Gedichte, die den Geschmack der Leser treffen
Der iranische Lyriker, Herausgeber und Übersetzer Ali Ghazanfari hat Anfang März 2014 ein Mammutwerk vorgelegt: die zweisprachige deutsch-persische Anthologie „Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart“ (Ketabe Parseh, Teheran) – das erste derart umfangreiche Portrait deutscher Lyrik in Iran, beginnend mit Lorscher Bienensegen und den Merseburger Zaubersprüchen bis zu aktuellen Dichtern wie Durs Grünbein, Steffen Popp, Ulrike Draesner, Gerhard Falkner, Stan Lafleur und weiteren. Im Gespräch mit Fixpoetry spricht er über den deutsch-persischen Lyriktransfer.
Lieber Ali, Du hast gerade eine Anthologie herausgegeben, die einen Überblick über die deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur jüngeren Dichtergeneration gibt. Ist das das erste Projekt dieser Art in Iran?
Ali Ghazanfari: Eine andere Zusammenstellung dieser Art ist mir nicht bekannt. Ein solches Projekt zu realisieren macht Spaß, ist aber auch mühsam. Für diese Anthologie und die Übersetzung von „Geschichte der deutschen Literatur“ [Arndal, Nielsen, Petersen / C.H. Beck], die gerade lektoriert wird, habe ich drei Jahre gebraucht.
In der iranischen Gegenwartsliteratur finden sich immer wieder Anspielungen auf Kafka, Celan, Benn, Rilke und viele weitere deutschsprachige Klassiker – sind deren Werke in Iran tatsächlich so bekannt, oder werden sie eher von Schriftstellern und Intellektuellen gelesen?
Ali Ghazanfari: Auch auf weitere Klassiker wie Goethe, Werfel und Keller gibt es immer wieder Anspielungen. Dafür interessieren sich neben Intellektuellen und Literaten vor allem all jene, die Deutsch sprechen oder lernen, Studenten zum Beispiel, vor allem bei zweisprachigen Büchern.
Wie groß ist das Interesse an deutscher Lyrik generell unter iranischen Lesern? In Deutschland wird iranische Lyrik, von Klassikern wie Hafis, Rumi oder Saadi abgesehen, leider kaum wahrgenommen...
Ali Ghazanfari: Es gibt eine tiefgreifende Tradition, die weit zurückreicht. Deutsche sind in Iran allgemein sehr beliebt, was neben der Literatur auch mit Technologie zu tun hat. Das zündende kulturelle Ereignis war die Reise von Olearius und Fleming im Jahr 1632. Fleming hat auf der Rückreise ein sehr schönes Gedicht geschrieben über die Landschaft von Rudbar in der Provinz Gilan am Kaspischen Meer, das auch in meiner Anthologie enthalten ist. Es stimmt, dass in Deutschland vor allem Hafis, Saadi und Rumi bekannt sind, aber auch mit anderen Klassikern wie Ferdousi und Djami haben sich die Deutschen intensiv befasst. Aber leider werden bis heute weniger Werke aus dem Persischen ins Deutsche übersetzt als umgekehrt. Das hat meines Erachtens aber auch damit zu tun, dass die Übersetzung von Farsi nach Deutsch ziemlich kompliziert ist.
Nach welchen Kriterien hast Du die Gedichte für Deine Anthologie ausgewählt?
Ali Ghazanfari: Eine gute Frage. Ich habe versucht, Gedichte auszuwählen, die den Geschmack iranischer Leser treffen. Und ich habe versucht, möglichst viele Gedichte mit gesellschaftspolitischem Inhalt zu finden. Gedichte, die zum Nachdenken anregen. Dann habe ich zahlreiche lebende Lyriker gebeten, mir Gedichte zu schicken.
Welche Epoche der deutschen Lyrik findest Du besonders interessant – und warum?
Ali Ghazanfari: Die Aufklärung und die Zeit des Sturm und Drang sind für mich große Sprünge der deutschen Literatur. Es ist mit Sicherheit die Strömung der Geniezeit. Wenn man diese Epochen betrachtet sieht man, dass nicht nur die Literatur, sondern auch die Gesellschaft große Entwicklungsschritte gemacht hat. Das gesellschaftliche System hat sich zugunsten der Menschen entwickelt. Die Menschen haben ihre Angelegenheiten allmählich mit Vernunft und Eigeninitiative verbunden, statt ihr Schicksal Religion, Aberglauben und Höfen zu überlassen. Die Literatur jener Zeit versuchte, ihre Leser moralisch zu wecken, sich auf gesellschaftlich relevante Dinge statt auf Gefühle zu konzentrieren. Allgemein haben Literaten in dieser Zeit verstärkt feudale Denkweisen kritisiert. Ein gutes Beispiel dafür sind Schillers „Räuber“. Goethe entwickelte das Gesetzt von Polarität und Steigerung, woraus sich die soziale Dreigliederung Geistesleben, Rechtsleben, Wirtschaftsleben ergab, die Hand in Hand das Fundament des heutigen Gesellschaftssystems bilden. Ich möchte nicht sagen, dass nun alles in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik fehlerfrei ist, aber Deutschland hat bis heute immense Fortschritte gemacht, die man nicht ignorieren darf.
Gibt es Parallelen zwischen der jungen deutschen und der jungen persischen Lyrik?
Ali Ghazanfari: Nicht nur zwischen der deutschen und der persischen, ich denke, es gibt weltweit Parallelen, ganz besonders aber unter jenen Ländern, in denen die Freiheit des einzelnen Menschen nicht akzeptiert und zugelassen wird. Da, wo Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben verachtet werden herrscht eine bestimmte Hierarchie oder gar Diktatur, und es sind in erster Linie die Literaten, die sich dem System nicht anpassen und ihren Protest durch Gedichte, Erzählungen und Romane ausdrücken, beim Leser einen Funken auszulösen versuchen, um anstatt auf Gefühle und Tradition auf die Vernunft zu setzen. Viele junge Lyriker der Welt und auch in Iran und Deutschland folgen Kants Satz, selbst wenn sie ihn nicht kennen, dass die Unmündigkeit die Unfähigkeit ist, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Auch wenn viele Menschen sich nicht für Lyrik interessieren, so brauchen doch die intellektuellen Vordenker, die mit gesellschaftspolitischen Fragen befasst sind, eine neue Weltanschauung, und die finden sie in Wissenschaft und Literatur.
In Deutschland spielt Lyrik kaum noch eine Rolle, wird nur noch von wenigen gelesen und wahrgenommen – was denkst Du, woran das liegt? Und ist das in Iran ähnlich oder anders?
Ali Ghazanfari: Das liegt sicher auch am technologischen Fortschritt, mit dem die junge Generation sich verstärkt befasst, und der dem einen Teil der Gesellschaft Vorteile, dem anderen Nachteile bringt. Aber auch die Interessen der jungen Generation sind heute anders als früher, Science Fiction ist wichtiger als Gedichte. Ich finde es bedauerlich, wenn ein „Harry Potter“ in wenigen Stunden ausverkauft ist, während Lyrikbände oder Romane von großen Literaten in den Regalen verstauben. In Iran ist es glücklicherweise nicht ganz so. Viele junge Leute interessieren sich für Lyrik. Doch durch die Verteuerung von Papier sind die Buchpreise drastisch gestiegen, teils um das Vierfache, sodass sich viele, auch Studenten, kaum noch Bücher leisten können.
Veranstaltungshinweis: Am 20.5.2014 hält Ali Ghazanfari an der Universität Frankfurt am Main einen Vortrag über Goethe und Hafis im Rahmen der Veranstaltungsreihe zum 100jährigen bestehen der Universität.
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