
Amazons Buchhandlung : Entdecke die Bücher, die Kunden lieben
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Auch offline können Kunden bei Amazon nach Büchern stöbern. Hier in einem Geschäft in New York. Bild: dpa
„Gut zitierbar“ oder „unausderhandlegbar“: Was in Amazons Buchläden steht, wird vom Konsumverhalten der Online-Kunden gesteuert. Das ist das Ende des unabhängigen Lesens.
Der Inbegriff der Bankrotterklärung des unabhängigen Lesens ist die Buchhandlung Amazon.books in Pacific Palisades, ausgerechnet dem Ort, wo Schriftsteller wie Thomas Mann, Aldous Huxley, Lion Feuchtwanger, Emil Ludwig oder Max Horkheimer gelebt haben. Das Geschäft liegt an der Ecke Sunset Boulevard/Swarthmore Avenue und ist damit so etwas wie das Entrée zum Palisades Village, einer Shopping-Mall unter freiem Himmel, die mit ihren kleinen Läden, Grünflächen und kleinteilig gepflasterten, gewundenen Wegen etwas imitieren will, was es gar nicht gibt: die Fußgängerzone eines europäischen Dorfs.
Die kleinen Läden und Lokale halten teure Waren vor; hier sind die Leute wohlhabend, aber einen eigenen Geschmack will sich keiner leisten. Wie sonst wäre der schon im Schaufenster des Amazon-Buchladens riesig ausgehängte Slogan „Discover the books customers love“ erklärbar, der Entdeckungen verheißt, die längst mehrheitsfähig sind? Und für welche Mehrheiten! Ein Regal ist gefüllt mit Büchern, die auf amazon.com mindestens 10000 Empfehlungen bekommen haben, ein anderes bietet „highly quotable books“, worunter solche zu verstehen sind, die „most highlighted“ sind, also von Benutzern des Amazon-E-Readers Kindle am häufigsten annotiert wurden.
Die Absatzkette ist geschlossen: Vom Besteller über die E-Book-Leser bis zum Ladenkunden dreht sich alles nur im Kreis und verstärkt sich gegenseitig, für Abseitiges ist hier natürlich kein Platz. Wenn man sich ein weiteres Regal anschaut, das den „100 Büchern, die man im Leben gelesen haben sollte“, gewidmet ist, dann finden sich gerade einmal zwei Titel von im Original nichtenglischsprachigen Autoren: Haruki Murakamis Roman „Mister Aufziehvogel“ und Marjane Satrapis Comic „Persepolis“. Literarische Klassiker sind gleich gar nicht zu erwarten, das älteste Buch ist George Orwells 1948 erschienener Roman „1984“.
Wobei nicht auszuschließen ist, dass unter den Leselebensempfehlungen doch noch mehr fremdsprachige oder alte Bücher zu finden sind, denn im Amazon-Buchgeschäft von Pacific Palisades sind gerade einmal 45 der hundert Titel ausgestellt – „our pick“, wie es erläuternd heißt, unsere Auswahl. Das meint dann wohl die im Laden tätigen Buchhändler, die damit doch noch so etwas wie literarische Kompetenz für sich in Anspruch nehmen dürfen: auf der Basis einer Auswahl von hundert Büchern. Kein Gedanke, dass hier wie in vielen deutschen Buchhandlungen handgeschriebene Empfehlungszettel der einzelnen Angestellten individuelle Präferenzen erkennen ließen. Doch dafür heißt es am Eingang: „We curate books.“
Wie diese kuratorische Tätigkeit aussieht, steht gleich darunter: In diesem Geschäft, so wird erläutert, finde man ausschließlich Artikel, die im Netz bei Amazon „4 stars & above“ erhalten haben, „top-seller“ sind oder „new & trending on amazon.com“.
Und dann gibt es auch noch eine Gruppe von vorrätigen Büchern, deren Lektüre Amazon-Kunden auf ihren Kindles in drei Tagen oder weniger absolviert haben. „Unputdownable“ lautet das Werbewort dazu: unablegbar oder besser noch unausderhandlegbar. Da sage noch jemand, die englische Sprache könnte es der deutschen an Komposita nicht gleichtun. Man möchte nur wissen, wie es sich mit den Produkten des Presseregals verhält: Ist die neueste Ausgabe des „New Yorker“ zehntausendfach empfohlen worden oder wenigstens „new & trending“? Und die vielen Gartenmagazine? Und warum gibt es hier keine einzige Tageszeitung, obwohl jede doch das Kriterium des in drei Tagen Ausgelesenen lässig erfüllen sollte?

Verantwortlicher Redakteur für Literatur und literarisches Leben.
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