Berührungsforschung findet statt
»Die Literatur ist ein Gefüge, sie hat nichts mit Ideologie zu tun, es gibt keine Ideologie und es hat nie eine gegeben.«, so Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Gemeinschaftswerk Tausend Plateaus von 1980. Literatur ist ein Gefüge, das Verbindungen zwischen bestimmten Mannigfaltigkeiten aus Welt, Buch und AutorIn herstellt, und sich gleichsam der Vorstellung eines einheitlichen, souveränen Subjekts entledigt; meint: Literatur als kollektives Gefüge der Äußerung, ohne Signifikanz und ohne Subjekt.
Jeder geht mit vielen Körpern in jeden ein
So ähnlich möchten wohl auch Ann Cotten, Daniel Falb, Hendrik Jackson, Steffen Popp und Monika Rinck in ihrem 2011 im Merve Verlag erschienenen Buch Helm aus Phlox. Zur Theorie des schlechtesten Werkzeugs Gegenwartsdichtung verstanden wissen. Als »Text unter Texten« wird das Buch, das dem geschlossenen Blog STABIGABI folgte, in der Vorrede auch ausgewiesen. Ein Buch, in dem den einzelnen AutorInnen eine mehr oder weniger relative Autorenschaft zukommt; in dem heterogen und vielstimmig Fragen zu Poetologie und Ästhetik gesammelt, gesichtet und ohne Anspruch auf Normativität bearbeitet werden. Multiple Autorenschaft, Entpersonalisierung und Demokratisierung nennen sie das und eröffnen so ein poetisches Sprechen, das durch Anspielung, Aneignung und/oder Enteignung verschiedenste Bereiche in Verbindung setzt. Während ein einzelnes Subjekt – heißt es etwa in dem Kapitel Sprache und Überfall – »nicht zum Ermöglichen von pluralen Bedeutungen, sondern zu deren Einschränkung« dient, gelingt es dem lyrischen Kollektiv, die Vielfalt der Themen (poetische Verfahren als Formationen von Jagd, Sprache und Gewalt, Lyrik als Lebensform, u. a. m.) in unterschiedlichen Genres und auf teilweise absurde Weise zu verknüpfen. Da werden Fachsprachen, französische Poststrukturalisten und befreundete AutorInnen herbeizitiert, Bilder und Karten gezeichnet, Gedichte geschrieben und in den besten Momenten des Buches mit Trivialitäten, (dem sog. Status-)Quatsch und überschäumenden Abwegigkeiten gekoppelt. »Mit anderen Worten, wer Gestaltlosigkeit zu sehen glaubt, wo in Wahrheit Seelenkollektive das Universum choreografieren, hat seinen Blick einfach nicht richtig dimensioniert. Trübheit des Blickes, nicht des Schaums.«
Dass man in diesem Stimmengewirr teilweise tatsächlich den Überblick verliert, ist genauso Programm, wie der Verzicht des Manifesten oder der Einheitlichkeit. Auch hier bedienen sich die fünf AutorInnen bei Deleuze und Guattari, die sie wie kaum andere Philosophen verinnerlicht zu haben scheinen: »Der Begriff der Einheit taucht immer nur dann auf, wenn in einer Mannigfaltigkeit der Signifikant die Macht übernimmt oder ein entsprechender Subjektivierungsprozeß stattfindet«. Während in den Kapiteln, die je einer Person zum Endlektorat zugeteilt wurden, die Herangehensweise und Ausformung dementsprechend divergieren und so die jeweilige Handschrift deutlich zutage tritt, wurde das Kapitel Einflussangst und Vatermord dem Thema angemessen von allen gleichsam bearbeitet. Gerade dadurch nimmt dieses Kapitel – nicht nur hinsichtlich der Autorenschaft – eine Sonderstellung ein. Bleibt Daniel Falb sonst in den ihm zugewiesenen Kapiteln als poeta doctus in Philosophiestudien und -reflexionen verhaftet, Hendrik Jackson vermeintlich zurückhaltend und sich seiner Sache scheinbar selbst nicht immer sicher, zögern Ann Cotten, Steffen Popp und Monika Rinck in teils überbordender Fülle von Ideen, Witz, Ironie und Detailreichtum noch etwas, gelingt schließlich in dem Gemeinschaftskapitel die Überwindung der eigenen Signifikanz. Die Zentralmonade des Textes besteht dort »aus dem spezifischen Diagramm der Partikel oder Monaden, die seine Masse bilden«, und gerade dann ist es die Fähigkeit der Affirmation von verschiedenen Texte untereinander, die ein größeres Bild entstehen lässt: Ein Mosaik mit etlichen Strichen und Verweisen.
Holzfäller auf der Pirsch
Einen ähnlichen, jedoch unter anderen Vorzeichen stehenden Versuch unternimmt Ulf Stolterfoht mit der kollektiven Poetologie TIMBER!. Geht es in Helm aus Phlox noch eher um eine vielfältige und entindividualisierte Poetik, richtet sich Stolterfohts Vorhaben mehr auf ein gemeinsames Ziel. Ausgehend von der Idee der stillen Post, sowie in Anlehnung an die kollektive Autobiographie der San Francisco »Language Poets« The Grand Piano rund um Barrett Watten, versammelt er elf Lyriker, um sich dem Verhältnis von Poesie und Politik zu nähern. Der Fokus liegt dabei besonders auf der Frage, »inwiefern eine experimentelle Schreibweise weniger gewappnet sei vor ungewollter politischer Einverleibung als andere«. In zwölf poetologischen Stellungnahmen von Urs Allemann, Franz Josef Czernin, Michael Donhauser, Oswald Egger, Barbara Köhler, Benedikt Lederbur, Steffen Popp, Monika Rinck, Ferdinand Schmatz, Ulf Stolterfoht, Peter Waterhouse und Uljana Wolf wird u.a. »Oskar Pastiors Wicklung ins Staatsschutz-Ding« aufgerufen, Ezra Pounds Näheverhältnis zum italienischen Faschismus beleuchtet, das Lukasevangelium und die österreichische Bundeshymne poetologisch, bzw. strukturanalytisch untersucht, die tschechische und ungarische Advantgarde betrachtet, Verständnishilfe für Lautpoesie gegeben, oder die Occupy-Bewegung als Poetiklieferant verwendet. All das hinsichtlich der Frage einer politischen Wirkmacht von Lyrik. So viele kleine Äxte da auch schlagen, treffen sie doch nicht immer in die selbe Kerbe. Folgen einige, wie etwa Barbara Köhler in ihrer Replik, in der sie Form als Organisation von »Widerstand gegen die Schwerkraft der eigenen Intentionen« verdeutlicht, noch den Anweisungen Stolterfohts, in jedem neuen Aufsatz am selben Stamm weiterzuhacken, verliert sich Steffen Popp in Herzberührungen. Während er sich in Helm aus Phlox noch kritischer gegenüber dem sprachexperimentellen Bemühen um Sinnfreiheit zeigt, wählt Popp hier symbolisches über agierendes Sprechen, »eben gestisches Agieren im Möglichkeitsraum der Rede«, so dass es ihm nicht mehr ganz gelingt, zum eigentlichen Thema zurückzufinden. Anders hingegen etwa Franz Josef Czernin, der in einer vollkommen überzeichneten mikro- und makrostrukturellen Analyse der österreichischen Bundeshymne den fehlenden Ausdruckswert politischer Ideologeme kenntlich macht, die zur Entschleierung einer Ideologie beitragen könnten. Auch Benedikt Lederburs Beitrag zu Ezra Pound findet klare Worte: »die Frustration darüber, daß Kunst in der Politik nichts zu sagen hat […], führt zum Wunsch nach dem mächtigen Politiker als Künstler, der seinem Volk in seiner durch Diktat verfügten politischen Organisation zum einheitlichen Ausdruck verhilft, und macht blind gegenüber der Tatsache, dass damit Kunst zu Propaganda verkommt.« Der Wirkmacht der Lyrik wird somit auch immer wieder der eigene, subjektive Wirkungsbereich zugespielt, weshalb augenscheinlich die »Haltung […] einerseits zu bescheiden (man gelte für nichts) und andererseits überhaupt nicht bescheiden, sondern eine falsche Platzierung der Energien« ist, was in einigen Fällen dazu führt, dass man es sich in Befindlichkeiten bequem macht, um nicht unter dem zu fällenden Stamm zu enden.
Die Wahrheit ist dann eine Relation zwischen Ästhetik und Poetologie
Weder Helm aus Phlox noch TIMBER! wollen als Regelpoetik verstanden werden, denn vielmehr als heterogene Reflexion der eigenen Arbeit einerseits und der Berücksichtigung des politischen Moments in der Lyrik andererseits. Beide Versuche schaffen das in variierender Intensität, in unterschiedlichen, sich überlagernden und widersprechenden Stimmlagen, denen man immer wieder gerne eine Zeit lang folgen möchte, um eigene Gedanken dazu und daraus zu entwickeln. Während es sich bei TIMBER! jedoch nicht »um den Anfang, sondern um die Fortführung eines Gespräches in unterschiedlichen Konstellationen handelt«, das noch vieles erwarten, ja, erhoffen lässt, scheint Helm aus Phlox nun geschlossen zu sein – sowohl, was die Form und den Blog betrifft, als auch in Bezug auf Kritik, die in eigenen Formulierungen vorweggenommen wird. Obwohl Offenheit propagiert wird, indem etliche Einflüsse »eigenhändig in die Aktualisierung der eigenen Performanz« hineingeholt werden, verwehrt gerade die Mannigfaltigkeit der Aussagen jeglichen Standpunkt. Dass sie sich dadurch auch immer wieder gegen die eigenen poetologischen Thesen stellen, kommt ihrem Konzept grundsätzlich zu Gute. Dass ersichtlich wird, dass Gedichte dem Leben zeigen können, »wie Sinn konstruiert wird (das wäre ihr kritischer Beitrag) und, darüber hinaus, wie aus Subjekt-Perspektive Einsicht, Offenheit gewonnen werden kann« ebenso. Dass man sich dennoch teilweise etwas mehr polemisches Wagnis, mehr tönende Agitation als greifbare Reibungsfläche wünschen würde, bleibt unter den Rufen des Kollektivs ungehört.
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