Die beschissenstgeilste Rohkostplatte meines Lebens
In unserer Stadt gab es drei Punks. Und mich. Ich war kein Punk, aber 24 Stunden lang hatte ich mich auf dem besten Weg befunden, versehentlich einer zu werden.
Wir trafen sie, oder besser sie rekrutierten uns, oder besser, sie gaben uns das Gefühl, längst Teil von ihnen zu sein, als wir gerade das Rucksackspiel spielten. Das Rucksackspiel war durch und durch verwerflich. Wir spielten es nicht trotzdem, sondern deswegen. Es war ganz einfach: Gunnar, der zwei Klassen übersprungen hatte und noch jünger aussah als er klein war, kam mir in der Fußgängerzone entgegen. Mein Part war der asoziale: Ich musste Gunnar anrempeln, woraufhin er seinen Rucksack maximal mitleiderregend fallen lies und auf die Knie ging. Daraufhin entwickelte sich ein Paradefall von Mobbing, wenn möglich in unmittelbarer Nachbarschaft von Passanten. Bei entsprechender Spielfreude unsererseits schaukelte sich das Theater bis zu ausgelassener Gewalt hoch. Gunnar spielte die Opferfigur dermaßen überzeugend, dass ich häufig abbrechen musste, da meine Täterrolle bei zunehmendem Entsetzen der Schaulustigen unerträglicher wurde. Das war natürlich eine Niederlage in Sachen Krassheit. Vor Gunnar war es mir besonders unangenehm, nicht durchzuhalten, da er mit seinen 12 Jahren jede noch so peinliche Aktion, die uns an unseren Streifzügen nach der Schule in den Sinn kam, mit Leichtigkeit meisterte. Meistens setzte er sogar eins drauf.
Ich rechtfertigte meinen Enthusiasmus beim Rucksackspiel lediglich damit, dass unser Spiel zu Zivilcourage aufforderte und eine Art Sozialexperiment darstellte.
Jedenfalls fanden wir an jenem Septembertag 2002, als Edmund Stoiber für den Bundestagswahlkampf in unserer Provinzstadt kam, beste Bedingungen für das Rucksackspiel vor. Es gab eigentlich nur zwei Veranstaltungsformate in unserer Stadt, die Massen versammeln konnten: Promibesuch oder das traurige Volksfest mit Fahrgeschäften, die nicht mal versuchten, mit reißerischen Namen Adrenalinkick zu suggerieren. Die Fahrgeschäfte hießen „Wilde Maus“ oder „Gaudi Schaukel“ und fuhren noch lahmer als ihre Namen klangen.
Gunnar hatte aber schnell eine bessere Idee und schlug vor, ein paar Wasserbomben zu füllen, um sie bei Edes Ankunft voll in die Limousine pfeffern zu können. Ich hatte gleich das Gefühl, dass er den Vorschlag nur gemacht hatte, um ihn gemacht zu haben, um dann bei meiner zögerlichen Reaktion behaupten zu können, dass er es zu zweit durchgezogen hätte. Wir liefen in die Dekoabteilung von Hertie, wo es alles gab und besorgten uns Luftballons statt Wasserbomben. Gunnar riet mit seiner Wasserbombenexpertise zu den dünnwandigeren, volumenreicheren Standard-Luftballons. Stoiber würde sicherlich mit einigen Securities aufmarschieren, darum müsse man auf einen weiten Spritzradius setzen. Dafür, dass wir uns eigentlich als Pazifisten bezeichneten, klang er in seinen Ausführungen wie ein Handelsvertreter für Splittergranaten. Wir gingen in das gegenüberliegende Eiscafé und füllten so viele Luftballons wie in unsere Schulranzen passten. Gunnar balancierte noch ein paar Wasserbomben auf seinen Unterarmen und preschte so vor Richtung Absperrband. Es war seine Art, den Gang vor irgendeiner Aktion übertrieben entschlossen wirken zu lassen. Vielleicht, um sich selbst den Mut vorzumachen, den er zu dem Zeitpunkt noch nicht hatte.
Das Gewusel vor dem roten Teppich hatte bereits ein Maß erreicht, als würde die Beamtenstadt ein Königspaar mit royalem Nachwuchs erwarten. Trotzdem wurden die versammelten Polizeischüler, die sich heute in etwa gleicher Anzahl auf dem Platz versammelt hatten wie die Schaulustigen, auf den irren Zwerg mit den Wasserbomben aufmerksam. Auch so ein Gunnar-Ding: Sich vor einer Aktion erwischen zu lassen, war fast so gut, wie die Aktion ausgeführt zu haben. Zwei beschlagstockte Polizisten zogen Gunnar wie einen Terroristen beiseite und ich überlegte einen kurzen Augenblick, ob ich mich einfach verdrücken sollte, dachte dann aber, dass ein bisschen Konfrontation mit den Beamten ganz amüsant werden könnte. Da das versammelte Publikum bereits Wind von dem Zugriff bekommen hatte, wollte ich ohnehin von dem bisschen Fame profitieren und zeigte mich deutlich als zu Gunnar zugehörig und zur Tat entschlossen. Der Moment, als die Polizisten das Buttermesser in meinem Schulranzen entdeckten, war der Beginn meines 24-stündigen Punk-Daseins, das in einer unsinnigen Verschwendung meines gesamten Taschengeldes enden sollte.
„Tragen Sie noch weitere Waffen bei sich“, fragte der kleinere von beiden, wobei beide schrankiger waren, als alle ockergelb-fichtengrün gekleideten Polizisten, die ich bisher zu Gesicht bekommen hatte.
„Sie können ruhig Du zu mir sagen“, sagte Gunnar und streckte ihm die Hand entgegen. Dass ein Polizist in voller SEK-Montur Wasserbomben als Waffen bezeichnete, hatte eine gewisse Komik. Wie immer fiel mir etwas Schlagfertiges aber zu spät ein, um etwas darauf erwidern zu können. Der andere zog sich schwarze Gummihandschuhe über und wollte gerade anfangen, Gunnar abzutasten, als „Zecke“ auftauchte. Hinter ihm zwei weitere Punks. Es war nicht das erste Mal, dass ich ihn sah. Aber das erste Mal, dass ich ihn an einem anderen Ort sah. Die drei Punks waren ein derart fester Bestandteil des Stadtbildes, dass sie eigentlich aufs Cover jeder Touristenbroschüre gehört hätten. Man traf sie stets im natürlichen Habitat ihrer Subkultur an: dem Brunnen am Marktplatz.
Dass Zecke Zecke hieß, würde ich erst einige Minuten später erfahren. Bis hierhin war er einfach nur der große Lange mit dem Iro. Der Punk-Prototyp schlechthin. Wären wir eine Gesellschaft aus Punks, sähen so die Väter in Bilderbüchern aus. Eigentlich hatte ich nicht die Ruhe, um ihn eingehend zu mustern. Mir stach nur ein Detail in die Augen: Sein Penis zeichnete sich durch seine knallenge Hose ab. Ich fragte mich, ob ich jemals so einen großen Penis bekommen würde. Und kurz fragte ich mich sogar, ob er vielleicht nur eine Penis-Prothese in der Hose verstaut hatte. Das Thema beschäftigte mich echt. Gefühlt alle um mich herum, Gunnar mal ausgenommen, waren schon entwickelter als ich. Wenn ich neuen Leuten begegnete, versuchte ich manchmal meine Stimme etwas tiefer zu stellen, was ich aber unmöglich über einen längeren Zeitraum durchhalten konnte. Entwickelte sich eine Bekanntschaft zur Freundschaft, flog ich zwangsläufig irgendwann auf. Ich suchte in den Blicken meiner Mitmenschen immer ein Anzeichen darauf, dass sie meine Stimme vielleicht längst als gekünstelt entlarvt hatten.
Gerade schaufelte der kleinere Polizist eine Handvoll Erde aus meinen Schulranzen und stieß dabei auch auf das Buttermesser. Er zeigte es seinem Schrank-Kollegen. Seine Finger bildeten dabei eine forensisch anmutende Pinzette. Gunnar war null verwundert, dass sich Erde in meinem Schulranzen befand. Er hatte einmal prophezeit, dass sich irgendein ein altes schimmliges Pausenbrot in meinem Rucksack kompostieren würde. Ich glaubte zwar nicht, dass das so ohne Weiteres möglich war, aber wo die Erde gerade herkam, wusste ich auch nicht.
Zecke und die anderen beiden Punks kommentierten die Prozedur durchgehend mit Rechtsparagrafen zu Richtlinien polizeilicher Körperdurchsuchungen. Was alles nicht gestattet sei und, dass wir uns diesem autoritären Regime nicht zu fügen hätten. Es war ein chaotisches Durcheinander, in dem Gunnar und ich zu Spielbällen der beiden Parteien geworden waren. Das Punk-Mädel bat ständig darum, auch durchsucht zu werden. Sie trug Kleidungsstücke mit Tiermustern verschiedenster Savannenbewohner, die mehr zerrissen als ganz waren. Ich sah das erste Mal einen Menschen, der in Zebra, Tiger und Leopard zugleich gekleidet war. Und es war das erste Mal, dass ich es irgendwie mochte.
Die ganze Situation ging wesentlich unspektakulärer zu Ende, als sie angefangen hatte. Als Stoiber dann tatsächlich aus dem mittleren der drei vorgefahrenen BWMs stieg, waren wir längst mit den Punks im „Hertie“, um einzuklaufen. Zecke hatte eigentlich nur erklärt, dass wir uns in fünf Minuten am Brunnen treffen würden, um den Einklauf-König zu ermitteln. Außer Zecke hatte sich keiner der anderen vorgestellt. Zecke hatte das übernommen: Das ist Konstantin, genannt „Koma“, weil er nicht schläft, sondern jede Nacht ins Koma fällt. Und das ist Lisa. Einfach nur Lisa, weil sie zu toll ist, um einen Spitznamen nötig zu haben. Schaut sie nicht zu lange an, sonst bleiben Eure Augen an ihr kleben. Lisa kickte mit ihren dalmatinergefleckten Stiefeln gegen Zeckes Schienbein und er wand sich vor ihr, nur um ihr dann durch die Strumpfhose in den Oberschenkel zu beißen. Als er wieder von ihr abließ, zeichnete sich sein Gebiss derart tief in ihrem Fleisch ab, dass ich mich fragte, wie Lisa wohl reagieren würde, wenn man ihr ganz normal, so wie ich mir das in der Theorie bisher immer vorgestellt hatte, einen Kuss gab. Koma, Zecke und Lisa schossen durch den Laden und stopften alle Löcher mit ‚Einkläufen‘. Ich hatte in der vierten Klasse einmal versucht ein Center Shock zu klauen. Die standen in dem Schreibwarenladen neben anderem Süßkram an der Kasse. Die Frau von dem Laden war ständig damit beschäftigt, irgendwelche neuen Spielsachen in die deckenhohen Regale zu stopfen, dabei passte eh kein Mensch mit gesundem BMI mehr durch die Gänge. Ich hatte mich bei diesem ersten und einzigen Diebstahl meines Lebens derart auffällig verhalten, dass die Verkäuferin mich vielleicht nur aus Mitleid nicht erwischen wollte.
Gunnar und mir blieben nun noch zwei Minuten, um zumindest irgendwas in den Taschen verschwinden zu lassen. Eigentlich waren mir die Punks egal und ich fragte mich, warum wir überhaupt mit ihnen abhingen. Es fühlte sich ein bisschen wie damals an, als ich in die neue Schule gekommen war. Dritte Klasse. Tom und Ben waren die Alpha-Jungs, sie trugen jeden Tag diese Skaterhosen, diese Skaterschuhe, diese Skaterpullis, diese Skatermützen. Vor allem die Hosen waren toll. Ich wusste, würde ich so eine Hose tragen, würde ich mich verkleidet fühlen und trotzdem wollte ich nichts mehr als so eine Hose. Aber wir waren nicht reich. Hätte ich meiner Mutter davon erzählt, sie hätte mir so eine schweineteure Hose zu Weihnachten gekauft. Für die Miete hätte sie dann irgendwen angepumpt, in dem Wissen, es in absehbarer Zeit nicht zurückzahlen zu können. Und wahrscheinlich hätte sie die Hose in einer falschen Farbe gekauft, weil ja nur zwei Farben wirklich cool waren und alle anderen dagegen nur peinlich. Und ich hätte dann unter dem Weihnachtsbaum das Junge-ist-überglücklich-über-dieses-Geschenk-Gesicht auflegen müssen. Dann hätte ich die Hose jeden morgen anziehen müssen, nur um sie auf dem Schulweg gegen eine andere Hose auszutauschen, damit ich in der Schule nicht mit der peinlich falschen Hosenfarbe aufkreuzen müsste. Was das für einen Rattenschwanz hinter sich gezogen hätte, hätte ich meiner Mutter von dieser Hose erzählt. Aber zu Tom und Ben wollte ich trotzdem gehören, obwohl ich ja wusste, dass die beiden nur wegen ihrer Klamotten so beliebt waren.
Als ich über diesen Quatsch nachdachte, war Gunnar neben mir plötzlich on fire und machte alle Taschen, die seine Klamotten zu bieten hatten mit Klopfern voll. Ich hatte noch nie Alkohol getrunken und hatte bislang auch nicht wirklich Lust dazu gehabt. Ich dachte daran, wie ich vor Lisa draußen gleich einen heben müssen würde und was man dabei alles falsch machen könnte. Die fünf Minuten waren vorbei und ich griff im Rausgehen noch kurz in eine Kiste mit Dekoschwachsinn. Als ich den Handschmeichler den Punks als mein Diebesgut vorlegte, fassten sie es als gelungene Kapitalismuskritik auf und ernannten mich trotz der mageren Ausbeute zum Einklauf-König. Ich war so happy, da ich vorher schon mit dem Gedanken gespielt hatte, lieber zu behaupten, ich hätte gar nichts mitgenommen, als diesen bescheuerten Handschmeichler vorzeigen zu müssen. Jedenfalls beugte sich Lisa dann zu mir rüber und drückte mir einen Klopfer in die Hand. Sie steckte erst mir, dann sich selbst den Deckel auf die Nase, schlang dann ihren Arm so um meinen, dass unsere Gesichter sich so nah kamen, dass sie mein Schlucken hätte hören können. Allein deswegen hätte ich auch die anderen Klopfer gleich trinken wollen, aber Zecke und Koma sagten, sie hätten genug von der CSU-Invasion in der Stadt, und verspürten den starken Drang, heute noch gediegen etwas Chaos zu veranstalten. Bevor ich mir eine Ausrede ausdenken konnte, warum ich da nicht mitkommen könne, weil ich natürlich unmöglich sagen durfte, dass meine Mutter zu Hause auf mich warten würde und sich unendlich Sorgen machen würde, zog mich Lisa schon zu sich, dass wir wie siamesische Zwillinge aneinanderklebten.
Das Ziel war Komas Bude, die anscheinend am anderen Ende der Stadt lag. Wäre Lisa nicht gewesen, hätte ich den ganzen Punk-Unsinn gelassen und wäre längst nach Hause zu meiner Gitarre gegangen, um mein ganz normales Leben als semibraver Klassenclown fortzuführen, als wäre es ein ganz normaler Tag mit Rucksackspiel gewesen. Andererseits konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen, dass Lisa tatsächlich Interesse an einem Kerl hatte, der noch nicht im Stimmbruch war und vergeblich auf sein erstes Schamhaar wartete.
Komas Bude war im 14. Stock eines Hauses, das den Eindruck machte, als hätte man es direkt aus Sarajevo, wo meine Oma lebte, nach Deutschland verpflanzt. Tatsächlich hatte ich mal eine Doku gesehen, wo Leute ganze Häuser umzogen. Egal. In unserer Stadt gab es nur dieses eine Hochhaus. Gunnar und ich hatten uns ab und zu zum Liftfahren dort getroffen. Aber seit ein paar Monaten, war der Lift kaputt. Wir hatten uns immer vorgestellt, wie hinter den Wohnungstüren nur irgendwelche Insekten Pizzaparty machten und Briefe für längst ausgezogene Menschen erhielten und sich dann über deren unbezahlte Rechnungen totlachten.
Komas Zimmer war voller Hammerloch-Fresken. Die Wand machte den Eindruck, als würde er früh morgens als Aufwachritual ein paar Schläge mit der spitzen Rückseite des Hammers in die Wand machen, um nicht mit der vollen Ladung Aggression in den Tag starten zu müssen. Vielleicht war die Wohnung allerdings auch in dem Zustand gewesen, als sie eingezogen waren. Aus einem anderen Zimmer hörte man einen Fernseher laufen. Lisa und Koma warfen sich aufs Bett und holten eine alte Bäckerstüte aus dem Nachtkästchen. Dann warfen sie ein paar Klebstifte rein und steckten ihre Gesichter in die Tüte. Ich hatte in der Schule schon mal davon gehört, dass man sich mit Kleber irgendwie berauschen kann, hatte es mir aber nicht so trivial vorgestellt. Ich fragte mich, ob sie vielleicht nur so taten, als ob sie schnüffelten. Als sie mir die Tüte hinhielten, sagte ich „heute nicht“ und fragte, wo das Klo sei. Ich wusste, dass es scheiße ist, Mädchen vor allem wegen ihrer schönen Beine toll zu finden, aber ich konnte nicht aufhören, Lisa auf die Stelle zu schauen, wo ihr Rock endete. Auf dem Weg zur Toilette kam mir Komas Mutter entgegen. Zumindest ging ich davon aus, dass es seine Mutter sein musste. Ich fragte sie, was da im Fernseher lief und sie sagte, der Gottschalk würde gleich anfangen. Mir war klar, dass meine Mutter dermaßen misstrauisch werden würde, wenn ich zu „Wetten dass“ nicht zu Hause erscheinen würde, und ging ohne zu pinkeln zurück in Komas Zimmer. Zecke protestierte heftig, als ich ihm sagte, dass ich zu meinem kleinen Bruder nach Hause müsste, um auf ihn aufzupassen. Lisa sprang gleich auf und sagte: „Dann ziehen wir eben zu wie heißt Du eigentlich weiter!“
„Selmar“, sagte ich.
„Wie?“
„Wie Elmar nur mit „S“ am Anfang“
„Egal, wir finden schon noch einen besseren Namen für Dich.“
„Gummi“, rief Koma mit dem Gesicht in der Brottüte.
„Was willst Du?“, fragte Zecke?
„Gummi wär ein geiler Name für den Kleinen!“
„Warum denn Gummi?“
„Was weiß ich! Lass uns zu Gummi gehen!“
Verdammt, ich hatte keine Chance, die Punks abzuschütteln und überlegte mit jedem Meter, den wir zu mir nach Hause liefen, wie ich die APPD-Versammlung in unserer Wohnung meiner Mutter erklären sollte. Zecke hatte mir auf dem Weg zu Koma erklärt, dass er für den Bundestag kandidiere. Ich hatte vorher nie von der APPD gehört und fragte mich immer noch, ob er mich nur verarschen wollte. Mit den Wahlslogans „Meine Stimme für den Müll“, „Asoziale an die Macht!“ und „Geld kommt aus der Druckerei, sind wir von der Arbeit frei“ wolle er in den Bundestag einziehen. Einerseits fand ich es krass, falls Zecke wirklich ein richtiger Politiker war, auf der anderen Seite kam mir der ganze Punk-Zirkus zunehmend wie eine einzige Skaterhose vor, die man sich anzieht, um irgendwo dazuzugehören.
Als wir auf halber Strecke zu mir nach Hause waren, überlegte ich sogar, irgendeinen Unfall vorzutäuschen, um die Punks nicht zu mir nach Hause nehmen zu müssen. Ich hatte sauschiss, dass meine Mutter glauben könnte, ich sei jetzt voll auf die schiefe Bahn geraten und würde ab sofort jeden Tag am Brunnen auf dem Marktplatz abhängen und ‚einklaufen‘ gehen und kleinen Kindern die Mütze vom Kopf ziehen. Dann leerte sich aber mit einem Krach der halbe Himmel über uns aus und der letzte heiße Tag des Jahres 2002 wurde von genau dem Regen abgelöst, den meine Mutter ständig für ihre Beetpflanzen hergebetet hatte.
So nass wie Lisa in den ersten zwei Minuten des Regens geworden war, konnte ich sie unmöglich in der Vorstadt rumstehen lassen, wo es nicht mal einen Mc Donalds zum Zeit totschlagen gab. Ich fühlte mich wieder wie ein Sexist oder keine Ahnung, ob das das richtige Wort für solche Gedanken war, als ich mir vorstellte, dass Lisa jetzt bis auf die Unterwäsche nass sein müsste.
Auf die Reaktion meiner Mutter kam ich gar nicht klar. Sie begrüßte die Punks, als wären es irgendwelche stinknormalen Schulfreunde, dabei waren es unnormal stinkende Schulschwänzer, die mit ihren triefend nassen Klamotten einen Dreck in unseren Flur brachten, wie wir ihn selbst beim Einzug nicht gehabt hatten. Sie bot den Punks gleich an, sich wie zu Hause zu fühlen, mit der üblichen Lasst-die-Schuhe-ruhig-an-Floskel, und zeigte ihnen den Kühlschrank. Ich wollte meine neuen Bekannten unbedingt auf dem schnellsten Weg von meiner Mutter entfernen und konnte mir ihr Verhalten nur damit erklären, dass sie, eingeschüchtert von der Erscheinung meiner Gäste, den Anschiss auf später verschieben würde, dann aber mit umso heftigerem angestauten Entsetzen. Von drüben aus meinem Zimmer hörte ich, wie sich jemand an meiner Gitarre zu schaffen machte.
„Die Gitarre ist nicht gestimmt“, rief ich, weil mir nichts Besseres einfiel, um Koma davon abzuhalten, meine Saiten von dem Steg zu reißen.
„Eine gestimmte Gitarre ist sowas von kein Punk, Gummi!“, sagte er und drehte wie ein Klempner an den Stimmwirbeln herum. Lisa lag auf meinem Bett und sah sich die peinlichen Edelsteine an, die auf meinem Nachtkästchen dekoriert lagen.
Ich hatte eigentlich den ganzen Tag gedacht, dass es nichts Besseres geben könnte, als mit Lisa auf meinem Bett zu liegen, aber jetzt kam mir das ganze vor, wie eine alte Zahnbürste, deren Ekligkeit Dir mit einem Mal bewusst wird. Und dann verzichtest Du lieber einen Abend aufs Zähneputzen und kaufst Dir am nächsten Tag eine neue.
Ich hatte keine Chance, die drei abzuwimmeln und ließ mich irgendwann sogar noch dazu überreden, Komas regenbogenfarbene Dr. Martens abzukaufen, wofür mein ganzes Taschengeld draufging. Und ich fragte mich, ob das vielleicht der einzige Grund gewesen war, warum die drei mich heute aufgegabelt hatten. Aber so ein Gedanke war natürlich gemein und irgendwie fand ich sie alle ja auch auf ihre Art liebenswert.
Ich hatte die Schuhe seitdem keinen Tag angehabt. Und wenn ich die Schuhe im Flur stehen sah, fühlte ich mich immer wie ein Typ, der lieber mit einer Penisprothese in der Hose rumläuft, als darauf zu warten, dass er irgendwann seine ersten Schamhaare bekommt. Meine Mutter hatte uns übrigens im Laufe des Abends noch eine Rohkostplatte ins Zimmer gereicht. Mit einem „ihr seid sicher megahungrig“. Und das wäre unter normalen Gottschalk-Bedingungen natürlich das Größte gewesen, wenn eine Rohkostplatte vor Lisa und den anderen nicht zugleich so peinlich wäre.
***
Wie diese Erzählung entstanden ist, lesen Sie bitte hier: ‚SCHREIBUNG‘ – Selmar Schülein
Selbstportrait einer mystifizierten Kunstform.
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