Wilhelm Genazinos neuer Roman : Wenn du einen Rollstuhl brauchst, ruf mich an!
- -Aktualisiert am
Und wenn im Roman von den Rucksäcken der Passanten, vom Radiowunschkonzert und seinem Platz im Leben oder vom Marathonlauf die Rede ist, dann ist damit immer auch das Angebot verbunden, ausgehend von diesen Dingen die Existenz des Erzählers zu beleuchten - ein Angebot nicht einmal so sehr für den Leser als für den Erzähler selbst. Der nämlich führt eher ein lang andauerndes Selbstgespräch, als dass er ein Bekenntnis ablegt; er erklärt nicht uns, sondern sich selbst, was ihm widerfährt, und auch dort, wo es mit dem bedeutungsvoll aufgeladenen Alltag leicht etwas zu viel werden könnte, bildet dieses Verfahren ab, wie sehr die Weltsicht dieses in mancher Hinsicht extrem dünnhäutigen Erzählers von den Dingen abhängt, die er beobachtet. „Eine Art Nachkriegszeit ohne Krieg“, so nimmt er seine Umgebung in all ihren Auflösungserscheinungen wahr.
Spiel mit der These
Zugleich aber beobachtet er sich selbst. „Ich staunte über die Stringenz meiner Gedanken“, heißt es einmal; an anderer Stelle dann: „Ich litt an meiner wieder auftauchenden Überempfindlichkeit und wollte nach Hause“, und tatsächlich gilt seine Wachsamkeit mindestens so sehr der eigenen Wahrnehmung wie der wahrgenommenen Welt. „Wenn etwas anfängt, schwierig zu werden, kann es nur noch schwieriger werden“, meint er und signalisiert zugleich, dass diese Erkenntnis keineswegs in Stein gemeißelt ist, eher ein Spiel mit einer These, die in diesem Moment ihre Berechtigung haben mag, im nächsten womöglich schon nicht mehr.
Wer so lebt, trifft offenbar ungern Entscheidungen, denkt aber gern über verpasste Gelegenheiten der Vergangenheit nach und antizipiert eine Zukunft, die auch deshalb so konkrete Züge tragen mag, weil sie jederzeit ganz anders entworfen werden kann. Es ist eine verschwimmende Zeit, die dort geschildert wird, und in den Protagonisten des Romans scheinen die Kinder durch, die sie waren, ebenso wie die Greise, die sie sein werden. Für den Erzähler gehört dazu ein Versprechen, das ihm Carola einmal gab - sie werde später einmal seinen Rollstuhl schieben, hatte sie gesagt, und als sie sich dann von ihm trennt, gilt seine erste Frage dem Versprechen. Das gelte „nach wie vor, sagte Carola; wenn es so weit ist, rufst du mich an“.
Das Paar als kleinste mögliche Menge
Seine immense Tragik bezieht dieser Roman aber gerade aus dem Zusammenprall dieser ständig wandelbaren Perspektive und dem, was sich gedanklich eben nicht beeinflussen lässt oder, schlimmer noch, was versäumt wurde und nun nicht mehr zu ändern ist. Dass Carola Selbstmord begeht, wird fast beiläufig berichtet, und wie ein Kind scheint der Erzähler dieses Ereignis vor allem insofern wahrzunehmen, als ihm von nun an etwas fehlen wird. Wenn er nach Gründen sucht, findet er sie in Carolas Alkoholismus, bereut ein bisschen, dass er sie auf Distanz gehalten hat, erinnert sich an ihr mitunter mütterliches Verhalten ihm selbst gegenüber und sucht die Verlorene am Ende in einer Liebesbeziehung mit wiederum ihrer energischen Mutter.
„Außer uns spricht niemand über uns“: Das kann man sich, je nach Betonung, so deuten, dass sich niemand für den anderen interessiert. Oder so, dass niemand, der von anderen berichtet, diese eben tatsächlich erfasst - wirklich über „uns“ spricht er nicht. Oder aber so, dass in der zweiten Person Plural die kleinste mögliche Menge gedacht wird, das Paar.
Das hieße dann: Wenn sich die beiden, um die es geht, nicht erkennen, wenn sie nicht verstehen, was sie zueinander treibt oder voneinander trennt, dann wird es auch kein anderer tun. In dieser Lesart stünde das Schweigen des Erzählers im Fokus, seine Gedankenfluchten, sein Ausweichen vor allem - am hilfreichsten zeigt er sich ausgerechnet in dem Moment, als Carola das Kind verliert und er ihr hilft, sich von den Spuren zu reinigen. Und so ist dieses brillant erzählte Buch auch eines der traurigsten, die dieser Autor je geschrieben hat.