Matthias Fritz
Vita
Lebt in Berlin, wo er an der Freien Universität lehrt
Studium der Indogermanistik und Klassischen Philologie in Würzburg und Erlangen
Promotion und Habilitation an der Freien Universität Berlin
2007-2011 Professor an der Brjussow-Universität Eriwan
Forschung zur armenischen Fabelliteratur an der Armenischen Akademie der Wissenschaften
Übersetzungen armenischer Literatur; Monografien, Artikel und Rezensionen zur Linguistik
Veröffentlichungen und Herausgaben u.a.
„Literarische Übersetzung als angewandte Linguistik“ In: Mariana Lăzărescu (ed.): Deutsch als Fremd- und Muttersprache im Mitteleuropäischen Raum Berlin (wvb – Wissenschaftlicher Verlag Berlin) 2014, 119-136.
„Das Kamel im Nadelöhr: Wer war Iwan Akunoff?“ In: Studia Niemcoznawcze 47 Warschau (Instytut Germanistyki Uniwersytetu Warszawskiego) 2011, 367-380.
„Hakob Movses: Gedichte (Schweigen, Ruhe, Die Rose, Aus der Geschichte des Landes, ***“ In: oda: Ort der Augen 2/2011 Magdeburg / Oschersleben (Friedrich-Bödecker-Kreis / Ziethen) 2011, 74-78.
Jeghische Tscharenz: Die Reisenden auf der Milchstraße Ausgewählt und übersetzt von Matthias Fritz (Schöner Lesen 82) Berlin (SuKuLTuR) 2009, 16 pp.
Textfläche
Axel Bakunz (1899 – 1937)
Der Säer der schwarzen Furchen
Ich frage Avag:
– “Ist der Vorhang noch da?”
– “Ist er.”
– “Und seine Mutter?”
– “Seine Mutter glaubt es noch.”
Danach hebt sich ein anderer Vorhang, und man sieht die sonnenüberflutete Araxebene, das gelb gefärbte Schilf am Ufer, das sich in der Frische des Flusses kaum wiegt.
Mit Avag erreiche ich den Rain des gemähten Feldes und wir setzen uns unter eine einzelne Platane. Mein Freund wischt sich die verschwitzte Stirn ab und richtet die von der Sonne geblendeten Augen auf das dunkle Laub. In die Zweige haben sich dicke Stare und feldgraue Spatzen gesetzt. Sie werden unruhig, und es scheint, als ob sie sich fragen, was für Menschen wir sind, ob wir eine Waffe in der Hand hätten oder gleich einen Stein nähmen. Dann beruhigen sie sich, weil der Vogelälteste sie für ihre unangebrachte Aufregung getadelt hat. Dennoch flattern die Vögel auf ihren Zweigen weiter hinauf. Sie verschwinden zwischen den Blättern, und das aufgeregte Unterhaltung der Vögel nimmt kein Ende.
Vor Hitze und Müdigkeit werden meine Lider schwer, und als ich die Augen schließe, höre ich das Sausen tausender Sensen und selbst das Fallen der Ähren. Dann wird jenes Sausen stärker, es wird frisch, und ich höre das Aufeinandertreffen zahlloser Lanzen. Es rauschen die Schilfrohre … Irgendwie kommt von den Bergen das Flußbett entlang ein kalter Lufthauch.
Dann lege ich mich neben Avag und blicke vom rauschenden Schilf zum Ararat. Der dunkelblaue Schatten des Berges ist zu sehen, oben weiße Wolken wie Schnee. Wenn sich das Schilf wiegt, wiegt sich auch der blaue Schatten des Berges, kaum merklich zittert der weiße Schnee des Gipfels, der in der erhitzten Luft seinen kalten Glanz abgibt.
Und tief atme ich die Frische ein, die von dem hohen Gipfel des Berges herabsteigt, von den wolkengleichen weißen Schneefeldern und von den blauen, für mich ewig unerreichbaren Wolken …
Der Lehm des Bodens ist von der Sonne gerissen. Aus den tiefen Spalten steigt der Duft der versengten Erde. Eine Spinne hat ihr Netz über einem Spalt gewoben; ich nähere die Spitze eines Strohhalms dem Netz, und das hungrige Tier eilt aus der dunklen Tiefe der Erde hervor: Eine haarige Spinne, und mit unbändiger Schnelligkeit geht sie auf den goldenen Fäden im Kreis, wobei sie ungeduldig nach Beute sucht.
Zwischen den Strohhalmen rollt ein schwarzer Käfer eine runde Mistkugel. Das ist er, der mistfressende Skarabäus, der Käfer, den die Ägypter heilig nannten, wiel sie glaubten, daß er die Erdkugel rollt wie diesen runden Mist. Einen Augenblick gibt sie dem Schwarzen inmitten der Strohhalme, dann wird er mitsamt der Mistkugel in die Erdspalte gerollt.
Ich zerdrücke den Lehm mit den Fingern, die uralte Materie, die es in dieser Ebene gibt. Wie viele Füße, wie viele Hufe, wie viele Räder sind über diesen Lehm hinweggegangen? Wieviel Schnee hat er abbekommen, und Wind und Sonne und Regen?
Lautlos, ewiglich still war es …
Da werden in der Ferne graue Gartenmauern und Hauswände sichtbar: Gemauert aus demselben alten Lehm. Die Sonne hatte den Mauersims versengt, Wind und Regen hatten an ihm genagt, an einer Stelle eine Lücke hinterlassen, an einer anderen einen Zacken.
Die alten Lehmmauern hockten auf dem weiten Feld wie kniende Kamele. Eins von ihnen ist am Hals angepflockt, von einem anderen ist nur der Höcker zu sehen, das dritte hat sich auf die Vorderläufe gekniet und man meint, es müßte sich auch gleich auf die Hinterläufe niederlassen.
Geh bis ins alte Babylon, in die Welt der Elamiten, bis zum Toten Meer und zu den versengten Feldern Mesopotamiens, überall wirst du diesen biblischen Lehm sehen, eine Platane wie ein Grabmal und heilige Käfer.
Und wie schnell sterben auf diesem Feld die Mauern, zerdrücken Eisenräder haarige Spinnen, und schwillt der fruchtbare Lehm von neuem Samen.
Aufgestanden, Avag, es ist frisch geworden …
* * *
Man nannte ihn Seth, und weil sein Vater schon lange gestorben war, benannte man ihn nach seiner Mutter Eranuhi (= Glückliche) Glückskind Seth oder auch Glücks Seth (= Erani Seth).
Klein war er von Wuchs und groß, tief war seine Stimme und fein, und wußte er, die Flöte zu spielen, und hatte er ein Mädchen geliebt und hatte er sich eben unter jener Platane wie wir sich ausgeruht, immer wenn er zurückkehrte von den Feldern an den Ufern des Arax? – All jenes überlieferte mir nicht mein Freund Avag, oder vielleicht hat auch er es erzählt, doch in meiner Erinnerung hat die Zeit die klaren Farben jener Geschichte verblassen lassen. Und jetzt, wenn ich über ihn schreibe, den ich nie gesehen habe, erinnere ich mich von dem von meinem Freund Erzählten daran, daß Erani Seth der beste Säer des Dorfes war.
Auf unserer Seite steigt der Arax im Frühjahr über seine Ufer, und das Hochwasser breitet Schlamm weit über die Ebene und das ufernahe Schilfland verwandelt sich in grüne Inseln. Der Säer sät die Saat, wenn die Wasser zurückgehen und am Fluß feuchter Schlamm zurückbleibt. Er entblößt die Beine bis zu den Knien und an den Hals hängt er sich einen hölzernen Scheffel. So geht er mit wiegenden und gleichmäßigen Schritten. Er geht und mit der rechten Hand nimmt er eine Handvoll schwere Körner, die einen Augenblick in der Sonne funkeln wie ein Schwarm Spatzen, und durch ihr Gewicht fallen sie in die Erde.
Genau so ein Säer war Seth, ein Feldarbeiter. Er hatte eine Mutter, ein altes Häuschen, zwei Pappeln, in deren Spitze jedes Jahr der gleiche, schon bekannte Storch sein Nest erneuerte und für die greise Eran Frühlingsfreude brachte, wie die anderen Störche – für die übriggebliebenen Häuser im Dorf.
Wenn der Storch im schlammigen Boden keinen Frosch fangen konnte, ging er halt zurück zu den Arax-Fluten, und es war die Zeit, als Seth den Scheffel umhängte, Saatgut streute, und die Mutter aufstand, um die Wiesen des Hofes umzugraben, die zur Hälfte die Nachbarshühner verdarben, aber in der Zwiebelwiese schlief ihre eigene, Erans, Katze.
… Das ist eine ganz klare Geschichte, völlig verständlich. Das Dorf im Rücken der Genossen, geheime Vorbereitungen eines Umsturzes im Dorf, als von Süden die rote Kavallerie einfiel. Nächte des Schreckens, Zwang, Angst, Raub. Nächte, als man eine verhungerte Menge zu den Stellungen trieb, als diejenigen hinter die Stellungen flohen, die den Schweiß auf die Erde triefen lassen wollten, die Felder wässern und Frieden haben in den eigenen elenden Hütten.
Als man im Dorf von Süden den ersten Kanonendonner hörte, und der zurückweichende Feind den Anführer der Reiterei umkehren ließ, brach im Rücken des Feindes der Aufstand los, wie ein Widerhall jenes ersten Donners, der den Hütten Freiheit von der föderativen Sklaverei verkündete.
Es gab Sonne, sogar Störche waren da, und in öligem Glanz leuchtete in der Sonne der fruchtbare Schlamm auf. Plötzlich kam ein Kugelhagel von der Schilfseite, wo sich eine Gruppe aufständischer Dorfleute gegen die weißen Reiter verschanzt hatte.
Seth kniete sich an der Hinterseite der Platane hin, und sein Gewehr krachte. Die erschreckte Schar der ausschwärmenden Reiter zerstreute sich, dann bildeten sie wieder eine Staffel, und die Pferde hetzten über die feuchten Erdschollen zu dem einzelnen Baum, der auf dem öden Feld den schwarzen Schatten geworfen hatte.
Am Abend kam die rote Kavallerie ins Dorf.
Erst am nächsten Morgen, als auch die schweren Geschütze kamen, den schmalen Pfad entlang des Feldes, auf einer Bahre aus Schilfrohr, brachten die Kameraden die Leiche eines getöteten Säers nach Hause. Seine Waden waren nackt, auf einer Seite war getrockneter Schlamm und versengtes Blut. Nur die starren Augen waren zu sehen, die regungslos blickten, wie die graue Wolke aus endloser Tiefe.
Er war mit Blutverlust auf den feuchten Schollen zum Schilf geschlichen, zum Wasser, mit den rauhen Fingern hatte er den Boden aufgekratzt, hatte die Finger beschmutzt und in seiner Empfindungslosigkeit Schmutz mit den Fingern auf die verwundete Schulter gestreut. Dann hatte er sich mit dem Gesicht nach unten in den kalten Boden gegraben wie ein Samen Goldkorn.
Ich blickte auf eine niedrige Tür, hinter der es keinen Laut gab, sich nichts rührte. Bei Sonnenuntergang erschienen die zwei Pappeln auf dem Hof so hoch.
Tante Eran, die Glückliche, sah nicht die Leiche ihres Sohnes, nicht die Beerdigung. Als man ihr mitteilt, daß sie ihn da bringen, rennt sie mit einem Aufschrei nach draußen, aber sie gelangt nicht bis zur Schwelle … Vier Tage bleibt sie ohnmächtig. Man sagte, daß sie sterben will …
2
In den Bergdörfern gliche dieses Gebäude einer alten Scheune. Im Dach wäre eine runde Öffnung, und mit flachen Schaufeln würden von der hohen Tenne die warmen Heuballen ein Schwung nach dem anderen hineingeschaufelt. Danach würde man die Öffnung mit trockenem Reisig abdecken, und ein herrenloser Hund würde auf dem Heu überwintern, Ende März würde der Hund werfen, der im Herbst trächtig geworden war, sechs Mischlingswelpen unter dem Zaun.
So wäre es in den Bergdörfern.
In dem Dorf in der Ebene ist dieses Gebäude die Kirche gewesen. Der Vorhang ist entfernt und die Heiligenbilder. Der Schmied hat das steinerne Taufbecken mitgenommen und wirft jetzt die glühende Pflugschar in das trübe Wasser des Beckens. Geblieben sind drei steinerne Stufen, über die der Klub der Unterirdischen herabsteigt, die zwei kupfernen Kandelaber, an denen Petroleumlampen hängen. Geblieben ist das Schilfdach und das wie Kronleuchter herabhängendes Schilf, das sich wiegt, wenn die Tür geöffnet wird. Unter dem Schilfdach des Vereins leben die alten Tauben, und wenn draußen Schneegestöber ist, drängen sie sich in der vom Rauch verrußten Nische, dort, wo die Silbergefäße aufbewahrt wurden.
Neue Bilder zieren die weißen Wände, und unter dem alten Gewölbe erklingen neue Worte. In dem erdgeschossigen Gebäude lärmen heitergestimmte Gespräche der jugendlichen Generation.
Auf den Türsturz, in den Stein, meißelte man im ersten Jahr einen Hammer und eine Sichel, innen: schrieb man mit einfachen Buchstaben: “Es lebe”. Von jener schmucklosen Meißelei spiegelt sich jetzt wider die heilige Schlichtheit der ersten Gläubigen, die unwiederbringliche Anmut, die den ungeübten Stil der anfänglichen Tage hat, wenn der neue Mensch aus der dichten Finsternis des Alten springt zum neuen Morgenrot und die ersten Spuren prägt in die Steine, auf die Papiere und mit heller Freude seine neue Seite anfängt.
Die ersten Prägungen werden zu Heiligkeit, die Helden werden unsterblich, und es kommen die neuen Sänger, mit Lobliedern von ihnen und den heldenhaften Tagen.
Und nun ein bei den Novemberfeiern in jenem Klub mit dem Schilfdach ganz gewöhnlicher Fall.
Alle Öllämpchen hatte man angezündet, aber unter dem Gewölbe war es noch dunkel. Es schien sogar, daß die Finsternis von der Beleuchtung des Gewölbes dichter würde. Die Bühne war hell, und das Licht der Bühne erreichte kaum die ersten Reihen, wo sich auf den niedrigen hölzernen Bänken die zu früh gekommenen Zuschauer drängten.
Das Türchen öffnete sich andauernd, der Novemberwind wehte herein, das Schilf wiegte sich, und die Gewölbebeleuchtung flackerte. Menschen, die durch jenes Türchen hereinkamen, stiegen die drei steinernen Stufen herunter, sie verloren sich im Dunkel, Zigarettenglut wurde sichtbar, wie Glühwürmchen in der Nacht. Dann gingen sie vor zum Licht.
Die Mädchen schmückten die Bühne. Was kann auf den Feldern sein, an Novembertagen … gelbliche Nadelsträucher, noch grüne Zweige der Heckenrose, wilde Herbstzeitlosen, die bei Kälte blühen und als einzige die Herbstsonne genießen. Die Mädchen hatten aus den gelblichen Nadelsträuchern, aus den grünen Heckenrosenzweigen und aus den herbstlichen Feldblumen Ketten und Kränze geflochten, aufgesprungene Baumwollknospen an die Kränze gesteckt, und jedes jener Bilder, mit einem roten Band, an die Wände gehängt.
In einem Winkel waren die Banner, die unter Aufsicht einer schlichten und am Rot schon abgenutzten Fahne standen, auf der sogar das einfache Hammer-und-Sichel-Symbol war, wie man es in die Fassade an der Tür gemeißelt hatte. Jene war die erste Fahne des Aufstandes, die das Dorf hochhielt, als von Süden das erste Geschütz der Freiheit donnerte.
Sie machten die Tür auf, herein kam der Novemberwind, das Schilf wiegte sich, das Licht der Öllämpchen ließ nach und loderte dann auf, und es flatterten die Fahnen. Wie ein alter Soldat, der auf den Schlachtfeldern schreckliche Verbrennungen erlitten hatte, überlieferte die ausgeblichene Fahne des Aufstandes den vergoldeten neuen gleichsam mit leisem Flüstern die grausame Klarheit der gleißenden Tage, als die Feldarbeiter sie hißten, wie einen Leuchtturm der Rettung und ein Zeichen des Aufstandes, sie selbst flatternd über den Hütten den metallischen Lärm der Kugeln hörte, die blutigen Leiber der ersten Opfer sah und, als die kupfernen Trompeten die Trauermusik erklingen ließen, sich vor ihren Gräbern verneigte.
Objekt des Interesses der Leute auf der Bühne war der neue Vorhang, den zwei junge Arbeiter als Geschenk aus der Stadt gebracht hatten. Sie hatten den Vorhang oben befestigt, so blieb er und, wenn man an der Schnur zog, fiel der Vorhang in Falten herunter. Doch warteten sie den feierlichen Moment ab, wenn sich alle versammeln sollten, und sie selbst, die aus der Stadt gekommenen Jugendlichen, eine Begrüßungsrede halten und über jenes sowie auch über andere Geschenke sprechen wollten.
Das Türchen öffnete sich wieder, ein Streichholz flammte auf, um die steinernen Stufen zu erleuchten, und jede einzelne Gruppe trat nacheinander ins Innere. Das Stampfen schwerere Schuhe wurde laut; dann kamen sie aus dem Dunkel, und die Zuschauer erblickten unter ihnen einen unbekannten Mann, der einfach gebaut war und mit einer Wintermütze bekleidet. Er kam tastend, weil von der Hitze im Innern Dunst auf den dicken Brillengläsern saß.
Mit den anderen bestieg der Mann die Bühne, und sie, die sic hunter den Gewölben unterhielten, kamen hervor und setzten sich dicht hin, so daß die Reihen am Ende gerade noch zu bemerken waren. Er wischte seine Brille ab und schaute sich interessiert um. Die Tauben, von der erleuchteten Bühne und vom Lärm so vieler Menschen unruhig, flatterten unter das Dach, einige auf die Leuchter und die Menschen, dann verschwanden sie im Dunkel.
Lächelte der Mann über das Geflatter der Tauben, ob er Wärme fühlte? – mit deutlicher Stimme begann er seine klare Ansprache?
Habt ihr eine wache Rede gehört, die fließt wie ein kluges Gespräch, wenn der Sprecher von der ersten Sekunde an die Aufmerksamkeit aller auf sich zieht, wenn es den Sprecher eigentlich nicht gibt, und die richtigen Gedanken wie mit einem Hammer schlagen und klopfen an die inneren Türen, wenn es in der Rede eine unumstößliche Wahrheit gibt, die sich ihren Weg ebnet in die Herzen der anderen und in die Gehirne, manchmal leuchtet mit hohen Gedanken und manchmal erstaunt mit genauen Erkenntnissen der Sachen und der Menschen?
Er sprach so, daß man meint, er erzählte es nur jemandem, mit der herzlichen Innigkeit, die der Erzähler hinsichtlich des Zuhörers hat. Er erzählte von den schweren Tagen, die unwiederbringlich vergangen sind, über den Schwindel, die Lüge, die Ausbeutung, die seelische Entartung, Prügel und Gewalt jener Zeiten, als es Hunger gab, UND Schwert UND Kerker UND Unterdrückung. Als er von jenen Zeiten erzählte, erinnerten sich die vielen an Bilder, die einen unauslöschlichen Stempel in ihre Erinnerung gesetzt hatten. Wer erinnerte sich an Hunger, wer an den Sohn: der ohne Wiederkehr wegging in den Krieg, wer erinnerte sich an den eigenen bitteren Lebensunterhalt, als er an die Tür eines Wohlhabenden klopfte und ihn die Spuren der Peitsche auf dem Rücken schmerzten wie eine alte Wunde.
Danach wandte er sich den Tagen des Aufstandes zu, als dem einzigen Ausweg, als dem prächtigen Sprung in die Freiheit, dem einzigen Weg, der den Menschen zum erleuchteten Ufer wegführt. Er erwähnte die schöpferische Arbeit, wenn die wüsten satt werden von Wasser und der Mensch sich freut über die eigenen bewässerten Felder, wenn Rauch aus den Schloten der Fabriken aufsteigt, wenn der Held durch schwere Arbeit seinen Willen schmelzt und härtet wie festgefügten Stahl.
Unerwartet endet er … Völlige Stille, ohne daß sich eine Stimme rührte. Einige Augenblicke blieb man still, dann erhob sich Beifallslärm. Als ob abertausend Tauben losgelassen flatterten und schwirrten.
Die Musik ertönte, gutes Spiel, dann neue Grüße, wieder ein lustiges Lied, heraus kam der jugendliche Arbeiter und sprach mit stürmischem Eifer. Er zählte die Geschenke auf, und in diesem Augenblick fiel mit Gewicht der neue Vorhang, den sie für den Dorfverein gebracht hatten.
Die Welle der Verwunderung ging bis in die letzten Reihen.
Auf dem Vorhang war in voller Größe ein riesiger Säer abgebildet, der hölzerne Scheffel vom Hals herab, mit bis zu den Waden entblößten Füßen. Im Licht leuchteten die goldenen Körner, die er mit der rechten Hand in die fruchtbaren Furchen streute.
– “Erani Seth (ist es) … !”
– “Der echte Seth …”
– “Die Augen, die Augen …”
– “Das da sind unsere Felder … Genau das Reet da, da unser Berg …”
Kannte der unbekannte Maler Erani Seth und dieses Dorf, seine Felder? – Schwer zu sagen. Vielleicht war seine kühne Einbildung frei geschwebt und hatte das Porträt geschaffen, wie es für eine Dorfbühne am besten paßt.
Der erste Eindruck blieb unauslöschlich.
Leicht wogte der Vorhang, der Säer faltete sich, und von unten schien es so, als ob der Säer schreite und das Schilf sich wiege in der Kühle des Flusses. Und in der Tiefe: im blauen Nebel, kaum merklich, wurde das Ararat-Paar sichtbar, wie es in klaren Novembernächten von den Dächern des Dorfes zu sehen ist.
Zwei Frauen, deren Verwandte die Greisin Eran und ihr Märtyrer-Sohn waren, nahmen mit innigem Glauben die Meinung jedermanns an, daß auf dem Vorhang tatsächlich Erani Seth ist. Eine von ihnen begab sich nach oben und berührte mit zarter Hand die nackten Beine des Säers. Als ob sie dem leblosen Bild die Wärme ihrer Hand mitteilen wollte, wie ein Zeichen reiner Liebe. Die andere und eine weitere Frau seufzten leise und weinten für den toten Säer.
In dieser Nacht segnete die Träne eine Legende von Gold.
* * *
Wie viele November vergingen …?
Und noch immer gibt es den in die Erde gebauten Klub, mit dem Schilfdach, und wogt der Vorhang und streut ein Säer mit flammenden Augen in die schwarzen Felder Goldkörner in Fülle.
Schon kommt eine taube Alte, den Strohbesen in der Hand. Sie fegt den Boden, ärgert sich über die Tauben, wenn sie sich auf die kupfernen Kandelaber setzen, die beiderseits des Vorhangs befestigt sind. Sie kehrt den Hof des Klubs, dann tritt sie wieder ins Innere und wischt mit sauberer Hand vom Vorhang den Staub ab.
Wenn sich niemand im Inneren aufhält, unterhält sich die greise Eran ruhig mit dem Porträt des Sohnes.
Danach küßt die Mutter die leblosen Füße des Sohnes.
* * *
An der Straßenecke begegnet mir mein Freund Avag. Ich frage ihn:
– “Ist der Vorhang noch da?”
– “Ist er.”
– “Und seine Mutter?”
– “Seine Mutter glaubt es noch.”
– “Gut, daß niemand die Legende zerkrümelt hat.”
Danach erzählt mir Avag die Neuigkeiten aus dem Dorf und von den Dorfbewohnern.
Die Straße gehen Kolonnen von Menschen entlang, es ertönt die Musikkapelle, und ich lausche dem siegreichen Lied der kupfernen Trompeten.
Danach ersteht vor meinen Augen ein hochgewachsener Säer, der in unsere schwarzen Furchen Goldkorn-Samen streut.
Jeghische Tscharenz (1897 – 1937)
Für A
Im Finstertal
Tröpfelt die Finsternis
Vom Dach der Welt; –
Gibt sie nicht
Deinem Gedicht
Trauer? –
Dort gibt es noch
Düstere Felsen und Felder, –
Aber von dort, der du ins Freie tratst,
Wirst Du lichte Gedichte dichten.
Parujr Sewak (1924 – 1971)
Die Liebe
I.
Sie kommt immer noch den unbekannten – nichtverzeichneten Weg,
Wie das Regen- oder Schmelzwasser.
– Die Liebe.
Holländer vom Meer, vom allmächtigen Meer aus
Rauben den Boden
Entreißen Brocken um Brocken, Bruchstück um Bruchstück.
– Die Liebe.
Wenn sich das riesige Schiff langsam nähert
Den niedrigen Brücken des schiffbaren Flusses
Stellen sie ihre Flügel auf,
Ergeben sie sich sofort, meint man.
– Die Liebe.
II.
Wer sich mit dir unterhält, dem antwortest du:
Artig, wie eine ordentlich funktionierende Maschine,
Inzwischen, in Gedanken, ohne Ende, sprichst du mit dem,
Der fern von dir ist,
Nur der Name ist bei dir,
Wie ein Pass, der … nicht gestempelt ist.
– Die Liebe.
An deiner Schläfe ist wie das Prasseln von Tropfen,
Der Tropfen, die – genau – den Stein höhlen.
Endlose Schlaflosigkeit webt ein dichtes Netz,
Womit man keinen Fisch fängt,
Aber einen Menschen erstickt.
– Die Liebe.
Du warst so zärtlich
Und wurdest verletzlich,
Man meint, du lebst ohne Haut.
– Die Liebe.
Zwei Augen, unentwegt, verfolgen dich,
Zwei Augen, du magst sagen, zwei Stempel,
Prägen sich unauslöschlich ein
In dein Leben, betrunken von deinem Wasser, der heilen Welt:
Gar bis auf deine Blutkörperchen, -
Zwei Augen:
Stempel,
Siegel,
Brandzeichen …
– Die Liebe.
10. III. 64
Dilidschan
Neuen Kommentar schreiben