Dichtertotenbriefe

Briefe an O wie Ovid

Esther Ackermann schreibt an Ovid

Verehrter Dichter Publius Ovidius Naso,

von Herzen gerne hätte ich auch heute noch Gelegenheit, an Ihr Grab zu treten und auszusprechen, was Sie sich als Inschrift gewünscht hatten: „Nasonis molliter ossa cubent. – Mögen Nasos Gebeine weich ruhen.“

Genau dies träumte ich vor wenigen Augenblicken und fühle den Traum nun schmerzlich verblassen, während ich ihn zu halten und Ihnen vor Augen zu stellen versuche. Ihr Grab lag vor einer Waldhöhle. Ich rief den Grabspruch laut hinein. Da strömten Schallwellen heraus. Ich konnte sie sehen wie ein lautloses Echo. Aber es war kein Echo. Es war eine Botschaft. Von Echo, von Ihrer Nymphe Echo. Ich hörte die Botschaft: Du darfst dir von Ovid einen Text wünschen, verkündete sie. Im Traum versuchte ich, nicht eher aufzuwachen, als bis ich wüsste, was Sie für mich schreiben sollten. Vergebens.

Es mag töricht sein, da ich nun wach bin, meinen Wunsch an Sie zu richten. Es mag töricht sein zu glauben, Echo habe etwas gesagt. Trotzdem will ich Sie bitten, noch eine Metamorphose zu schreiben, fernab vom Mythos. Schreiben Sie die Geschichte von jemandem, der sich in ein Gedicht verwandelt. Schreiben Sie, wie ich mich in ein Gedicht verwandle. Es ist nie zufällig, was Ihre Gestalten werden. Ich bin sicher, dass ich ein Gedicht werde. Doch warum? Aus Selbstverteidigung? Als Strafe? Als Verführungskunst? Erzählen Sie mir die Geschichte! Ihre Gestalten verwandelten sich zwar bisher in Naturwesen oder in ein Sternbild. Aber vielleicht können Sie nach so langer Zeit eine Ausnahme machen.

Auch auf einer Tafel, nicht in einem Buch, las ich einmal: „Immer dachte ich, dass ich Dichter sein wollte, aber im Grunde wäre ich lieber Gedicht.“ Der Spanier Jaime Gil de Biedma hätte Ihnen bestimmt gefallen. Sein Satz klingt wie der Grabspruch einer verwandten Seele. Klingt er nicht fast wie die Bitte, diese Metamorphose zu erzählen?

Was für ein Gedicht werde ich sein? Ein eigenes können wir ja am allerwenigsten sein. Sie wissen selbst, wie erleichtert wir sind, wenn wir die eigene Stimme in unseren Gedichten nicht mehr hören. Wenn sie endlich ihre eigene haben. Wir atmen durch, wenn sie sich nicht mehr nach uns umdrehen. Manchmal kommt eines später zurück und erklärt uns einiges.

Sollte ich fürchten, dass Sie mich für ungeeignet halten für diese Verwandlung, weil ich selber Gedichte schreibe? Ich kann Ihnen versichern: Lesen kann ich besser als schreiben. Da das Leben zu kurz ist, um alles zu lesen, was ich möchte, kam ich früher nie zum Schreiben. Das ging lange gut, dann immer weniger. Zum Glück hatten beim Schreiben Gedichte die richtige Größe. Ein Problem aber waren Notizen. Fiel mir etwas Gutes ein, stellten sich ein bisschen die Haare auf. Ich musste mir diese Einfälle nicht notieren, die vergaß ich nicht. Dachte ich.

Ich vergaß sie immer. Sie bilden inzwischen einen imaginären Ideenfriedhof, der mich aber nicht mehr traurig macht. Die Gedichte aus den zweitbesten Einfällen lege ich den verlorenen aufs Grab, als Anrufung. Mit ihnen horche ich in die Stille der Nicht-Gedichte hinein. Wir versuchen, Taubheiten und Totheiten wieder zum Sprechen zu bringen. Haben wir nicht alle diese imaginären Friedhöfe in uns, die verschütteten Augenblicke vollkommener Lebendigkeit?

Ganz lebendig war Echo in meinem Traum. Die Treue zum letzten Wort hat ihr Herz ja krank gemacht. Ohne Macht über ihre Zunge konnte sie nie mehr beginnen. Und doch auch nicht schweigen. Sie verkroch sich in ihre Grotte, wurde mager, dürr, vertrocknete zu Stimme und Knochen. Und nach vielen Jahrhunderten wurde sie zu Stein. Wer weiß, in was sich Eindringlinge im Schutz dieser grausamen Verschwiegenheit vorübergehend verwandelten und danach wieder gingen.

Ihr Grabspruch, verehrter Ovid, hat Echo zum Sprechen gebracht. Ich werde die Grotte aufsuchen mit diesem Brief. Ich werde ihn hineinrufen und hineinlegen. Und warten.

Nasonis molliter ossa cubent – in heimatlicher, fremder, blauer oder geträumter Erde. Das wünscht sich

Ihre Esther Ackermann

 

 

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