Ulrich Bergmann
Vita
Autor und Rezensent.
Mitherausgeber der Bonner Literaturzeitschrift „Dichtungsring“. Herausgeber des literarischen Internetmagazins www.philotast.com.
Preis des Forums Literatur Ludwigsburg 2006.
Auswahlbibliografie



Textfläche
Nocturne
李白:静夜思 Li Bái: jìng yè si - Nachtgedanken
床前明月光 chuáng qián míng yuè guāng
疑是地上霜 yǐ shì dì shàng shuāng
舉頭望明月 jǔ tóu wàng míng yuè
低頭思故鄉 dī tóu sī gù xiāng
Li Bai: Nocturne
[Übers.: Ulrich Bergmann]
Mir streicht der helle Mond sein Licht
wie Frost vors Bett,
ich reiß den Kopf hoch, starr zum Mond
und lass mich an die alte Heimat denkend fallen.
Kurze Begegnungen
1
Sie trafen sich am Beethoven vor der Alten Post. Die junge Frau im blauen Rock war ganz aufgeregt vor ihrem ersten Rendezvous. Fast pünktlich erschien ein Herr, der zur Beschreibung passte – ein Kopf größer als sie selbst, so gut wie schlank, schwarze kurze Haare, Brille. Er sieht ungefähr so aus wie Bert Brecht, das ist er, dachte sie. Er wartete auch, das merkte sie bald. Aber er schaute sich nicht nach ihr um. Schließlich fasste sie sich ein Herz und fragte ihn: „Warten Sie vielleicht auf mich?“ „Nein“, sagte er, „ganz bestimmt nicht, tut mir leid, ich warte auf eine rothaarige Dame.“ „Ach so“, sagte sie. „Warten wir zusammen“, schlug er lächelnd vor, „das ist halb so schwer.“ Er meint geteiltes Leid, dachte sie. Er fing an, ihr zu gefallen. Sie unterhielten sich über das Wetter, dann über Beethoven, die Stadt und die Menschen in den Straßen, die neuesten Moden und die Sprache der jungen Leute, schließlich über die Liebe – und sie verstanden sich gut und immer besser. Es regnete auch nicht. Die Minuten vergingen immer schneller. Sie hoffte schon auf das kleine Wunder. Da erschien die Rote. Er verabschiedete sich von der jungen Frau im blauen Rock, indem er ihr ziemlich tief in die Augen schaute. Sie senkte ihren Kopf. „Ich will meine Zusage einhalten“, sagte er noch. Die blaue Dame schaute zur roten, die rote zur blauen, die nun wieder wartete. Umsonst. Der Herr, den sie erwartete, erschien nicht.
2
Er – Informatiker, Geschäftsmann, so ähnlich hatte sie es im Kopf behalten. Er holte sie vom Bahnhof mit dem Auto ab und fuhr ins Villenviertel. Er parkte unter Platanen. Sie stieg aus und stand vor dem Haus, das er bewohnte. Es war heiß, auch hier im Schatten. Jugendstil, sagte er, 1898. Im Kamin, vor dem zwei riesige Sessel standen, leuchteten und knisterten Holzscheite hinter Glas. In den Regalen standen nur Bücher mit Goldschnitt. Im japanischen Garten zeigte er ihr seine Modelleisenbahn, Spur Null. Mitten in der zwischen Beeten eingebetteten Gleisanlage, zu der ein Steg über ein Gebirge führte, stand der Kaffeetisch. Er fuhr auf einem Güterzug den Kaffee heran, Milch und Zucker, Plätzchen und Kuchen. Er sprach von seiner letzten Geliebten, Vorzüge und Nachteile abwägend. Sie hörte zu und sagte nur Ja und Ach oder So und Wie ... Schließlich steuerte er einen Personenzug heran. Im leeren Kohlenwagen der Dampflokomotive lagen zwei Diamantringe. „Das sind unsere Freundschaftsringe“, sagte er. – „Oh.“ – „Die tragen wir, solange wir zusammen sind.“ – „Oh“, sagte sie noch einmal.
3
Ein Clochard hat keine Wohnung, aber ein Kunsthistoriker, dachte sie, ist etwas ganz Feines. Wenn der Mann auch noch richtig im Leben steht, habe ich das große Los gezogen. Und wenn er mir Jonathan Meese oder Neo Rauch erklärt, vielleicht verliebe ich mich dann in ihn... Sie trafen sich am Eisernen Steg. Er zeigte auf den hohen Kirchturm, sie gingen über den Römer zum Dom. Er erklärte ihr alles, die Gotik von außen, die Gotik von innen, sie hing an seinen Lippen und ließ sich von ihm in einen nahegelegenen Weinkeller ziehen. Sie setzten sich an einen Tisch im Gewölbe. Am Nebentisch umarmte ein junger Mann seine Geliebte, die sich an ihn schmiegte. Vielleicht liebt er mich bald wie der junge Mann, dachte sie. Sie bestellten Wein und Käse. Sie sprachen über die Kunst und das Leben. Er bestellte wieder und wieder Wein. Und wieder und wieder sprach er über das Leben und die Kunst und die Kunst des Lebens. „Die Liebe“, sagte er, „braucht nicht viel, im Idealfall gar nichts.“ Sie verschluckte sich. „Die Liebenden“, sagte er nach dem dritten Glas Wein, „erschaffen sich überall, in ihren Gedanken oder unter den Brücken am Fluss einer großen Stadt...“ Sie schaute auf die brennende Kerze auf ihrem Tisch. Aber die Zeit wollte nicht vergehen. Sie nippte an ihrem Merlot, spießte ein Käsestückchen nach dem andern auf, und als ihr Begleiter das nächste Glas Wein bestellte, schaute sie wieder hinüber zum Nebentisch, wo der junge Mann sein Mädchen fragte: „Gehen wir zu dir oder zu mir...?“ Da nahm sie ihre Tasche, stand auf, sagte: „Ich muss mal...!“ und stieg die Stufen hinauf zum Ausgang in die freie Nacht.
5
Der Psychologe, den sie in der Abendstunde traf, hatte eine erwachsene Tochter, die in ihrem Schlafzimmer Chinchillas hielt. Er erwähnte, kaum hatte sie sich im Café gesetzt, er vergleiche alle Frauen gern mit Autos. Der Kaffee war noch nicht bestellt. „Meine Ex-Frau zum Beispiel“, sagte er, „war ein italienischer Sportwagen.“ „Aha“, sagte sie, „können Sie das präzisieren?“ „Ja“, meinte er, „Alfa Romeo Spider, in rot.“ – „Und wie schätzen Sie mich ein?“ „Das wird sich zeigen“, meinte er. „Ich will wissen, was Sie jetzt sehen.“ „Soweit ich sehe, guter Mittelklassewagen...“ „Steigen Sie bitte aus, gehen Sie zu Fuß weiter“, erwiderte sie, stand auf und verließ das Café. Sie hat keinen Humor, dachte er und blieb sitzen. So ein ungehobelter Klotz, dachte sie, von Frauen keine Ahnung, von Autos schon gar nicht.
6
„Ich bin Schriftsteller“, sagte der Herr mit der Baskenmütze. Sie nahm die Espressotasse vom Mund und stellte sie ganz langsam auf den Tisch. „Und worüber schreiben Sie?“, fragte sie. „Über kurze Begegnungen“, antwortete er. „Na dann...“ „Nein, machen Sie sich keine Gedanken, ich schreibe nur über scheiternde Begegnungen.“ „Scheiternde...“, wiederholte sie. „Ich fasse den Begriff sehr weit.“ „Aha.“ „Wenn man genau darüber nachdenkt, sind wir alle zum Scheitern verurteilt“, sagte er. „Schreiben Sie, was Sie erleben, oder erleben Sie, was Sie schreiben?“ „Schwer zu sagen“, sagte er, „Sie schreiben ja quasi mit.“ „Das kann auch ein langer Roman werden“, sagte sie und schmunzelte. „Ach was“, sagte er, „kommen wir zum Thema.“ „Wie Sie wollen“, sagte sie, „ich mach’s kurz: Wir scheitern!“ „Aber dann...“ „Ja“, sagte sie, „dann haben Sie mehr davon“, stand auf und ging.
Terres (revised)
in memoriam Peter Bares
(* 16. Januar 1936 in Essen-Borbeck; † 2. März 2014)
Verblutung. Wer an das Göttliche glaubt, glaubt doch nur an sich selbst, sagt Terres, der Orgler, der Glasperlenspieler und Komponist des Selbstgesangs.
Im Herbst war die neue Orgel fertig, gebaut nach seinen Plänen. Eine Orgel ist eigentlich nie groß genug, dachte er. Die Musik kommt da hin, wo sonst nichts mehr hinkommen kann. Terres denkt an das Nichts. Ich will versanden. Gebt mir den kleinen Stoff, der mich ins Nichts hineinrauscht. Ich will nicht mehr. Der Tod liegt auf meiner Wirklichkeit. Terres spürt, wie das Nichts zu ihm kommt, das er so oft schon ersehnte. Morgen bin ich tot – eleison! Ich habe nichts verloren, wenn ich tot bin. Das dachte er Tag für Tag, wenn er seine Augen an die Fassaden der Kathedralen heftete und ihr Maßwerk in Musik verwandelte. Mein Licht wird immer matter, aber ich brenne, ich schreibe, schreibe, schreibe, damit ich nicht ganz untergehe, wenn ich verasche, ich schreibe die Noten gegen das Nichts, meine Blutkritzeleien, bevor die Augen wegrollen, bevor mein Hirn vertrocknet. Terres will sterben, aber wenn der Tod ihn einlud – komm mit, du Schläfer in deiner Orgel, die so viel Luft braucht, du Peitscher, Tonfarbenmischer du, Mixturenschläger, ach, glaubst du wirklich, dass ich dich erschlage –, dann wollte er nicht sterben, nicht jetzt, nicht so. Gestern war ich in der Zukunft, denkt er. Heute bin ich zurück. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich will nicht leben, ich will tot sein, weil ich nicht elend verrecken will, mich hat keiner gefragt, ob ich leben will. Mein Fleisch verfault, die Augen sind trüb. Ich habe Angst, ich verstinke. Nach der Ewigkeit liege ich bei den Irrtümern.
Der Gedanke schießt ihm durch den Kopf, dass er genauso ungefragt wieder geht, wie er gekommen war. Nur der Kopf, nicht der Körper, nicht die faulenden Füße, nicht die gezeichnete Haut, nur das, was in ihm dachte, fand, erfand, erschuf, das soll sein – eine musikalische Chiffre für den Schluss. Terres schlägt ein Buch auf, sucht einen trockenen mathematischen Cantus…
Was Gott tut, das ist wohlgetan; | es bleibt gerecht sein Wille. | …
Der Text ist ihm egal, die Melodie klingt stark. Ich schreibe jetzt das Letzte, das ich sagen kann, von meiner Hirnschwarte runter. Die Götter tropfen von der Leine. Bald bin ich tot und schweige… Er kritzelt den Chorsatz nieder. Ich muss die Noten sauber schreiben, kopieren und jemandem bringen. Terres geht in die Nacht. Er trägt nur seine Haut. Und die Noten. Das ist alles so ein ungeheurer Scherz, denkt er, die werden alle glauben, wenn ich tot bin, dass ich in meiner letzten Stunde auf einmal angefangen habe zu glauben, zu glauben, wo Gott schon tot war, als er geboren wurde, und dass ich fromm geworden bin auf der Zielgeraden – weit gefehlt, da irren sich alle, und so entstehen die Legenden, die alle falsch sind, immer. Gott verschwindet, sage ich, noch nicht einmal in meiner Musik, denkt Terres, weil nicht verschwinden kann, was es nicht gibt - außer mir.
Brandschlaf. Eines Tages – Terres schläft ein in den Noten, nur der Kopf schaut heraus – besucht ihn der Auslöscher und will die Blätter anzünden. Aber nichts brennt. Terres wacht auf. Steigt aus dem Papier. Er brennt, die Flammen schießen wie bei einem Feuerschlucker, der ausatmet, zu den schwarzen Tasten des Klaviers. Aber die brennen auch nicht. Terres wird zum Feuerofen, immer roter, die Hand schreibt Noten in die Luft.
Terres stirbt Tage und Nächte, das Haus glüht und die Papiere krümmen sich, aber sie brennen nicht. Aus den Fenstern sprüht das Licht der Musik wie ein feiner roter Nebel. Mitten in der Nacht.
Der ganze Ort strömt zusammen auf dem Platz vor der Kirche. Die Menschen summen leise, dann steigt der Ton, ein großes Halleluja dröhnt aus den Notenbergen, die Terres schrieb, alle Werke tönen aus tausend Kehlen, eine Tausendfuge, geschmolzene Polyphonie.
Terres tritt ans Fenster im ersten Stock. Da steht er und glimmt. Von innen kommt das Schwarze und greift nach dem Rot, stopft das Maul ihm und schnürt den Hals zu. Terres schluckt das eigene Feuer. Ich saufe die Funkenbrühe hier, denkt er, und weiß nicht, ersticke ich oder ertrinke ich nun, oder ist es dasselbe.
Die Bilder trennen sich von den Inhalten – die Musik ist gelöst von allen Bildern.
Draußen stampft die Masse auf dem Platz mit den Beinen im Rhythmus des Atems, Schluck um Schluck zuckt das Feuer dünner im Hals, Terres verliert den Halt auf den Füßen, stürzt nach vorn, hängt mit dem aschenen Körper über der Fensterbank – bis der Rumpf nach unten fällt, vor die Stufen der schwarzen Haustür, die schon verkohlt war, ehe sie nun noch einmal brennen muss. In diesem Moment stehen sie still, alle, der Gesang erstickt, die Beine ertrinken im Schritt.
Verwurstung. In der Wurstfabrik. Hier werden die Leiber aufgestallt, das sehen Sie dann. Wir gehen jetzt immer von einer höheren in die niedrigere Hygienestufe. Auf der höchsten kommen die Würste fertig aus der Maschine. Die Verpackerinnen berühren sie kurz mit weißen Handschuhen. Auf einem Aussichtssturm sitzt ein Mann und überwacht die Packerinnen. Dann steigen wir hinunter. Kompliziert vernetzte Förderschienen, zahllose rohe Fleisch-stücke schweben durch den Raum.
Terres schaut von oben auf das Schienengeflecht, Männer, die weiße Hüte tragen und jedes Fleischstück mit Messern öffnen. Hier sehen Sie die Schlachthälften, sagt der Schlachtmeister. Viel Lärm, Motorsägen, Haken, die aufs Blech knallen, Schlachthälften baumeln an Haken in langer Reihe. Auf dem Förderband grob behauene Stücke, Arbeiterinnen entknorpeln Hüftknochen in ein Bodenloch. Wurstfleisch aus der Feinzerteilerei. Brühkessel. Vom Band tropfen feuchte Stücke. Der Boden glitschig – dünner Film zermalmter Schnecken. Karren voller roter Chips. Blutplasma, sagt der Schlachtmeister. In der Halle schreie ich, ich sehe Dampf. Der kommt aus dem Fleisch, das ist die Wärme nach der Zerteilung. Sägen kreischen, Dampf brüllt, Wasser zischt. Dann die Borstenbrennmaschine – aus der Trommel kommt der Lärm der Schlachtkörper, die rotieren über der Gasflamme.
Terres denkt, hier ist alles wie Glas, alles ist klar, ich sehe mir an, wie sie mich verwursten, aber wenn sie mich verwursten, verwursten sie sich selbst. Die sind auch nur aus Fleisch. Zum Ende… Zum Ende alle Dinge so betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellen, das ist es! Erkenntnis hat kein Licht! Mein Gott, der Schlachtmeister, schön bist du, agios o theos, sanctus Deus, sanctus fortis, agios athánatos, eléison imas, sanctus immortalis… Wie schön bist du, Schlachtmeister, ich will deine Haut streicheln. Du bist schön, dulce lignum, so schön, ich will dich, denkt Terres, als er zusieht, wie der Schlachtmeister die Risse und Schründe offenbart, ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus. Darauf allein kommt es dem Denken an, denkt Terres. Die Technik in dieser Fabrik ist das Allereinfachste. Terres ahnt, wie sie, einmal ganz ins Auge gefasst, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Er erkennt nun den Schlachtraum als Kirche seines Lebens. Vor ihm steht der junge Schlachtmeister, den er liebt, der nichts weiß von dieser Liebe. Durch den zarten Leib mit Wut * bohr ich Dorn und Nagel * Wasser fließt heraus und Blut * Erde, Meere, Sterne, Welten * waschen sich in dieser Flut. Terres ist heiß, das Blut steigt ihm zu Kopf. Ich allein bin ausersehen. Das ist mein Schlachtaltar. Das ist meine Arche, da bin ich dem Untergang entrissen. Schlachtmeister, spanne dein Glied aus auf zartem Schaft! Aber es ist ganz unmöglich. Ich will ihn berühren, ich will eine Antwort vor der letzten Verneinung, aber er schaut gar nicht zu mir hin.
Ich spüre: Je leidenschaftlicher ich mich gegen mein Bedingtsein abdichte um des Unbedingten willen, umso bewusstloser falle ich. Ich weiß nicht, was ich mehr liebe, die Musik oder die Menschen. Jetzt sehe ich nur noch Symbole, alt bin ich, wo ich kaum noch sehe, was ich sehe. Wie schön die dreigeteilte Schlachtbank! Die Technik der Tötung ist die Theologie unserer Zeit. Ich bin Abraham! Ich bin Isaak! Ich töte mich. Meine eigene Unmöglichkeit muss ich noch begreifen um der Möglichkeit willen. Ob ich mich erlösen kann, ist mir egal.
Hier werden die Stücke gewaschen, sagt der Schlachtmeister, hier schlittern sie aus der Borstenbrennmaschine, hinter dieser Tür. Sind da Haare? Terres! Ist das Blut? Diese ernste Halle ist nur eine Naht zwischen Fleisch und Tier, ein Übergang. Hier sehen Sie, wie der Arbeiter die Augen aussticht, gleichzeitig hören wir die Schlachtung. Was ist denn das?
Die Königin der Nacht, sagt der Schlachtmeister, spitze Koloraturen im Sprühregen der Sprenkleranlage. Sanft berieselt sollen sie entspannt auf die Schlachtbank, wir wollen Qualitätsfleisch. Da ist die Betäubungsbucht. Hier das Schlachtband, eine Röhre. Schreie aus den Betäubungskörben. In der Röhre bewegen sich zwei Leiber vorwärts, stauen sich, warten, rücken vor. Zwei bewusstlose Schlachtkörper rutschen auf ein Blech. Zu eng. Manchmal kriecht der eine Körper auf den Rücken des anderen. Sie laufen ins Helle. Ich renne weg, schwebe in den Schacht zum Kohlendioxyd-See, in dem ich versinke. Ein Arbeiter schlägt mich mit dem Morgenstern. Die Dornen sind stumpf, sagt der Schlachtmeister. Ich krümme mich, kann nicht zurück und nicht nach vorn. Dann bin ich wieder wach.
Terres steht hinter dem Schlachtmeister. Ich stehe hinter dir. --- Terres! Was tust du da! Terres! Agios o theos! Terres stößt den Schlachtmeister in den Schacht. Es war… Es war, als hätt die Erde, ich weiß nicht was ich tat, den Himmel totgeküsst… Ich weiß nicht, was ich tu. Kyrie eléison.
Der Schlachtmeister: Sehen Sie, dieser Mann hängt die Betäubten auf. Er treibt einen Haken durch die Fußgelenke. Vita tollitur. Kopfüber baumeln die Bewusstlosen an der Förderschiene in den Tod. Ein anderer Arbeiter steckt ihnen den Schlauch mit der Speerspitze in den Hals. In den Schlauch verbluten sie. Er nimmt die Lanze jetzt wieder raus. Blut sprudelt über seine Hände. Über einem gekachelten Trog hängen die Geschlitzten, rote Fäden am Hals. Terres erschrickt nicht.
So, sagt der Schlachtmeister, ich darf Sie jetzt bitten.
Versülzung
Ich bin für mich die letzte Instanz
Das ist auch eine Kunst, denkt Terres, als er sich in den Auslagen der Metzger sieht. Die Farbe des Fleischs in den gekühlten Glastheken ist die Farbe meiner Kunst. In der ganzen Stadt verkaufen sie Terres-Würstchen. Das Fressen ist die Hauptsache im Leben. Aber das Fressen ist nur ein Weglaufen vor dem Tod, genau wie die Arbeit des Künstlers, meine Arbeit. Da haben sie mich nun verwurstet und fressen mich noch einmal auf... Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, das wusste er schon lange. Wieviel Brot habe ich gebraucht in meinem Leben? Er geht auf die Kirche zu. Die Füße tun ihm weh. Er geht zu seiner Orgel. Die ist mein bestes Bett.
Auf dem Altar steht der Kopf. Terres ahnte, was er da sieht, da steht der Kopf, der Priester hat alles vorbereitet, Töpfe, Schalen, Löffel, Messer, Gewürze, alles steht auf dem weißen Stein. Darüber das Kreuz. Das ist mein Kopf! Terres greift mit der Hand zum Hals, dann lässt er die Hand ruhen. Ich will es nicht wissen.
Man nehme einen Kopf, sagt der Priester, als er den eisernen Großtopf auf das offene Feuer stellt – er nimmt doch nicht das ewige Licht? – und mit dem Messer das Maul und die Fettbacken ausschneidet, mit dem Schlagbeil die Ohren abhackt, die Hirnschale ausgießt, Zwiebeln zugibt mit Nelken und Lorbeerblatt, während der Ministrant zur Rechten aus seiner kleinen Hand die Senfkörner schüttet, der Ministrant zur Linken einen gestrichenen Löffel mittleren Knatsch einrührt, bis das Salzwasser kocht, aufschäumt, verdammt, Terres sieht nichts mehr, das Ohrläppchen setzt an, das absolute Ohrläppchen!, flach auf den Grund des Topfs gepresst. Aber da schöpft der rechte Ministrant mit der Schaumkelle den grauen Seim ab, um Klarheit zu schaffen, die Gerinnung des Knatschs, diese ohnmächtige hormonische Passion, die den Schaum verwässert, wenn wir sie nicht schnell und beherzt einrühren. Zwei Äpfel, geschält, Exstirpation des Kerngehäuses, zerscheibt und unverzuckert, wirft der linke Ministrant ins Köcheln, sticht probeweis ins fett gebackte Kopffleisch, sammelt die auf dem Topfgrund klopfenden Zähne ein, gefallen aus blühendem Zahnbett. Gelee gebiert sich währenddessen aus der Haut der Ohren, spaltgerändert und, gemischt mit Splittern vom Klitter der Knochen, wächst sandig knirschender Schleim geplatzter Pupillen, Mund und Rachen schälen sich, unschnittiger Knorpel gallertiert und will, geschabt vom Messer, ein letztes Wort, doch schnürt die immer noch hornige Luftspeiseröhre den Knatsch noch fester zu, obwohl - das gewürfelte Fleisch der Weichteile, das gesammelte Fett im Gurkenbad, im Pfefferwind, im Zwiebelsud und Kapernschock, der langsam eingedickte Knatsch begehrt sich selbst und will, dass es sich möglichst hoch verliert. Nimm auf die makellose Gabe!, denkt Terres, als er sieht, wie der Priester, den er verachtet, den Großtopf von der kleinen Flamme hebt, für die unzähligen Beleidigungen und Nachlässigkeiten, lebende und abgestorbene, die ihr mir zufügtet, als ich noch unter euch weilte. Ich bin nicht euer Engel im Bett, ich schlafe nicht mehr mit euch. Das ist vorbei. Der Priester gießt ein wenig Wasser in den Topf, dessen Inhalt sich unsichtbar verwandeln wird. Da opfern sie den Topf mit unzerknirschten Herzen – meine Kopfsülze! Das kann mir nicht gefallen, wie sie mich fressen! Du dummer Topfheiliger!
Terres steigt zur Orgel hoch, accendat tempestatem!, und mitten in das unheilige Opferspiel bläst er den Sturm, bläht alle Segel des Schiffs, bis sich die Masten biegen. Das Feuer erlischt – so sehr tanzt Terres auf dem Pedal, die Schmerzen fliegen weit hinaus ins Freie, die dicken Pfeifen schreien das NEIN zum falschen Herd, und nun vibriert alles – Schüsseln, Löffel, Kellen, Messer hüpfen über die Opferplatte, im Topf zappelt die Sülze, springt hoch in die Luft, und schon steht ein Fuß auf ebner Bahn, der andere wächst ganz schnell dazu, o Gott, verdirb mich nicht zusamt den Sündern, noch auch meinen Tod, denkt Terres, und es wachsen aus dem Kopf Hände, die stopfen den Mund des Priesters, nimm hin!, und setzen eine Tür rings um seine Lippen, dass nicht sein Herz sich neige zu bösen Worten. Amen.
Cis
Ich hatte das höchste Amt, ich schwebte immer über allen Köpfen.
Mitten in der Nacht steht der Tote auf. Sie haben mich geschlachtet, verwurstet, jetzt sind sie mich los, glauben sie, sie glauben immer das Falsche. Ich bin immer da. Auch wenn ich nicht da bin, bin ich da. Er geht über den Kirchplatz auf das Westwerk zu, von dem er seine Musik ablas, die er ins Maßwerk hineinhörte. Die Weihrauchschwenker wollten diese Musik nicht, sie störte den Märchencharakter der una sancta ecclesia. Terres spielt auf der Orgel von St. Peter zu S. Mitten in der Nacht sollen sie alle das Wunder hören, das eigentliche Wunder, das er in den Falten der alten Kirche aus reiner Luft erschafft. Meine Orgel ist ein Wunder, ein bares Gesamtkunstwerk. Solange kein Klempner sich an ihr vergreift, kein falscher Organist, erklingt das Wunder, das ich ihr einhauche.
Terres spielt Worte und Zahlen auf seiner Orgel. Wie herrlich klingt das Wort Nichts. Es gibt auch eine Flucht vor der Flucht aus dem Leben, denkt er, meine Flucht aus der Welt ist meine Bewegung zum Leben hin, die einzige Möglichkeit zu sein, was ich bin. Aber was ich bin, sagt mein Werk nur eine kurze Weile in dieser höllischen Ewigkeit.
Terres spielt so kraftvoll, dass seine Glocke dem Pfarrer, als der vom schönen Lärm, der die Kirche und den ganzen Platz erhellt, herbeieilt aus seiner armen Nacht, übers Haupt fällt - „Terres cum alibus civibus campanam condidit“, steht am Metall, das nicht zerspringt. Cis macht die Glocke, als sie den Pfarrer einkerkert, dem nun die Luft ausgeht, der mit sich und seinem letzten Amen ganz allein ist, das keiner mehr hört. Cis, murmelt Terres, das fromme Gesocks, diese Weihwasserasseln! Die Pfeifen zürnen immer schriller. Alles bebt unter den neuen Registern, die der Tote spielt, die Masten des steinernen Schiffs splittern, die Scheiben fliegen aus den Fenstern weit über die Stadt. Dann kracht der Bau zusammen, nur die Westfassade bleibt stehen, hinter der die Orgel auf gotischen Pfeilern noch immer rast. Meine Musik ist ein Reigen permanenter Orgasmen, denkt Terres, als die Spermien auf die Stadt nieder nieseln.
Da endlich kommt Gott. Er hat ein schlechtes Gewissen. Terres traut seinen Augen nicht. Der da, was macht der da, das ist eine Fata Morgana, wo bin ich? Aber als die Trompeta magna aus dem Pfeifenwerk der Hauptorgel sich löst, zischend nach unten saust und Gott erschlägt, ist alles wieder gut. Jetzt kann ich mich wieder hinlegen, sagt Terres, es ist vollbracht. Unser Leben ist, wenns hoch kommt, ein Seiltanz, im besten Fall ein Gleichnis des Scheiterns. Aber wer scheitert, hat gelebt.
Fraß. Am Tag nach der Himmelfahrt feiern die Bewohner der Stadt S. das große Mahl inmitten der Kirchenruine. Sie wollen die Kirche nicht wieder aufbauen, die Ruine solle so stehen bleiben, wie sie ist, zumal sie jetzt viel schöner aussieht als vor dem Einsturz. Die Orgel bleibt unversehrt! Terres ist tot, Gott ist tot, wer soll nun auf der Orgel spielen? Die Musik war eingefroren, das Eis klingt weiter.
Der Höhepunkt des Abends ereignet sich, als die Kopfsülze aufgetragen wird, der Schmaus oder, wie sie hier zu sagen pflegen, wenn ein schwieriger Fall abgeschlossen war, der Knatsch – der Sülzkopf, der Knatschkopf, der nach dem großen Fressen, wie so gesagt wird, gegessen war, die Lösung einer unlösbaren Frage. Die unlösbare Frage war Terres, zeitlebens, er war der Knatsch, der nun endgültig gegessen ist: Diese entsetzliche Musik, die er auf der Orgel spielte, bis die Seelen quietschten, die immer erst geölt wurden, wenn es schon zu spät war. Terres spielte sich mit Händen und Füßen in ungedachte Räume. Die Atmosphäre wusch sich, wenn die Orgelfürze in die Kirche knallten, die Schlachthalle.
Die Messdienerin tragen Terres hoch über ihrem Kopf zum dreigeteilten Tisch, auf empor gestreckten Händen ruht das steinerne Tablett, auf dem die Sülze zittert, das Haupt aus Fleisch und Blut.
Was denkt dieser Kopf? Er sagt nein. Er wackelt hin und her. Erinnert sich. Nein. Erst haben sie mir die Ohren und Fettbacken angehackt, das Hirn ausgenommen, jetzt denkt es woanders und ganz versprengt. Jetzt will ich meine Hände wiederhaben, meine Orgel reiten, dass sich die Säulen biegen und der Raum nach innen platzt, wenn ich die Abgründe öffne, die mich verschlucken.
Elegie. Alle Bürger der Stadt bekommen die große Flattulenz – eine wunderbare Fernwirkung des großen Fressens in der Orgelstätte –, bis ihnen das Heilige über den Schoß läuft, das Obszöne, die Kehrseite des Heiligen, das Wunder der Verführung, aber das geschieht nie.
Wissen Sie, den Realitätssinn und Pragmatismus unserer Stadtbewohner nenne ich eine Flucht in die Arme des Todes mitten im Leben, pfui Teufel! Da stehen sie alle mit beiden Beinen auf der Erde und reißen Träume aus! Träume!
Aber das ist noch nicht alles. Immer wieder kommt es vor, nicht nur in den Nächten vor dem Auferstehungstag, da fangen die Pfeifen ganz von allein an zu spielen, ohne Noten, ohne irgendeine Harmonie, und es ist nicht der Wind, der in sie hinein fährt.
Blind Date
Das Ende, dachte ich. Das Ende. Vielleicht beginnt es auf einem Parkplatz: Ich frage meine Freundin, wer sitzt in den Autos dort hinten? Geh hin und sieh nach, sagt sie. Ich laufe in die Ecke zu den Autos und beuge mich über die Windschutzscheiben. Ich sehe darin nur den Himmel, der mich blendet, und Schatten. Da ist kein Platz für Farben. Kein Gesicht blickt mich an. Ich laufe zur Seite, gehe in die Knie und schaue zum Seitenfenster nach innen. Ich gehe von Auto zu Auto. Was sehe ich? Von Auto zu Auto. Was sehe ich? Die Sonne über mir. Dann fallen Tropfen. Sonnenregen. Ich gehe von Auto zu Auto. Was sehe ich? Was siehst du?, ruft die Freundin. Ich drehe mich um. In jedem Auto sitzt die gleiche Person, sage ich. Dann ist alles in Ordnung, sagt sie, komm, wir gehen in die Stadt. Ich kenne die Leute in den Autos nicht, sage ich. Die Wolken, sagt sie. Immer die gleiche Person, sage ich, ich kenne sie nicht. Ja, sagt sie, wenn sie dir fremd ist. In jedem Auto das gleiche Gesicht, sage ich. Kein Wunder, sagt sie, wir kennen ja kaum uns selbst.
Neuen Kommentar schreiben