Buch der Stunde

Walter Pilar oder Von der Kunst der Provinz

SEBASTIAN KIEFER
Feuilleton, FALTER 51/15 vom 16.12.2015

Die geniale Idee im Leben des im oberösterreichischen Industriekaff Ebensee aufgewachsenen Dichters und Zeichners Walter Pilar tauchte in den frühen 1990er-Jahren auf: Er begann zu untersuchen, wie man mit Worten (und Bildern) auf sich und die Welt und seine eigene, provinzielle Lage darin reagieren kann, ohne provinziell zu sein.

Pilars gewissermaßen dem Traunsee entsprungenes Leben wird dadurch selbst zum Stoff eines Kunstwerks. Pilar ist als Lokalhistoriker, Ethnologe, Zeitzeuge, Archivar, Philanthrop, Kuriositätensammler, Botaniker zeitlebens in der Traunseelandschaft verwurzelt geblieben. Als Künstler aber war und ist er ein hochgewitzter, sprach-und textbewusster Weltbürger der Moderne.

Er hat die konkrete Poesie, das Dokumentarische, die Montage und Konzeptkunst eigenwillig erprobt, seinen Sinn für Komik, Groteskes und Pikareskes in vielen Modi geschult und die fantasievollsten Weisen hervorgebracht, "Mund-Art" neu zu instrumentieren -vom Pastior-artigen Lautgedicht bis hin zu kunstvoll mit reichem Wortmaterial ausgestatteten und verfremdeten Beschreibungsetüden.

All das ordnet Pilars "Lebenssee" wie eine riesige Installation an. Die großen Geschichtsbrüche werden in kleinsten Begebenheiten und bunt durch die Text-und Denkarten gespiegelt durchwandert.

Das Marginale erhält durch die Gesamtkomposition die Würde eines eigenwilligen Splitters im vielstimmigen Kosmos, der zu reich, verwirrend und unberechenbar ist, als dass er noch einmal in eine homogene Welterzählung passte.

Das "Lebenssee"-Projekt ist nichts Geringeres als eines der großen Dichtungsereignisse der Gegenwart. Es erobert eine neue Dimension im Umgang mit dem heute allseits debattierten Thema Heimat und Provinz, weil es realisiert, wovon der Literaturbetrieb nur konsequenzlos redet -die Pluralisierung der schreibenden Zugänge zur Welt als Herausforderung anzunehmen. In 100 gewitzten Brechungen wird noch einmal ein Abglanz des Ganzen erfahrbar.

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