Thomas Pynchon als Hörbuch : Der Tummelplatz der Paranoia
- -Aktualisiert am
Bibiana Beglau spricht eine der weiblichen Hauptfiguren. Bild: Nirto Karsten Fischer/SWR/dpa
Jahrelang mussten sie immer wieder um die Rechte für Thomas Pynchons „Die Enden der Parabel“ bitten. Jetzt darf ein ambitioniertes Hörspiel-Team seinen radikalsten Roman umsetzen. Aber wie?
Thomas Pynchon, schwärmt der Hörspielregisseur Klaus Buhlert, sei „einer der wenigen Autoren, die schreiben, was man nie erfährt“. Vor allem in seinem radikalsten Roman „Die Enden der Parabel“, dieser Bibel der Pop- und Postmoderne aus dem Jahr 1973, gibt es viele surreale Zusätze zur überlieferten Erfahrungswelt. Die Handlung spielt 1944/45 in London und im kriegszerstörten Deutschland, der „Zone“. Und jetzt auch im Studio 10 des Deutschlandfunks in Berlin.
Das fünfzehnstündige Hörspiel nach dem Roman ist ein aufwendiges Projekt des SWR und des Deutschlandfunks in Kooperation mit dem Verlag Hörbuch Hamburg. Die Aufnahmen in Berlin und Stuttgart haben gerade begonnen. Geplanter Sendetermin ist im Mai 2020, zum 75. Jubiläum des Kriegsendes. Der SWR-Dramaturg Manfred Hess kann es immer noch nicht glauben. Er hat die Unterschrift von Pynchon! Der Schriftsteller – er lebt irgendwo in Manhattan – meidet seit mehr als einem halben Jahrhundert die Öffentlichkeit. Er verweigert Interviews, die wenigen Fotos, die es von ihm gibt, zeigen einen jungen Marinesoldaten mit Zahnproblemen. Jahrelang lang hat Hess immer wieder bei Pynchons Ehefrau und Agentin Melanie Jackson wegen der Rechte für „Die Enden der Parabel“ angefragt, dazu als vertrauensbildende Maßnahme Hörproben geschickt, etwa Passagen aus dem grandiosen „Ulysses“-Hörspiel von Buhlert, als Beispiel für die Umsetzung schwierigster Romane in der akustischen Form. Endlich, kurz vor dem Ende aller Hoffnungen, kam Pynchons knappe Antwort: „Go ahead, Manfred.“
Die Euphorie der Hörspielmacher wurde allerdings gedämpft, als sie bei der Relektüre des einst enthusiastisch gelesenen Romans merkten, was sie sich da aufgeladen hatten. Sie hatten den Text szenischer und strukturierter in Erinnerung. Schwer, eine dramaturgische Linie zu finden angesichts der knapp vierhundert Figuren und der vielen Handlungsstränge, die wie ineinander verschachtelte Albträume wirken oder wie unauflösbare mathematische Gleichungen. Eine Kürzung bei der Bearbeitung soll daher die Geschichten aus dem Roman herausschälen und die hyperkomplexe Pynchon-Welt auf eine gewisse sinnliche Begreifbarkeit herunterbrechen. Allerdings wird kein Satz von Pynchon umgeschrieben, kein fremder Text hinzugefügt.
Ein wandelndes Frühwarnsystem
„Die Enden der Parabel“ ist ein hochkomplexer Ideenroman über die Welt nach dem Absturz aller Sinnstiftungen. Anstelle der Logik eines Plots gibt es eine Atmosphäre allgegenwärtiger Konspiration. Der Moby Dick dieses Großwerks ist das technologische System, unheilvoll und irritierend ästhetisch symbolisiert in der V2 und im Raketenmystizismus von Peenemünde. Pynchon hat dem kalifornischen Underground sentimentalische Romane gewidmet, aber auch Deutschland um 1945 ist eine Gegenkultur, im brutalsten Sinn. Eine Welt in Auflösung und Anarchie, ein Tummelplatz der Paranoia, eine postmoderne Urszene. Zwischendrin im Roman gibt es fiktive Songs, gereimte Raps sozusagen, auf deren musikalische Umsetzung sich Buhlert, der studierte Musiker und promovierte Akustiker, schon besonders gefreut hatte. Zappaesk müsse das klingen. Aber gerade bei diesem Punkt kam ein Veto von Pynchon: „Ich will auf keinen Fall, dass ihr die Liedtexte vertont.“ Musik wird trotzdem wichtig für das Hörspiel sein.
Zugang zu allen exklusiven F+Artikeln und somit zur ganzen Vielfalt von FAZ.NET – für nur 2,95 Euro pro Woche
Mehr erfahrenTyrone Slothrop heißt die Hauptfigur. Er ist ein wandelndes Frühwarnsystem, denn regelmäßig vor dem Herannahen einer V2-Rakete stellt sich bei ihm eine Erektion ein. Er versucht, den Hintergründen seiner Konditionierung und den dunklen Stellen seiner Identität auf die Spur zu kommen. Der Schauspieler Golo Euler spricht Slothrop an diesem Vormittag im Studio, und Buhlert bereitet ihn gerade auf die nächste Szene vor: „Das wird jetzt ganz abgedreht, Golo, das hast du sicher schon beim Lesen gemerkt.“ Er meint Sätze wie diese: „Rhy-thm’s got me, yeah de rhythm got me. . . Yowzah, mecht was rauchn von dem Zeugs was mir zieht die de Fransn glatt im Hirn, nich wa!“ Dergleichen kann man natürlich nicht einfach so vom Blatt lesen, da ist eine gewisse „Haltung“ des Sprechers nötig, wie Buhlerts Grundwort lautet. Die richtige „Haltung“ stellt sich aber nicht so leicht ein. Buhlert gibt dem Schauspieler aus dem Regieraum Hinweise, erklärt die Kontexte, liest die Erzählerpassagen. Jetzt schwebt ihm eine Spur Cool Jazz vor, ein wenig mehr Sprechgesang. Er fängt an zu schnippen, um den Swing zu markieren, und weist Euler an, es auch mit dem Schnippen zu versuchen, um den Rhythmus zu finden: „Damit du in diese Dealergeschichte reinkommst.“
Slothrop ist im Amytalrausch. Das ist ein Barbiturat, das im Zweiten Weltkrieg als „Wahrheitsdroge“ bei Verhören verwendet wurde. Buhlert will mehr davon in Eulers Stimme hören: „Sei nicht zu wach, mehr Amytal!“ Er freut sich über jedes Wort, das den richtigen Ton hat: „Diese ,Pfefferminzbonbons‘ eben haben mir sehr gut gefallen.“ Mit den Bonbons hat es Folgendes auf sich: Slothrop übergibt sich in eine Toilettenschüssel und zählt auf, was ihm alles hochkommt: „Salat nach Art des Hauses mit French Dressing . . . noch ’ne halbe Flasche Moxie und die nach dem Essen gelutschten Pfefferminzbonbons.“ Das ist innerer Monolog, einer von vielen in diesem Hörspiel. Aber wie wird das technisch gemacht, dass die Hörer gleich merken: Das ist jetzt keine Rede, sondern Slothrops innere Stimme? Wenn akustischer Raum um die Figur ist, wirkt es so, als würde sie sprechen. Also nimmt man Raum weg. Die „innere Stimme“ wird aufgenommen in einem mit Absorbern ausgestatteten Raum, in dem es keine Schallreflexion von den Wänden gibt. „Geh mal in den Schalltoten!“, heißt es dann.
Kopf voran in die Unterwelt
Inzwischen ist Slothrop die Mundharmonika in die Kloschüssel gefallen. Worauf er ihr, Kopf voran, in die schaurige Unterwelt der Kanalisation folgt. Eine legendäre Szene, sehr phantasmagorisch und unappetitlich; vielleicht geht Golo Euler beim Sprechen deshalb zu sehr auf Distanz. Buhlert weist ihn an: „Versuch mehr drin zu sein in der Situation und nicht so sehr draufzugucken!“ Leicht gesagt. Endlich ist der Schauspieler auf dem richtigen Weg. „Gib noch ein bisschen mehr Stimme, dann haben wir es.“
Bibiana Beglau spielt am Nachmittag eine der weiblichen Hauptfiguren: Katje, die auf Slothrop angesetzte Doppel- oder Dreifachagentin. Eine dunkle und dämonische Gestalt; gerade hat Beglau in Katjes Namen die Peitsche geschwungen und eine heftige Sadomaso-Szene gesprochen. Die sexuellen Spezialitäten gehören zum Pynchon-Kosmos wie der Slapstick-Humor. Mit ihrer rauhen, gern ein wenig verrucht klingenden Stimme ist Beglau disponiert für solche Rollen. „Für Babypuderwerbung könnte ich nicht antreten“, sagt sie und lacht. Katje charakterisiert sie so: „Diese Figur ist wie eine hohle Nuss, aber mit einer unfassbar großen Oberfläche. Diese Oberfläche ist hochbespielbar.“ Beglau ist mit ihrer reflektierten Sinnlichkeit eine von Buhlerts Lieblingsschauspielerinnen. Pynchons Roman hat sie schon vor Jahren gelesen.
Nun gilt es, eine Szene zu sprechen, die in einer Totenwelt spielt. Um einen leicht kreisenden psychedelischen Effekt zu erzeugen, setzt Buhlert eine Rundmikrofonierung ein. Beglau geht beim Lesen zwischen vier im Raum verteilten Mikrofonen hin und her, so bildet sich die Körperlichkeit akustisch ab. Vielleicht ein wenig zu viel in diesem Fall. Buhlert sagt: „Man hat so ein bisschen dein Schlurfen auf dem Fußboden gehört. Mach’s noch mal, Bibi. Aber nicht die Haltung verlieren.“
Buhlert muss im Kopf ständig springen zwischen den zweiunddreißig Teilen des Hörspiels und unzähligen Partikeln von Sound, Atmosphären, Stimmaufnahmen und Musik, die einmal ein Ganzes bilden sollen. „Ich komme mir vor wie im Schleudergang höchste Stufe“, meint er nach der ersten Aufnahmewoche. Wenn der Regisseur sich immer wieder literarische Großwerke vornimmt (auch den „Mann ohne Eigenschaften“ und Kafkas „Schloss“ hat er schon vertont), dann will er auch zu den Texten selbst verführen. „Ich stelle mir vor, dass man hinterher unbedingt den Roman noch einmal lesen will.“ Das Hörspiel soll ein Weltenöffner sein.