Ein weiteres Nocturno
Oliverio Girondo
Der Mond wie das leuchtende Zifferblatt eines öffentlichen Gebäudes.
An Gelbsucht erkrankte Straßenlaternen! Laternen mit Gaunerkappen, die in den Ecken Zigaretten rauchen.
Demütiger und demütigender Gesang der des Singens müden Pissoirs! Und Sternenstille über dem benetzten Asphalt.
Wieso kommt uns manchmal eine Traurigkeit an wie die eines Paares Socken, das irgendwo weggeworfen wurde? Und wieso interessieren wir uns manchmal für die Bälle, die das Echo unserer Schritte an die Wand spielt?
Nächte, in denen wir uns im Schatten der Bäume verbergen, aus Angst davor, dass die Häuser plötzlich aufwachen und uns vorbeigehen sehen könnten. Nächte, deren einziger Trost die Sicherheit ist, dass uns unser Bett erwartet, mit Segeln, die auf ein besseres Land gerichtet sind.
(Otro nocturno)
Aus dem Spanischen übersetzt von Johannes Beilharz. Das Original wurde 1922 in dem Gedichtband Veinte poems para ser leídos en un tranvía veröffentlicht.
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Der Dichter Oliverio Girondo (1891 Buenos Aires – 1967 ebenda) gehörte, wie die meisten seiner großen argentinischen Zeitgenossen, in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts zum Kreis um die wichtige literarische Zeitschrift Martín Fierro – u.a. erschien dort sein surrealistisches Manifest – und blieb unter ihnen den Idealen der argentinischen Avantgarde am meisten treu. Seine Dichtung, die sich durch gewagte Tropen, seltsame Rhythmen, Sprachspielereien, Humor und Ironie auszeichnet, wurde als Abenteuer der Sprache beschrieben. Im Alltäglichen sah er eine bewundernswerte und bescheidene Manifestation des Absurden.
Ein weiteres Gedicht von Oliverio Girondo in Übertragung von Johannes Beilharz ist hier zu finden.
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