Eingekreist

Meine Fußballweltmeisterschaften

Juni 1990.
Eigentlich wäre ich nie auf die Idee gekommen, mir so was anzuschauen. Es spielten weder Piraten mit noch Bud Spencer. Doch es war ein nationales Ereignis. Mein Großonkel war sogar aus dem Noch-Westen extra zu Besuch gekommen, obwohl er sich, wie fast alle Familienmitglieder, gar nicht für Fußball interessierte. Er sah es als seine patriotische Pflicht an und forderte uns auf, bei der Nationalhymne mitzusingen. Meine Mutter war froh, daß er nicht das Horst-Wessel-Lied angestimmt hatte. Wir saßen dichtgedrängt bei meiner Urgroßmutter. Sie war die einzige in unserer Nähe, die damals einen Farbfernseher besaß. Einen Westfernseher mit echten Westfarben. Ältere Menschen sollten sich immer ein hochmodernes Gerät zulegen, damit sie von der jüngeren Generation öfter, als es eigentlich nötig wäre, besucht werden. Eine Win-Win-Situation. Aber wer würde jetzt gewinnen. Deutschland gegen Argentinien. Maradona gegen Männer, die aussahen, wie alle Männer um Neunzehnhundertneunzig herum aussahen. Andi Brehme, Jürgen Kohler, Matthäus, Klinsmann, Völler, Hässler, Littbarski. Oberlippenbärte und/oder Vokuhila. Im Hanuta, das es nun auch für uns Ostkinder gab, waren Bildchen von den Spielern unserer Nationalmannschaft drin, die uns bei jedem Friseurbesuch eine Warnung hätten sein sollen. Eigentlich noch gar nicht unsere Mannschaft, aber schon bald. Die Wiedervereinigung vollzog sich ja in drei Schritten: Währungsunion, Fußballweltmeisterschaft und offiziell dann am 3. Oktober. Andi Brehme ging zum Elfmeterpunkt. Andi Brehme schoß. Und Tor! Deutschland war wiedervereinigt. „Junge, das wirst du noch Deinen Kindern erzählen“, prophezeite mir mein rechter Großonkel.  

1994 USA
Kohl hat gesagt, es würde blühende Landschaften geben und Beckenbauer hat gesagt, die Deutschen werden zusammen mit den Spielern aus der ehemaligen DDR auf Jahre unschlagbar sein. Okay, er sagte auch: „Es gibt nur eine Möglichkeit: Sieg, Unentschieden oder Niederlage.“ Das Kopfballtor im Viertelfinale von Jordan Letschko machte dann Letscho aus uns. Ich bekam Mathe-Nachhilfe, um irgendwie durchs Abi zu kommen. Das waren die großen Enttäuschungen der Neunziger.  

1998 Frankreich
Vor einem halben Jahr hatte ich den Entschluß gefaßt, den engen Verhältnissen meiner Heimatstadt zu entfliehen und in einer tollen Großstadt zu studieren. Doch ich landete in Halle. Fußball interessierte mich kaum noch. Ich las Adorno. Ich wohnte im achten Stock eines Studentenwohnheims in Halle-Neustadt und hatte kein Fernsehen. Dafür sprang immer mal ein Student aus dem 16ten Stock. Und ich vermute, der deutsche Rumpelfußball dürfte rechtzeitig vor dem Finale ausgeschieden sein.

2002 Südkorea Japan
Mein erstes Public Viewing. Zusammen mit meinem Studienfreund Gunnar und seinen bierfesten Kumpels aus der Philosophie in einem häßlichen Pub in Halle. Rudi Völler sah immer noch so aus wie Neunzehnhundertneunzig. Wurde er deshalb Tante Käthe genannt? Zur Abwechslung saß er auf der Trainerbank und Deutschland stand im Finale gegen Brasilien. Wegen Sperre durfte Ballack nicht mitspielen, obwohl nur Ballack Fußball spielen konnte. Immerhin stand noch Kahn der Titan im Tor, der mit seinen Grimassen jeden Angreifer traumatisierte. Brasilien wurde trotzdem zum fünften Mal Weltmeister.  

Sommermärchen 2006.
Am Nachmittag war Viertelfinale und ich war dummerweise zur Hochzeit meines Schulfreundes Thomas eingeladen worden. Die Feier fand in einem Landhotel etwas außerhalb von Bernburg statt. Ich erkundigte mich leicht nervös, ob es dort eine Leinwand geben würde. Aber von wegen. Die frisch angetraute Frau meines Schulfreundes tat so, als sei ihre Hochzeit wichtiger als das Spiel Deutschland gegen Argentinien. Nirgends eine Leinwand. Selbst das Gucken auf dem Hotelzimmer war verboten worden. Daß der Thomas bei diesem Irrsinn mitmachte, sah ihm wieder ähnlich. Im Grunde war er immer ein braver Junge gewesen, und wenn schon seine Mutti gesagt hat, jetzt ist Schluß, dann war eben Schluß. Verzweifelt saß ich an der Hochzeittafel und aß Kuchen. Der Alleinunterhalter stellte unterdessen seine Boxen auf, er nannte sich DJ Rolf. Als er mich sah und meine sogenannte „Gesichtsbehaarung“, machte er seinen ersten Gag. „Na, du hast wohl bei deiner Geburt gleich den Rahmen mit rausgerissen.“ Der Abend kann ja noch heiter werden. Nach dem Kaffee wurde das Brautpaar vom Fotographen entführt. Das war die Chance. Einige seilten sich ab auf ein Hotelzimmer. 90 Minuten, Verlängerung, Elfmeterschießen. Gebrülle, Schreie, Hände vor die Augen. Erlösung. Die Braut war sauer auf uns und Deutschland im Halbfinale. Dabei sollte sie froh sein, denn es fehlte nicht viel und es wäre eine ziemliche depressive Resthochzeit geworden. Deutschland wurde schließlich Dritter und der große Zinédine Zidane diente als Ideengeber für ein lustiges Internetspiel, in dem man Gegner per Kopfstoß aus dem Weg räumte.

2010 Südafrika
Letztes Semester meines Zweitstudiums am Literaturinstitut in Leipzig und drei Wochen davon habe ich mein eigenes Wort nicht verstanden. Nur so ein Tröten überall. Was ursprünglich als akustische Abwehrwaffe gegen Piratenangriffe am Horn von Afrika gedacht war, wurde zum unverzichtbaren Instrument der Fans. Bei diesem Lärm konnte die Mannschaft der Dichter und Denker natürlich nicht Weltmeister werden.

2014 Brasilien
Es war unheimlich. Portugal verlor 0:4 gegen Deutschland sein Auftaktspiel. Im Halbfinale wurde Brasilien 7 zu 1 von Deutschland geschlagen. Und am Tag, als es um Platz drei ging, hatte mich in der Vorrunde meines zweiten Poetry-Slam-Wettbewerbs eine 19 Jährige deutlich besiegt. Das waren Ergebnisse, die mit dem Können der Beteiligten nichts mehr zu tun hatten. Waren das die Auswirkungen der damals verstärkt von einigen Bürgern wahrgenommen Chemtrails? Im Finale ging es wieder gegen Argentinien wie Neunzehnhundertneunzig. Nach dem Sieg von einst wurde die DDR mit der Bundesrepublik wiedervereinigt. Und nun trugen alle Schwarz-Rot-Gold, die Mannschaft zeigte den Argentiniern, wie sie gehen (nämlich: so gehen die Gauchos, die Gauchos, die gehen so) und Österreich ist nur knapp dem Wiederanschluß entgangen.

2018 Rußland
Napoleon, Hitler, Jogi. Warum muß sich Geschichte dann doch immer wiederholen? Von den drei Auftritten habe ich auch noch den einzigen knappen Sieg verpaßt, weil ich zur selben Zeit eine gut organisierte Lesung in Berlin geben mußte vor drei Zuhören, die nicht verheimlichen konnten, daß ich mit ihnen verwandt bin. Zieht man jedoch den Fußballweltmeisterschaftsgewinn-index zu Rate, hätte sich jeder vorher ausrechnen können, daß es mit einem erneuten Weltmeistertitel für Deutschland vor 2034 nichts wird. Es ist wie mit der nächsten Sonnenfinsternis, einige von uns werden dann schon lange tot sein.

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