuren"


... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

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