Péter Nádas: Parallelgeschichten : Der Koch, der Dieb und der Liebhaber oder so ähnlich
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Bild: Rowohlt Verlag
Unordnung und ewiges Leid: Péter Nádas legt mit den „Parallelgeschichten“ sein Lebenswerk vor. Aus dem Chaos eines Jahrhunderts formt er eine sinnliche Erfahrung.
Dem Leser geht es mit diesem Buch wie der jungen Elisa Koháry, die im Roman einen Schlaganfall erleidet. „Möglich“, heißt es da, „dass sie an der nicht zu verarbeitenden Masse ihrer fortwährenden Eindrücke litt, an der unglaublichen Intensität dieser Eindrücke, an der unglaublichen Tatsache, dass auf der Welt alles gleichzeitig präsent ist und dazu noch mit dem größten Nachdruck.“

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Es ist nur eine kleine Stelle, aber sie ist zentral. Denn sie gibt Aufschluss über das Gedankengerüst des Großwerks von Péter Nádas und ist zugleich so etwas wie ein Beipackzettel zu Risiken und Nebenwirkungen der Lektüre. Die lange erwarteten „Parallelgeschichten“ von Péter Nádas, die nach siebenjähriger Übersetzungsarbeit nun auch auf Deutsch vorliegen, entpuppen sich als ungeheure Provokation, die jede literarische Konvention sprengt, als furiose Überforderung des Intellekts, die jede Leseerwartung in die Irre laufen lässt, bis jedem, der durch diesen Erzählstrudel taumelt, irgendwann schwindelig ist und der Kopf rauscht.
Das erreicht der ungarische Schriftsteller nicht etwa dadurch, dass sich seine „Parallelgeschichten“ auf 1724 Seiten erstrecken, verteilt auf neununddreißig Kapitel und drei Bücher. Bisweilen möchte man ja sogar, dass eine Geschichte nicht zum Ende kommt. Und auch dass Nádas, der im Oktober seinen Siebzigsten feiert und achtzehn Jahre an dem Großwerk feilte, den Leser ohne jede Navigationshilfe durch Länder, Zeiten und Ereignisse schickt, ist keine Herausforderung, die man per se scheuen würde. Die heftigen Reaktionen, die von Freude und Begeisterung über Wut und Entsetzen bis zu Unverständnis und Enttäuschung reichen, liegen vielmehr am unbedingten Willen des Autors, das Chaos der Welt nicht nur sprachlich zu beschreiben, sondern über die Literatur sinnlich erfahrbar zu machen.
Zahlreiche fesselnde Mikroerzählungen
Unendlich viele Figuren tauchen auf, um schon wenig später für immer zu verschwinden. Themen und Motive schieben sich kreuz und quer und ohne erkennbare Verbindung ineinander. Geschichten werden entwickelt, um abrupt zu enden, aber dann deutet sich fünfhundert Seiten später eine bizarre Verknüpfung zumindest an. Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Phantasie, Moderne und Postmoderne, alles wird ineinandergestapelt und hebt sich dabei wieder auf. Es gibt keine Chronologie, keine Kausalität der Ereignisse. Der Text erweist sich stattdessen als undurchschaubares Gewebe. Womöglich ist hier ein Tiefenmuster eingearbeitet, aber das erschließt sich dem Leser nicht, soll es auch nicht. Der Erzählstrom aus politischer Geschichte und privaten Geschichten, der keinen Anfang kennt und kein Ende, zielt nur auf eines: die Erwartung des Lesers zu enttäuschen. Das ist Péter Nádas zweifellos geglückt.
Dass er auch anders kann, hat Nádas, der zu den wichtigsten ungarischen Autoren der Gegenwart zählt, nicht nur in seinen Büchern oft genug bewiesen, und er führt seine Kunst der hyperrealistischen Beobachtung in seinen parallelen Geschichten auch vor. Anders als das große Ganze sind die vielen Mikroerzählungen stimmig, fesselnd und psychologisch plausibel. Zum Auftakt gibt es sogar einen Krimi: Im Berliner Tiergarten wird wenige Tage vor Weihnachten 1989 in der Morgendämmerung eine männliche Leiche entdeckt. Gefunden hat sie Carl Maria Döhring angeblich beim Joggen. Doch tritt der Student im Gespräch mit der Polizei so nervös auf, dass er sich immer mehr der Tat verdächtig macht. Ein Eindruck, der noch verstärkt wird, wenn Döhring kurz darauf nach Düsseldorf reist. Er will dort eine Tante besuchen, schafft es aber nicht, offenbar vom Wahn gepackt, die Wohnung zu betreten, und verschwindet so schnell, wie er gekommen ist.