aufgelesen [28]
Stein des Vergessens
»Ich hebe den Stein, der auf meinem Gedächtnis liegt und sehe darunter das Gewimmel einer Welt von gestern: Beine, Arme, Finger, Köpfe ohne Gesichter, Gesichter ohne Köpfe, ich sehe Kathedralen, Stacheldraht, Times Square, den Hradschin, Notre-Dame, den Üetliberg und die Akropolis. Ich sehe Kreaturen, die beim Anblick des Lichts erschrocken in der Dunkelheit verschwinden, versinken, lautlos, keine Spuren hinterlassend, bis ich sie wieder mit dem Stein des Vergessens zudecke, der sie beschützt, unter dem sie Schattendasein fortsetzen können: lichtlos, unterirdisch, in jener aus Erinnerungen gewobenen Sagenwelt, die man Vergangenheit nennt, Gesichter, die Theater spielen in einem Stück, das einst ihr Leben war, die Münder, die einander tranken in toller Verzückung und nun zahnlos eins werden mit den Knochenresten versteinerter Skelette, Augen und Ohren und Nasen, die sahen und hörten und rochen in dieser kurzen Spanne, die ihnen gegeben war zwischen Geburt und Tod: bis der Stein auf dem Gedächtnis, der Stein, der zwischen gestern und heute sich hebt, sie mir augenblicklang in die Augen sehen lässt – solange, sie die ewige Nacht sie wieder umfängt. Die Asseln, die Käfer, die Regenwürmer, die Würmer, die einmal aufrecht gingen und Menschen waren wie ich, Verstoßene, Umherirrende, in der anonymen Landschaft des Exils, die großen und die kleinen Geister, die Plumpen und die Geschmeidigen, die toten Taten des öffentlichen Lebens, die Machthaber mit Pensionsberechtigung, die man ihnen entzog, Journalisten ohne Zeitung, Schauspieler ohne Bühne, Schriftsteller ohne Buch. (...) «
Aus Hans Sahls Erinnerungen »Exil im Exil« (Luchterhand, 2008), in denen er eindrücklich, aus seiner subjektiven Sicht heraus die Grausamkeiten des Nationalsozialismus schildert und einer Vielzahl ihm bekannter, vom System verfolgter Schriftsteller*innen und Künstler*innen ein literarisches Denkmal setzt.
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