Kolumne

HOW TO COOK A PHALLUS #1 Das Schöne, Stille und Sanfte

1943 erschien How to Cook a Wolf von MFK Fisher, eine Essay-Sammlung und inzwischen Klassiker der amerikanischen Literatur. Was tun, wenn der hungrige Wolf vor der Tür steht und einen fressen will? Fishers Antwort sind über 70 Kochrezepte, die genießbar und schmackhaft machen, was ungenießbar und unschmackhaft, gar bedrohlich scheint. Lilian Peter schreibt an dieser Stelle auf Einladung von fixpoetry einmal im Monat über Frauen und Literatur, über weibliches Schreiben mit dem ständigen Phallus in der Tür.

 

Vor einigen Jahren las ich auf einer Veranstaltung in einem gold- und spiegelverzierten Saal eines Schlosses aus einem unfertigen Text vor einem Publikum, das großteils aus grauhaarigen Anzugträgern und ebenfalls grauhaarigen Kostüm-und-Perlenkettenträgerinnen bestand. Manch eine lang währende Ehe, von denen es hier viele zu geben schien, hatte mehr als nur einen Anflug von Bitterkeit, saß aber für die Öffentlichkeit dann doch nochmal fein säuberlich und mit ordentlich Haarspray auftoupiert rotsamten gepolstert auf Stühlen mit güldenen Lehnen. Zumindest teilweise handelte es sich um die spendenden Mitglieder eines Vereins, der sich die Förderung der Kunst auf die Fahnen geschrieben hatte; man gibt etwas in einen Topf hinein, rührt ein bisschen darin herum, und am Ende bekommt man etwas Schmackhaftes heraus, idealerweise eine kleine Erlösung vom großen Unglück durch ein idealerweise junges Ding, das idealerweise ein Miniatur-Perlenkettchen trägt und einem auch sonst idealerweise was Hübsches, also: was Herkunftfortsetzendes darbietet. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, ich war zwischen, sagen wir, sechs und elf tatsächlich genau dieses ideale junge Ding, ich trug Rüschenblüschen mit Krägelchen und Röckchen mit Schleifchen daran, Schleifchen trug ich auch im Haar, ich saß auf Bühnen im Scheinwerferlicht am Klavier wie ein Geschenk zum Auspacken, bis ich mit, ich weiß nicht mehr, zwölf oder so, in die Pubertät kam und kurzen Prozess machte mit den Krägelchen und Röckchen und Schleifchen, ich schnitt mir die Haare mit der Nagelschere zentimeterkurz, trug die Karohemden meines Vaters und dazu eine dieser unmöglichen Brillen, wie sie in den 1990er Jahren modern waren (durchsichtiges Plastik mit bunten Stückchen darin). Ich saß also vor diesem Publikum in diesem Saal dieses Schlosses und da war er wieder, der Blick, der sich ein idealerweise junges Ding zum Auspacken wünscht, das idealerweise ein Miniatur-Perlenkettchen und idealerweise viele Schleifchen trägt und vorträgt, wenn schon nicht um den Hals, dann zumindest im Text, also im übertragenen Sinne, und das Übertragene ist ja ohnehin von alters her das, womit man das sogenannte „schöne Geschlecht“ assoziiert: Bild, Metapher (aus dem Griechischen: das Übertragene, aber auch das Hinterhergetragene, Nachgetragene) und nicht Begriff, das, was nachrangig ist, zu spät kommt, das, was „der Vernunft galante Kleider verschaffen“ kann, die Vernunft also in was Hübsches einpackt oder ihr was Hübsches hinterherträgt, sie aber nie selbst ist. Das Zitat stammt von Rousseau, die Vernunft hab ihn selig, aber man könnte nahezu beliebig jeden anderen Philosophen von Platon bis hin zu Heidegger herauspicken (Nietzsche ausgenommen), die Verwandtschaften, mit denen das „Denken“ (das in Wirklichkeit natürlich immer in erster Linie ein Schreiben ist) operiert, und ohne die es überhaupt nicht operieren könnte, sind immer gleich: Gott-Mann-Begriff-Denken-Helligkeit-Tag-Stift-Stiftung-Kultur-Rationalität-Vernunft einerseits und Erde-Frau-Bild-Dunkelheit-Nacht-Natur-Traum-Irrationalität-Blatt-etc. andererseits. In irgendwas muss man sich ja einschreiben, sonst gibt es keine Geschichte (keine Geschichte ohne Schreibgrund oder -ungrund). Besonders hübsch und besonders gut zusammengefasst in all ihren Details lässt sich diese Schöpfungsgeschichte AKA Schriftgeschichte bei R.M. Rilke nachlesen, von dem es ein leider Gottes (weil es doch, bei aller Fürchterlichkeit, auch unterhaltsam ist) relativ unbekanntes Gedicht mit dem Titel „Sieben Gedichte“ gibt (in Gänze nachzulesen zum Beispiel hier), darin findet sich unter anderen Perlen etwa diese Strophe:

Schwindende, du kennst die Türme nicht.
Doch nun sollst du einen Turm gewahren
mit dem wunderbaren
Raum in dir. Verschließ dein Angesicht.
Aufgerichtet hast du ihn
ahnungslos mit Blick und Wink und Wendung.
Plötzlich starrt er von Vollendung,
und ich, Seliger, darf ihn beziehn.
Ach wie bin ich eng darin.
Schmeichle mir, zur Kuppel auszutreten:
um in deine weichen Nächte hin
mit dem Schwung schoßblendender Raketen
mehr Gefühl zu schleudern, als ich bin.

Ähnlich turm-, vollendungs-, ahnungs-, raketen- und geistreich einerseits (mannseits) sowie nacht-, schlaf-, schwindens- und schweigensreich andererseits (frauseits, besser gesagt mädchenseits) geht es bekanntlich in Rilkes (sein Turm hab ihn selig) Orpheus-Sonetten zu: „Sie schlief die Welt. Singender Gott, wie hast du sie vollendet, daß sie nicht begehrte, erst wach zu sein?“ Ja, singender Gott, das ist tatsächlich eine sehr gute Frage: Wie hast du es geschafft, sie als Bild so „vollendet“ stillzustellen in deiner Geschichte, dass sie sich tatsächlich gar nicht mehr zu Wort melden kann oder mag? Besser gesagt, konnte oder mochte, denn diese Zeiten sind zum Glück vorbei, zumindest immer wieder, immer öfter? Noch in meinem Philosophie-Studium in Heidelberg sagten Studentinnen bei manchen Dozenten tatsächlich praktisch nie etwas, denn auch wenn sie sich meldeten, wurden sie kaum aufgerufen, es gab ja schon die schlüsselklappernden Jünglinge in der ersten Reihe, die immer als erste und oft auch als einzige sprechen durften; die Stimmen der Frauen bekam man oft nur zu hören, wenn sie ein Referat hielten, aber selbst dann hatten sie keine Namen, sondern waren schlicht die Referentin, die dann allerdings oft Bewunderung hervorrief, wahrscheinlich, weil man so wenig von ihr erwartete. Gut, könnte man sagen, die Philosophie halt; aber selbst am Deutschen Literaturinstitut war es vor wenigen Jahren noch keine Peinlichkeit, dass die Professoren zu 100 % männlich waren, und bei einem bestimmten Dozenten war es so: Jungs wurden für ihre tollen Ideen gelobt; Mädchen hingegen wurden für ihre Ideen mitunter aggressiv angegangen, gelobt hingegen für ihre „schöne Stimme“, die sie vorzugsweise dann einsetzen durften, wenn es etwas vorzulesen gab. Aber kehren wir nochmal kurz zurück zu Rousseaus Frau, die der Vernunft „allenfalls galante Kleider“ verschafft: Es ist natürlich klar, dass derlei Zuschreibungen keiner einzigen ernsthaften Nachfrage standhalten. Wenn die Frau der Vernunft galante Kleider verschafft, dann ist die Vernunft selbst anscheinend entweder ein Körper, der normalerweise, d.h. bevor die (bourgeoise weiße) Frau mit ihren galanten Kleidern kommt, Lumpen trägt (wenig verführerisch, lädt kaum ein zum Auspacken und ist für die erhabenen Gefilde der historischen Philosophie ohnehin nicht standesgemäß, muss also gar nicht weiter berücksichtigt werden), oder aber ein nackter Körper. Gehen wir ob der nicht endlosen Zeichenzahl dieses Textes mal nur dem zweiten Fall nach, in welchem sich fragt, was für ein Körper: Mannkörper? Fraukörper? Sonst gibt’s eh nix? Ist dann die Frau selbst die Kleidung für den Mann, ist sie also selbst das, was sie zugleich dem Mann verschafft? (Wenn ja, wie geht das?) Oder ist sie nur Mittlerin zwischen dem Mann und seiner Kleidung? Ist sie dabei angezogen oder nackt? Und warum braucht die Vernunft überhaupt sowas wie „galante Kleidung“, was will sie denn hinter dieser Kleidung verstecken? Und wem will sie zugleich dieses Versteckspiel zum Vorwurf machen? Fragen über Fragen, die die lange Schöpfungsgeschichte der Vernunft nie beantwortet hat, aber das war ja auch nie ihr Interesse, denn das Praktische an dieser Zuschreibung war und ist: Man kann sie immer so wenden, wie es gerade passt, man kann das „schöne Geschlecht“ zum bezaubernden (schlaf- oder traumgleichen) Wolkenhaften auf einer unangetasteten Bühne erklären (seine Schleifchen wurden noch nicht aufgezogen, seine Frucht noch nicht gefasst) und langhaarige Nach-denklichkeit in galanter Kleidung, das heißt: absolute Harmlosigkeit von ihm einfordern, oder man kann eben diese geforderte Nach-denklichkeit, die nie „das Denken“ oder „die Vernunft“ selbst ist, sondern immer nur etwas Hinterhergetragenes, später Kommendes, benutzen, um es abzuwerten: „Dabei kommen vielleicht schöne Worte heraus, aber keine Begriffe“ (O-Ton Philo-Prof Uni Heidelberg).

Apropos „schöne Worte“, die ja auch irgendwas mit „Sanftheit“ zu tun haben: 1989 war ich zu klein, um schon das „Literarische Quartett“ zu gucken, aber dankenswerterweise gibt es die Folgen ja fast alle auf youtube. Ich erinnere mich vage, da war doch was mit Sanftheit in jener Endachtziger-Folge, in der Reich-Ranicki, Karasek, Löffler und Busche u.a. über Jelineks Lust diskutierten, ich gucke die Folge also erneut, und tatsächlich: Karasek stellt fest, dass ihn bei der Lektüre die ganze Zeit die Frage beschäftigt habe, was eigentlich eine „weibliche Sprache“ von einer „männlichen Sprache“ unterscheide, kommt dann aber nicht weiter als bis zu der Feststellung, dass das schwierig sei und er es auch nicht wisse, ob man aber vielleicht so etwas sagen könne wie, dass eine „Frauensprache sanfter“ sei „oder so“. Eine eher erstaunliche Hypothese angesichts ausgerechnet dieses Buches von ausgerechnet dieser Autorin – Ranicki fährt Karasek dazwischen und so kommt es leider nicht zu weiteren Einlassungen zur „Sanftheit“ der „Frauensprache“. Aber Karasek stellt diese seine Überlegung offensichtlich im Kontrast zu Jelineks Buch an: Eigentlich ist eine „Frauensprache“ vielleicht etwas „Sanftes“, Jelinek verstößt dagegen, und dieses dagegen-Verstoßen stößt ihm auf, oder fällt ihm zumindest auf, daher muss er die ganze Zeit darüber nachdenken, was es damit auf sich hat. Dafür, dass die angebliche eigentliche „Sanftheit“ einer angeblichen „Frauensprache“ tief verankert ist im Unbewussten der Kultur, spricht denn auch, wie Lust generell rezipiert wurde: als „verbissen“, „verkrampft“, „gnadenlos“, „bemüht“, „beladen“, „Absturz“, „Fiasko“, „nervtötend“ etwa. Man bemühte alle Vokabeln, die einem nur einfielen, um die Gewalt, die der Text auch performativ an den Tag legt, einzudämmen und die Autorin in ihre Schranken zu weisen. Volker Hage beschwerte sich am 7.4.1989 in der ZEIT, der Leser [!] habe „über mehr als hundert Seiten die Wiederkehr des Immergleichen zu ertragen“. Und man möchte zurückfragen: Wirklich, es ist der Leser, der die „Wiederkehr des Immergleichen zu ertragen“ hat?

Das Journal für Literatur, Kunst und geselliges Leben schrieb am 13. März 1837 unter der Überschrift „Gut und sanft“:

„Eine gute, sanfte Frau, ein gutes, sanftes Mädchen – hören wir oft sagen. Gehört denn beides nothwendig zueinander? Es wäre ein Frevel, ganz unbedingt zu sagen, daß nicht auch ein Frauenzimmer von nicht sanftem Charakter gut seyn könne, indeß – da Sprache und Sprachgebrauch gewöhnlich Resultate vieler Erfahrungen sind und oft sogar reine Lebensweisheit enthalten, so müssen wir doch vermuthen, daß diese Verknüpfung ihren Grund habe und dürfen sie für nichts Gleichgülthiges ansehen. Gewiß ist wohl, daß die Männer von den Frauen am Ersten Sanftmuth fordern […] Sanftmuth ist aber hier deßhalb das erste Erforderniß eines guten Charakters, weil das weibliche Geschlecht mehr zur Folgsamkeit, als zum Herrschen und Selbstwollen von Natur und Schicksal bestimmt ist.“

Klar, Zutat, die ewige "Folgsamkeit", das ewige Später-Kommen in kleidsamer Schleppe, das ist seit jeher die Frau, Tat aber, ("Selbstwollen", "Herrschen") das ist in Ewigkeit und aus Ewigkeit und um Ewigkeit herum der Mann, und wehe der Frau, die den absoluten Kochlöffel an sich reißen will, das symbolische Absolute oder löffelhafte Symbolon namens Gott namens Phallus namens Begriff, Griff oder Griffel, also Stift, wehe der Frau, die diesen genauso frei benutzen will, um ihn zu schwingen, mit ihm abzumessen, zu rühren, auszuteilen und Metaphern, Bilder und Zutaten zu einem „Gericht der Vernunft“ (Kant) zu verkochen, wie es IHR schmeckt: Da ist Verwirrung vorprogrammiert, denn hä, Zutat, das ist doch sie, wie kann sie da gleichzeitig den Löffel schwingen wollen? Mädchen, kenne deine Grenzen! Köchin, das bist du, klar, aber nur am heimischen Herd, nicht da, wo die Welt vermessen wird, sondern da, wo es keiner sieht und du auch nichts anderes verkochst und verköstigst als eben das Hausinnere. Dabei wusste schon Lenin (je nach Überlieferung): „Jede Köchin sollte lernen, den Staat zu regieren“ / „Jede Köchin muss in der Lage sein, den Staat zu regieren“ / „Jede Köchin muss den Staat regieren“ / „Die Köchin soll den Staat regieren“. „Kochen“ kommt übrigens vom lateinischen „coquere“, was soviel heißt wie: ängstigen, austrocknen, backen, beunruhigen, brennen, quälen, reifen, schmelzen, verdauen, zersetzen, zubereiten, reif machen, in Gärung bringen, zur Reife bringen.

Der Textauszug, den ich bei jener Veranstaltung in jenem lang verheirateten, samtrot toupiert-aufgepolsterten Saal jenes Schlosses las, handelte unter anderem von einer Klosterschule, in der es immerzu nach Kohl riecht, von Nonnen, die kein Deo benutzen, von einem Gott, der von oben nach unten pinkelt, und von einem Pater, der knieenden Mädchen etwas in die Hand oder auf die Zunge legt. Anschließend brachte mich eine der Damen mit ihrem blauen Audi A4 zum Bahnhof, da ich direkt zurückfuhr nach Berlin, und während wir an einer Ampel hielten, sagte sie: Es seien bei meiner Lesung „doch einige Leute etwas unruhig geworden und auf ihren Stühlen hin- und hergerutscht“, ich sei „ja schon ganz schön frech“. Zum Abschied gab sie mir noch den Ratschlag: „Seien Sie doch ein bisschen sanfter.“

 

Fixpoetry 2020
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge