Carina Scheerer
Vita
Studierte Germanistik, Theologie und Geschichte in Mainz.
Unterrichtet an einem Gymnasium.
Textfläche
Muttertag
Man sieht es sofort. An den Augen, ja, an den Augen lässt sich zweifelsfrei erkennen, dass es sich bei dem kleinen Baby, das mit geröteten Pausbacken in die Kamera lächelt, nur um sie handeln kann. Es ließe sich wahrhaft unmöglich bestreiten. Und desto größer mit jedem Jahr der Abstand zwischen dem kleinen Wesen auf dem Foto und der erwachsenen, ihr nun gegenübersitzenden Frau wird, desto verblüffender erscheint ihr dieser Umstand. Ja so ungeheuerlich ist diese Tatsache, dass sie darüber flüchtig ihren Kopf schütteln muss, bevor sie vorsichtig das bereits etwas poröse Pergamin umblättert, auf welches die Seiten mit den Fotografien vom ersten Osterfest folgen. Damals hatte sie eine Woche zuvor ihre ersten Gehversuche gewagt. Die Fotos zeigen, wie sie am Morgen des Ostersonntags noch unsicheren Schrittes alleine die kleinen bunten Eier und den ihr fast bis an die Knie reichenden Schokoladenhasen in dem nach dem langen Winter noch ungemähten Gras sucht und einsammelt. Sie schaut von den Bildern auf und blickt in diese ihr so bekannten Augen, die ihr soeben noch auf dem Papier aus dem Gesicht eines kleinen Mädchens entgegengesehen haben. Es braucht einen kurzen Augenblick, wieder in der Gegenwart anzukommen. Das Besehen der Fotoalben aus Charlottes früher Kindheit ist für sie wie eine kleine Zeitreise, so als würde sie wahrhaft kurz Abstand von allem Gegenwärtigen nehmen und nochmal in die Vergangenheit aufbrechen. Die Düfte der auf den Fotografien eingefangenen Momente steigen ihr in der Nase auf, die Geräusche dringen an ihr Ohr, ja geradezu kostet sie den Geschmack des Vergangenen. Sie besieht diese Alben selten. Charlotte hatte sie damals, als sie mit Richard zusammenzog, mitgenommen. Doch auch in den Jahren davor, als diese während Charlottes Studienzeit noch im Schrank in ihrer Wohnstube lagen, hat sie diese fast nie hervorgeholt. Seit einigen Jahren hat es sich nun zur Gewohnheit, ja fast zu einem Ritual entwickelt, sie am Muttertag anzusehen. So auch heute. Der Muttertag spielte für sie schon immer eine besondere Rolle. Als sie selbst noch ein kleines Mädchen war, hatte sie bereits am frühen Morgen in noch taubenetzten Wiesen, die sich hinter ihrem Elternhaus weit erstreckten, einen Blumenkranz aus Gänseblümchen für ihre Mutter geflochten, den sie ihr ans Bett brachte, sie weckte, um ihn ihr sogleich aufzusetzen. Später hatte Charlotte das auch bei ihr getan bis zu dem Jahr, in welchem sie ihr Abitur machte. Doch auch in den Folgejahren ohne Blumenkränzchen kam Charlotte immer nach Hause, um den Tag gemeinsam mit ihr zu verbringen. Am ersten Muttertag nach dem Tod ihrer Mutter, lud Charlotte fortan in ihr Zuhause zum Kaffee ein. Sie hatten gar nicht darüber gesprochen, es fügte sich ganz von selbst, wie eine stille Vereinbarung. In wenigen Wochen erwartet Charlotte ihr erstes Kind. Eine Tochter. Sie erinnert sich an die letzten Tage ihrer eigenen Schwangerschaft und kurz ist ihr, als könne sie die Runde Kugel, auf der Charlottes rechte Hand gerade ruht, auch bei sich spüren. So viel Zeit ist seit diesen Tagen vergangen und doch mutet es gerade so präsent an, als wäre alles erst kürzlich gewesen, gestrig fast. Sie ergreift Charlottes Hand, umschließt sie, drückt sie fest. Ihre Haut hat bereits Runzeln und auch der Ehering glänzt nur noch matt. Charlotte erwidert das Drücken und obwohl sie nicht miteinander reden, will dieses Drücken sagen: Ja, so ist es. Es ist traurig und es ist schön. Es ist das Leben. Durch das Fenster fallen Sonnenstrahlen des bereits späten Nachmittages herein. In der Mitte der Kaffeetafel steht noch ein Viertel Rhabarbertorte, ihr Lieblingskuchen. Auf der die süß-säuerliche Frucht bedeckenden Baiserhaube glänzen goldene Tropfen, die man Engelstränen nennt.
Rutschen
„Kein Problem“, antwortete er freundlich und stellte sich vor, wie er ihn ohrfeigte, „dazu bin ich schließlich da.“ Heute ihn. Morgen den. Gestern jenen. Und wenn nicht einen ihn, dann eben eine sie. Verdient hatten die Ohrfeige allesamt. Marten machte sich gar nicht mehr die Mühe sich überhaupt die Namen dieser Bittsteller, Nörgler und Pedanten zu merken, die täglich vor seinem Schreibtisch aufwarteten. Selbst diese kurzen Personalpronomen beanspruchten noch einen zu großen Raum von Martens Gehirn, um es überhaupt wert zu sein gedacht zu werden. Belanglos waren deren Anliegen, die er ständig zu hören bekam. So nichtssagend, so trivial. Seit mehr als fünfzehn Jahren arbeitete er nun auf der Behörde – sie weiter zu beschreiben würde Marten absolut zuwider sein, weswegen wir es an dieser Stelle auch bei der Behörde belassen. Marten war hier nur so reingerutscht, würde er sagen. Aber wir wissen, dass Marten hier nicht einfach reingerutscht ist, sondern dass Marten es nur nicht geschafft hatte, nicht zu rutschen. Bereits unmittelbar nach seiner Geburt hatte sich Marten in der langen Schlange, die zu dieser Rutschbahn führen würde, eingereiht, hatte sich jahrelang nur den Rücken seines Vordermannes angeschaut, ohne ihn mal zu fragen, worum es hier eigentlich ging und wofür er überhaupt hier anstand. Dafür hatte er zu viel Anstand. Nie hatte Marten auch nur den Versuch unternommen, über die Häupter der vor ihm Aufgereihten hinwegzuschauen oder sich mal ein wenig nach links oder rechts zu lehnen, an den Schulterblättern des Vordermannes vorbeischielend, was es denn da vorne zu sehen gäbe. An ein Auf-die-Zehenspitzen-Stellen oder ein Zur-Seite-tretend-vorbei-Lugen war erst gar nicht zu denken. Marten trottete geduldig in der Schlange, sah sich dabei am karierten Stoff seines Vordermannes –blauweiß – satt und erreichte irgendwann die Sprossen der sogenannten Karriereleiter und bestieg diese ohne zu wissen, wo er ankommen würde. Dem blauweißen Rücken Sprosse für Sprosse folgend, traf er irgendwann oben auf dem Turm ein, von welchem aus er nur noch die Rutschbahn nach unten nehmen konnte. Und so setzte er sich auf seinen Hosenboden und rutschte eben in die Sache hinein. Und er rutschte und rutschte weiter, bis er auf diesem mit sprödem Kunstleder bezogenen Stuhl landete, auf welchem ihm nichts weiter übrigblieb, als gedanklich Ohrfeigen zu verteilen. Wenn er nicht gerade dieser Beschäftigung nachging, dann trank er Kaffee aus seiner Mitarbeiter-des-Monats-Tasse und verfluchte in Gedanken den Geschmack dieser faden Brühe. Warum trank er diesen Kaffee? Warum saß er auf diesem Stuhl? Warum knallte er den Hörer nicht einfach mal auf die Gabel, wenn jemand hier anrief und etwas von ihm wollte? Und warum gab er nicht mal „ihm“ oder „ihr“ eine saftige Ohrfeige? Das wusste Marten nicht, ebenso wenig wie er wusste, wie ein Leben außerhalb der Schlange ausgesehen hätte. Manchmal wäre ihm lieber gewesen, er hätte dort oben auf dem Turm den Sprung nach unten gewagt anstatt zu rutschen. Aber wie sollte man denn nach all dem Blauweiß auf solche Gedanken kommen? Wenn er nochmal am Fuße der Leiter stehen würde, wenn er die Zeit zurückdrehen könnte, dann würde er einen dicken Filzstift – so wie hier viele auf seinem Schreibtisch lagen – in die Hand nehmen und auf einem Warnplakat Vorsicht Rutschgefahr notieren, dahinter noch ein dickes Ausrufezeichen setzen und es an die untere Sprosse hängen, bevor er daran vorbei erneut nach oben klettern würde.
Lange
Lange dauerte es, bis das erste Blatt aus kleinen Knospen spross; lange dauerte es, bis der erste Sonnenstrahl zwischen noch kahlen Ästen hervorlugte; lange dauerte es, bis die ersten zaghaften Vogellaute erklangen und viel zu lange, bis du kamst.
Frühe Märztage, die den ersten Sonnenschein mit sich brachten, dessen Wärme es zuließ, dass man sich auf einen Kaffee und, wenn man besonders waghalsig war, auch auf eine Kugel Eis in ein Straßencafé setzen konnte. Lange kalte Wochen lagen hinter uns, man konnte den Menschen regelrecht die Gier nach Licht, das nicht aus Neonröhren flackerte, und Wärme, die nicht trocken aus staubigen Heizungsrohren flirrte, ansehen. Auch mich zog die Lust nach Luft und Frühlingsgeräuschen nach draußen. Es fühlte sich fast so an, als ob die zurückgekehrten Kraniche meinen Namen krächzten, mich aufriefen nach draußen zu gehen, um sie gebührend willkommen zu heißen. Ich zog meine gestrickte Mütze über die Ohren, ganz ohne traute ich mich noch nicht hinaus. Die Treppenstufen nach unten gehend befiel mich ein sonderbares Gefühl, denn obwohl ich diese jeden Tag bestieg – auf- oder abgehend – kamen sie mir heute wenig vertraut vor, so als ob ich sie noch nicht gegangen wäre, so anders, so fremd, so neu. Ich zog die schwere Holztür auf und trat hinaus in das gleißende Licht. Ein erstes Einatmen und der Geruch nach Frühjahr, nach Kommendem, setzte ein Empfinden von Lebenslust und Kraft in mir frei. Das Nasenflügelbeben dieses tiefen Atemzuges und die sich leichter anfühlenden Schritte vermittelten mir dieses fast schon vergessene Gefühl nach Neubeginn, das sich wie eine Verheißung in meinem ganzen Körper ausbreitete.
Ich schlug meine gewöhnliche Route ein, die zwei Altstadtgässchen – einmal links abbiegen, dann wieder rechts – entlang, um auf schnellstem Weg an den Rhein zu gelangen. Die Wasseroberfläche glitzerte und die gesamte Welt schien sich in diesem Tiefblau zu spiegeln. Keine Wolke war am Himmel zu sehen, nur das Blau, dessen blasser werdendem Verlauf man bis zum Horizont folgen konnte. Nach einigen Schritten wagte ich meine Hände aus den Jackentaschen zu nehmen, sodass mein Schritt sich durch das Mitschwingen der Arme noch lebendiger anfühlte, mir war, als wollte sich alles in mir bewegen. Rasch erreichte ich die Eisenbahnbrücke und überquerte diese in Richtung Park.
Noch schienen alle Äste kahl, doch wenn man genau hinsah, sich näherte, dann konnte man an einigen Sträuchern und Bäumen bereits die kleinen Treibe erkennen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sich die Lücken in den Baumwipfeln schlossen und die wie frisch gewaschen anmutenden Blätter sich schützend, wie eine Decke über den Park legen würden. Im Rosengarten setze ich mich auf eine Bank und ließ mir die Sonne in das Gesicht scheinen, mich von ihr wärmen. Die Augen geschlossen bemerkte ich gar nicht, dass du dich neben mich setztest. Erst als du begannst zu summen, wandte ich meinen Kopf zur Seite, schlug die Augen auf und fand dein Lächeln dahinter. Du verwickeltest mich sogleich in ein Gespräch, dessen Inhalt mir entfallen ist. Ich weiß nicht was du fragtest, nicht was ich zur Antwort gab, nicht mehr wie es dazu kam, dass wir gemeinsam in ein nahes Café gingen, wo wir uns Marmorkuchen und Cappuccino bestellten. Erst spät am Abend hattest du mich durch den Park, am Rhein entlang, durch die Altstadtgässchen – erst rechts dann links – nach Hause begleitet. An meiner Tür verabredeten wir uns für den nächsten Tag.
Wir trafen uns am nächsten Morgen und es dauerte lange bis wir es schafften uns das erste Mal zu trennen. Alles was zwischen unseren Treffen lag erlangte Bedeutungslosigkeit, lediglich Zeit, die es zu überwinden galt bis zum nächsten Wiedersehen. So durchlebten wir gemeinsam den Frühling. Als der Sommer mit seinen ersten heißen Tagen und lauen Nächten kam, packten wir zwei kleine Koffer, warfen das Nötigste hinein und liefen zum Bahnhof, um dort einen Zug nach irgendwo zu besteigen. Wir fuhren durch die Sommerlandschaft, betrachteten die am Fenster vorbeziehenden Höfe, Wiesen und Äcker und Strommaste. Du holtest uns einen Kaffee aus dem Bordbistro und wir aßen Käsebrote, Apfelspalten und Butterkekse. Zwischendurch schliefen wir ein, ich legte meinen Kopf auf deine Schulter, meine Hand lag in deinem Schoß und lange hörten wir gar nicht auf die Lautsprecheransagen, die Ortsnamen verkündeten, die uns ohnehin nicht bekannt gewesen wären. Wenn wir nicht aßen, schliefen oder durch die Fenster sahen, wählten wir Passagiere aus unserem Abteil aus und erzählten uns Geschichten über sie: Wohin war sie unterwegs? Was war ihnen passiert? Wie lebten sie? Hatten Sie Kinder? Einen Partner? Was war ihr größter Wunsch? Was ihre größte Angst? Irgendwann beschlossen wir, dass der nächste Halt nun irgendwo sei und wir stiegen aus. Diese Nacht war besonders mild, wir hörten nur das Zirpen der Zikaden und ab und an ein auf der Landstraße fahrendes Auto, dessen Geräusche sich schnell in der Nacht verloren. Querfeldein liefen wir bis wir ein Plätzchen zwischen hohen Gräsern fanden, um uns dort zum Schlafen zu legen ohne unser Zelt aufzuschlagen. Wir blickten in die sternenklare Nacht und hielten uns an den Händen. Und in der Stille der Nacht konnte man deine und meine Gedanken im Einklang flüstern hören: Dieser Sommer soll niemals enden.
Zugvögel
Zugvögel ziehen ihre Kreise, derweil Wind den kahlwerdenden Wald würgt. Sonnenlicht kämpft sich durch wolkenbehangenen Himmel, stark genug, dass Schatten auf laubbedeckten Boden fallen. Baumschatten, Lindenschatten, Eichenschatten, Grashalmschatten, ihr Schatten. Sie ist schon weit gegangen, den Zugvögeln folgend, gen Süden ziehend. Die Spitze ihrer V-Formation als Kompassnadel, die den Weg zeigt. Doch so sehr sie sich beeilt, Schritt für Schritt ihren Schatten nach vorne bewegt, sie kann die Zugvögel nicht einholen, kommt nicht hinterher, ist erschöpft, hastet, kämpft - verliert. Jedes Jahr aufs Neue kann sie nicht glauben, dass bald wieder die Dunkelheit einziehen wird, dass es am späten Nachmittag zu dämmern beginnt, an manchen Tagen nicht richtig hell werden kann. Vogellautlose, lichtleere Tage vor ihr liegen, sich ausbreitend gleich dem Teppich aus Laub unter ihren Füßen. Wie soll ich dies überstehen? Sie muss rasten, tief Luft holen, stemmt die Hände dabei in die Hüfte. Wieder ein Blick gen Himmel, wo sie einem weiteren Schwarm nachschaut, bis er sich am Horizont verliert und das Geschnatter der Gänse nur noch als längst verklungener Laut in ihrem Ohr nachhallt. Sie versucht diese Töne festzuhalten, zu speichern – vergebens. Und weil sie nicht länger, den Gedanken nicht länger, Stand halten kann, setzt sie sich auf eine Bank. Ihr Atem geht schwer und weil sie es nicht länger hinauszögern kann, muss sie beginnen die Wunden vom verlorenen Kampf zu bandagieren. Darin ist sie gut, zumindest so gut, dass keiner ihr etwas anmerkt, keiner weiß, dass die Wunden tief und nur nicht zu sehen sind, weil sie gut im Kaschieren ist. Das Holz der Bank ist bereits kalt und feucht. Sie sitzt gerne auf diesen Waldbänken, wenn sie sonnengewärmt und golden daliegen, ihr einen Platz bieten. Allzu bald werden sie unter Schneedecken verborgen sein, begraben. Dann findet man keinen Platz mehr, dann bietet sich nichts mehr an. Wie gerne würde sie mitkommen, sich den Vögeln anschließen, schnattern, mit den Flügeln schlagen, den Norden hinter sich lassen. Aber zu groß ist die Furcht davor, nicht mehr zurückzufinden, navigationslos zu sein: keine Ankunft am Zielort auf der rechten Seite, kein ‚Sie haben ihr Ziel erreicht’ – stattdessen nur ein immer widerhallendes ‚Bitte wenden Sie’. Sie denkt an laue Mondnächte, auch die eichendorffsche: Wegfliegen unmöglich, nur in der Fantasie, da wo einem nichts passiert als flöge sie nach Haus. Kranich, Wespenbussard, Kuckuck, Mauersegler, Rauchschwalbe, Brachvogel, Kiebitz, Singdrossel, Sumpfrohrsänger, Feldlerche, Nachtigall - alle ziehen davon, nur sie bleibt hier – auf feucht-nassem Grund, der von einer herabfällenden Träne gemehrt wird.
Verb variabel. Präposition. Objekt.
[...] an ihm
[...] zu ihm
[...] unter ihm
[...] bei ihm
[...] über ihm
[...] in ihm
[...] aus ihm
[...] nach ihm
[...] von ihm
[...] auf ihm
[...] trotz ihm
[...] wegen ihm
[...] neben ihm
sein mit dir.
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