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Schmauchspuren #4

Vergeßt Skandinavien! Wer braucht schon Krimis, die sich wie vulgärpsychologische Handbücher lesen? Peter Hiess läßt lieber die wahren Routiniers morden.    22.01.2014

Peter Hiess

John Katzenbach - Die Anstalt

Knaur Tb. 2006

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Wir Krimileser sind gefinkelt. Wenn ein Psychothriller den Titel "Die Anstalt" trägt und von einem Insassen selbigen Narrenhauses an die Wand seiner Wohnung gekritzelt wird; wenn bereits der erste Teil des Buches "Der unzuverlässige Erzähler" heißt - ja, dann werden wir aufmerksam. Weil: Vielleicht ist der Erzähler gar nicht so unzuverlässig, wie der Autor uns glauben machen will. Und er - Francis Petrel, der mit 20 Jahren in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde und sich Jahrzehnte später an die Ereignisse dort erinnert - ist es natürlich auch gar nicht.

Schade um den roten Hering, der in diesem Fall wirklich vom Kopf her stinkt. Trotzdem aber großes Lob für den Roman des amerikanischen Ex-Gerichtsreporters Katzenbach, weil seine Serienmörder-Story spannend erzählt ist, stellenweise an "Einer flog über das Kuckucksnest" erinnert und erst am Schluß ein wenig verärgert. Aber da will man dann schon unbedingt wissen, wie´s ausgeht.

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John Sandford - Kalter Schlaf

Goldmann Tb. 2005

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Trotzdem freut man sich über die Routine eines John Sandford viel mehr. Der betreibt sein Handwerk - vor allem mit den Krimis um Lucas Davenport - aber auch schon um einiges länger als obiger Kollege. Sein Romanheld ist mittlerweile bei der Staatsanwaltschaft von Minnesota für politisch besonders heikle Fälle zuständig und soll sich in dieser Eigenschaft um den Mord an einem Russen und die Aufdeckung eines stillgelegten Rings von "Sleeper"-KGB-Spionen kümmern. Und das tut er so cool, klug und konsequent, wie man es von ihm gewöhnt ist. Ordentliche Arbeit.

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Jasper Fforde - The Big Over Easy

Hodder & Stoughton 2005

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Weil wir Krimileser nicht nur gefinkelt, sondern auch höchst ungeduldig sind, mußte der neue Jasper Fforde im Original her. Der läßt seinen aktuellen Fall aus der Welt der Literatur (oder vielmehr in dieser Welt) nicht mehr von der beliebten Heldin Tuesday Next aufklären, sondern von der britischen "Nursery Crime Division". Was geschehen ist? Nun, Humpty Dumpty ist von der Mauer gefallen und zerbrochen - und möglicherweise steckt ein Mord dahinter. Großartig erzählt, mit unzähligen literarischen und märchenhaften Anspielungen, ein echtes Lesevergnügen.

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Peter O´Donnell - Modesty Blaise: Operation Säbelzahn

Unionsverlag Tb. 2006

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Ähnliches gilt auch für den dritten Band der neuaufgelegten Abenteuer von Gentlewoman-Gaunerin Modesty Blaise. Sie und ihr Kumpan Willie Garvin werden in ein afghanisches Tal verschleppt, wo sie einen paramilitärischen Angriff auf Kuwait vorbereiten sollen. So sehr dieser Plot auch nach aktueller Nachrichtensendung klingt - Peter O´Donnells Roman ist ganze 40 Jahre alt und verbreitet beste, spritzige Sixties-Atmosphäre. Nur Emma Peel war noch cooler ...

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Anders Roslund/Börge Hellström - Die Bestie

Fischer Tb. 2006

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Was in einem kühlen Land passieren kann, wenn dort eine Hitzewelle und zugleich ein Kinderkiller ausbrechen, erfahren wir im Buch eines schwedischen Autorenduos. Aber wir können es ja auch gleich an dieser Stelle verraten: "Die Bestie" und ihre Untaten machen alle Beteiligten, vom Täter bis zum frustrierten Cop, vom bisexuellen Arzt bis zum bangen Vater, zutiefst betroffen, nachdenklich, supersensibel und introspektiv. Was wir daraus lernen? Politisch korrekte Dokumentarfilmer und/oder Strafgefangene sollten keine Krimis schreiben. Und der Hype um die skandinavischen Genrevertreter ist schwer übertrieben. Nur die Verlage haben das noch nicht begriffen.

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div. Hard Case Crime

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2005


Allan Guthrie - Kiss Her Goodbye

 

Donald E. Westlake - 361

 

David Dodge - Plunder Of The Sun

 

Statt nordeuropäischen Kriminalschrott für therapiegeschädigte Hausfrauen auf den Markt zu werfen, sollten die Verlagshäuser lieber die US-"Hard Case Crime"-Serie übersetzen lassen. Tun sie aber nicht. Deswegen halten wir uns an die Originale - diesmal die Bände acht bis zehn: Allan Guthries "Kiss Her Goodbye" (2005) ist ein hartgesottener schottischer Thriller in der Tradition guter britischer Gangster-Filme (also "Get Carter" statt Guy Ritchie): Schuldeneintreiber Joe Hope will den Selbstmord seiner Tochter rächen, steht aber plötzlich als Hauptverdächtiger für den Mord an seiner Ehefrau da. Da helfen nur mehr der treue Baseball-Schläger - und eine schlagfertige Nutte. Auch so kann´s im hohen Norden zugehen.

Donald E. Westlakes "361" (1962) erzählt die Geschichte eines jungen Ex-Soldaten, der nach seiner Entlassung aus der Armee erlebt, wie sein Vater erschossen wird, und danach immer tiefer in einen Mafia-Krieg hineingerät. Wie er die diversen Parteien gegeneinander ausspielt, das erinnert wiederum an den Abenteurer in David Dodges "Plunder Of The Sun" (1949), einer südamerikanischen Story um verlorene Inkaschätze, unseriöse Wissenschaftler und (natürlich) geheimnisvolle Frauen.

Merke: Wenn man sich beim Lesen Humphrey Bogart in der Hauptrolle vorstellt, ist das immer ein gutes Zeichen - zumindest für uns gefinkelte Krimileser.

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"Schmauchspuren"


... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

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