Das Videospiel „Disco Elysium“ : Meine Krawatte nennt mich Bratuschka
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Disco heißt hier: weitertanzen, auch wenn die Welt in Trümmern liegt: „Harry-Baby“ auf der „ironischen“ Statue von Filippe III. in Zentrum von Martinaise. Bild: Za/Um
Was ist das für ein blitzgescheites und komisches Videospiel, in dem Gewalt vor allem Wortgewalt ist? In „Disco Elysium“ muss ein abgehalfterter Cop mit Amnesie einen Mord aufklären. Ein Blick in sein Tagebuch.
Es ist zu spät. Es ist egal. „Disco Elysium“ – damit ist alles gesagt. Alles, was sich noch sagen ließe, steht im kalten Schatten dieses kraftstrotzenden und videospielgewordenen Text-Ungeheuers des estnischen Schriftstellers Robert Kurvitz und seines Studios „Za/Um“. Über Superlative und internationale Auszeichnungen, die seine Qualität würdigen, kann dieses Rollenspiel, das seine ganz eigene, lebendige Intelligenz und Meinung besitzt, vermutlich nur lachen. Es ist „Der Mann ohne Eigenschaften“ der Videospielwelt. „Menschheit, sei wachsam; wir haben Dich geliebt“, steht ganz am Ende. Da hat der Abspann die bröckelnde Welt, in die das phantastische Abenteuer eines zumeist delirierenden Polizisten in Zeitlupe hinein explodiert war, schon wieder zurück in Pandoras Medizinschränkchen gepackt. Die Handlung findet über Dialoge statt, durch die sich der Spieler via Wortwahl navigiert: Gespräche mit Toten, Büchern, blutrünstigen Söldnern, Klassenfeinden, schwarzen Rassisten, dem eigenen Hirnstamm und einer scheußlichen Krawatte, die es gerne krachen lässt. Ausschnitte aus dem Tagebuch einer eigentümlichen Spielfigur:

Redakteur im Feuilleton.
Erster Tag, Montag: Schwimmendes Körnchen Bewusstsein in einem „Ozean aus Urschwärze“. Wollte, ich hätte für immer darin treiben können. Ahnung von Wellen unvorstellbaren Schmerzes, als dieser winzige Lichtfleck meines Bewusstseins vom limbischen System darauf gestoßen wird, dass eine amorphe Masse aus Fleisch lose mit ihm verbunden ist – und dass dieses Fleisch eine ebenso amorphe Masse an Problemen mit sich herumträgt. Sie haben etwas mit der episch zu kurz greifenden Bezeichnung „Ex“ und der Frage, „Wer bin ich?“, zu tun. Lieber mehr „bodenlose Tiefe,“ mehr von den „Liedern des Todes“. Doch irgendein dämlicher Reiz von außen hat die „Schmerzensmaschine“ abermals angeworfen. Was war und ist das? Der Leviathan des Alkoholmissbrauchs: Ein Endzeit-Kater! Unheiliger Kopfschmerz. Endlich aufgewacht: „Hilfe! Schlagt mir den Kopf ab, er versucht den Rest von mir umzubringen.“ Halbdunkel: Horror-Krawatte am Deckenventilator, Klamotten gesucht. Licht an. Großer Fehler! Hat mir fast ein Loch in den Schädel gebrannt. Apokalytpische Zustände. Linken Schuh gefunden! Giftgrünes Schlangenleder. Blondine mit Sommersprossen vor der Tür sagt, ich sei Polizist. Ha! Haha. Ha. Unten: Bebrillte Bohnenstange an der Rezeption stellt zu viele Fragen, auf die es in meiner Welt und auf meiner Zeitachse keine Antworten gibt. Vielleicht niemals geben wird. Zweiten Schuh gefunden. Auf dem Balkon. Hose fehlt.
Zweiter Tag, Dienstag: Stellt sich raus, die Bohnenstange an der Rezeption ist mein Partner! Kim Kitsuragi, seolische Wurzeln, 57. Revier, Revachol Citizens Militia (RCM). Wir sind sowas wie das Gesetz. Spiegel, zeigt mir ein Gesicht, das ich von irgendwoher kenne. Das Grauen. Soll einen Mordfall untersuchen – beziehungsweise, ich untersuche längst einen Mordfall: Toter Söldner. Schmucke High-Tech-Rüstung. Hängt schon seit Tagen im Baum; wird von Tag zu Tag schöner.
Problem Nummer eins: Meine Marke ist verschwunden. Schlimmer: auch meine Dienstwaffe. Was habe ich nur die ganze getrieben? Wo bin ich? Erste Verortung: „Whirling-in-Rags“-Hostel. Stadtteil, Revanchol-West, Bezirk Martinaise, Hafen. Revanchol ist die gefallene Stadt, einst Welthauptstadt, nun in Besatzungszonen unterteilt, nachdem die Weltrevolution – was, Weltrevolution? – vor 50 Jahren gescheitert ist. Sagt die Blonde. Benötige dringend ein paar Fakten. Im Hafen tobt ein Streik. Angeordnet vom Gewerkschaftsboss Evrart Claire. Paar Pfunde drüber: Wirkt hinter seinem Schreibtisch in seinem Cargo-Containerschloss wie eine joviale Qualle. Am Hafentor protestieren „Scabs“, Billiglohnkräfte, die arbeiten wollen, sagen Sie. Die Wahrheit: bezahlte Streikbrecher. Ihr Anführer ist ein mysteriöses Früchtchen, Statur Panzerschrank.
Problem Nummer zwei: Muss beim 41. – meinem Revier? – anrufen, Marke und Waffe als vermisst melden – ohne zu wissen wie ich heiße. Irgendeine innere Stimme sagt mir: „Firewalker“! Melde mich über das Funkgerät in Kims aufgemotzter Motorkutsche: kreischendes Gelächter. Schlimmer noch, es soll ihr vernichtendes Mitleid verbergen. Danach Betriebsarzt angefunkt. Sagt, mein mächtiger Freund Al Gul, der böse Flaschengeist, der flüssige Commodore und seine bunten kleinen Helferlein, hätte mir das Hirn gegrillt. Möglich. Hatte längere Diskussion mit meiner entsetzlichen Krawatte.
Der Fall: Erster Eindruck, Lynchmord. Die Hardy-Boys, eine Art Miliz der Hafenarbeitergewerkschaft (Memo an mich: Muss denen und meiner Krawatte zeigen wer hier der Boss ist!), haben den Mann aufgehängt. Gesicht sieht aus wie ein geschmolzener Blumenstrauß. Rothaarige Göre namens Cuno, unterste Unterschicht, Vater loco dank Speed – führt sich als kleiner König auf. Will nichts gesehen haben. Hat mich völlig unter Kontrolle. Krawatte protestiert. Frage: Wie bekommen wir den Körper jetzt vom Baum?
Dritter Tag, Mittwoch: Die Welt ist kompliziert. Die Gute Nachricht: Ich habe meine Marke und meine Jacke gefunden. Die schlechte: Sie waren im Wrack meines Dienstwagens, mit dem ich – das sagen Augenzeugen und meine Krawatte –, offensichtlich über den Kanal gesprungen bin. Ich fand ihn eingebrochen ins Eis nahe dem Fischerdorf. Pistole fehlt weiter. Dazu: brennendes Loch aus gesichtslosem Kummer im Herzen; kenne meinen vollen Namen noch immer nicht, kein Geld für Kippen. Das zerstörte Zimmer muss bezahlt werden. Sammle Pfandflaschen.
Treffen mit Joyce Messier. Reich, gebildet, Con-Frau, Seglerin. Vertritt die Interessen der „Wild Pines Group“ vor Ort. Einstiger Monopolist qua Erlass des Königs („Suzerain“), vor hundert Jahren. Das einzige Unternehmen, das den großen Rumms unbeschadet überlebt hat. Kontrolliert weltweit 22 Frachtstationen und beschäftigt 72000 Arbeiter. Messier ist hier, um im Streik zu vermitteln, Evrarts Gegenspielerin. Die Schwingungen dieses Ortes sagen mir: Ich brauche dringend etwas zu trinken. Die Realitätswüste trocknet mich aus.
Auch unangenehm: Der Tote holt mich ein. Hängt schon zu lange. Gewerkschaftsführer Evrart bietet die Hilfe seines gigantischen Türsteherklotzes an, Marke schwarzer Übermensch. Hört auf den Namen „Measurehead“. Muskeln für vier, spricht wie ein Buch, in Kapitälchen, sehr laut. Sehr klein und unterlegen gefühlt. Rassentheoretiker. Findet, die „Schinkenstullen“ aus dem Abendland haben abgesehen von ihrer Rassentheorie versagt, indem sie der Welt Elektrizität, Raketen, Eugenik und die „Aerostatics“ genannten Luftschiffe gegeben haben. Sieht sich selbst (und nur sich) als Krone der Schöpfung. Neuer Gedanke: „Das Rassen-Enigma“ – verstaue es tief in meinem „Gedankenschrank“. Deute an, dass ich seine Theorie über „grinsende Mauns in Holzschuhen“ und Seolen, „die lediglich Glück hatten und immer etwas ausbrüten“, mit Verlaub spinnert finde. Sagt, er diskutiert nicht mit minderwertigem Material. Schließlich hilft er uns doch mit dem Körper. Wir dürfen allerdings nicht dabei sein. Später: Spurensicherung und Feld-Autopsie im Hinterhof. Der Gestank kehrt mein Innerstes nach außen. Der Tote redet mit mir. Geschlecht: männlich. Herkunft: „Mondial“ – „das faulende Fleisch sieht weder nach Mondial noch nach irgendetwas anderem aus. Todesursache: Strangulation? Dachten wir zumindest. Aber dank einer minimalen Delle am Hinterkopf habe ich noch etwas anderes entdeckt. Ein kleines gezacktes Mistvieh aus Metall, dass sich tief im Inneren seines Kopfes versteckt hatte.
Problem Nummer vier: Bin mir sicher, dass Kitsuragis Augenbrauen irgendeine Art von Psi-Kontrolle über mich ausüben. Muss wachsam bleiben. Abends Karaoke! „The smallest church in Saint-Saëns“ Nichts davon hat jetzt noch Bedeutung, Nichts hat überhaupt noch Bedeutung.
Vierter Tag, Donnerstag: Befragung der sommergesprossten, blonden Gedächtnisstütze vom Montag – und Sonntag und Samstag und Freitag, so genau weiß ich es nicht mehr. Name Klaasje oder „Miss Oranje Disco Dancer“. Hatte was mit dem Gehängten (und mir?) und vielen kleinen bunten mundgerechten Zaubermitteln. Weiß mehr, als sie zugibt. Erkundung bei lokalen Obdachlosen. Kennen mich unter dem Namen „Tequila Sunrise“. Sind während meines Wochenend-Blackouts Trinkbrüder geworden. Kaufe Ihnen eine Flasche mit einer unirdisch blauen Flüssigkeit ab, die im Dunkeln leuchtet. 98,7 Prozent Alkohol. Krawatte nennt mich nun liebevoll Bratuschka. Sagt, ich soll das Fläschchen für den richtigen Moment aufbewahren. Der Schlips bereitet sich auf unser Endspiel vor.
Brauche Schlaf! Sehe merkwürdige Dinge. Ewigkeit dreht sich um mich, seit unzähligen Stunden – wieder in der Disco, wo ich sie zum ersten Mal zum Tanz aufgefordert habe. Schweben. Ich steige und steige. „Die Schwingen des Schlafes sind mit Sternen gespickt“. Zu viele Gesichter, Millionen, drehen und verändern sich. Ich frage mich was das alles soll. Dunkle Stimme antwortet aus dem vorzeitlichen Abgrund in mir: „Es ist die Welt, Harry-Boy. Und Du bist aus ihrem Stoff. Jeden Tag bist Du da draußen und erschaffst mehr von Dir aus ihr. Ich fürchte, Du kannst jetzt nie wieder ungeschehen sein.“
Disco Elysium ist für den Windows-PC, PlayStation 4 und Xbox One erhältlich und kostet etwa 40 Euro.