Eltern und Kinder
Es gibt Leute auf Facebook, die die Weisheit der Welt in Form von vorgefertigten Sprüchen ihren Freunden nicht vorenthalten. Zum Beispiel: „Sei freundlich zu allen Lebewesen, das ist die wahre Religion.“ Man mag es gutheißen oder belächeln, der nächste Spruch verstopft die Timeline bestimmt. Aber ein Spruch stach aus dem Meer des seichten Sinnes heraus, er lautet: „Freundschaft ist, wenn man nicht extra aufräumt, wenn der Andere zu Besuch kommt.“ Falls man sich jemals darüber Illusionen gemacht haben sollte, so führt dieser Spruch einen doch wieder zu der ewigen Einsicht, daß man mit seinen Eltern nicht befreundet sein kann. Für meine katholische Freundin und mich sind solche Wohnungsbesuche eine Beziehungsprobe. Sind meine Eltern wieder weg und wir noch zusammen, wird uns so schnell nichts entzweien.
Erfahrungsgemäß entzünden sich die elterlichen Gemüter an Kleinigkeiten, ob es der unaufgeräumte Flur ist, die Staubflusen in meinem Arbeitszimmer, meine finanziell in hohem Maße unsichere Existenz als Autor und die daraus sich ergebende komplett unsichere Zukunft, die fehlenden Enkelkinder und die vor Jahren so leichtsinnig hingeschmissene Doktorarbeit, die unabgewaschenen Töpfe auf dem verkrusteten Herd in der Küche, deren Boden mit leeren Flaschen vollgestellt ist, die einmal mit Bier gefüllt waren, schon heißt es von meiner Mutter, ich sei gefährdet, dabei ist doch offenkundig, daß ich diese ganzen Flaschen nicht in kürzester Zeit geleert haben kann, sondern, wie man unschwer an der Staubschicht auf den Flaschen erkennt, Monate dafür gebraucht haben muß. Doch es wäre ein Zeugnis der Unreife und eines unvollendeten Ablösungsprozesses von den Eltern, wenn ich nur aus dem Grund sauber machen würde, weil ich Angst davor hätte, die Eltern könnten aus dem Zustand der Wohnung Rückschlüsse auf mein Leben ziehen. Einmal hatten meine Eltern sogar ihren angekündigten Besuch wegen Glatteises wieder abgemeldet. Man stelle sich einmal vor, ich hätte vorher aufgeräumt, es wäre ja völlig umsonst gewesen.
Am Telefon fragt mich meine Mutter oft sehr spalterisch, ob sich meine Freundin in meinem Chaos denn ebenfalls wohl fühle. Natürlich, da sollen sie sich bloß mal keine Gedanken machen. Meine Eltern können sich eben nicht vorstellen, daß wir als Intellektuellenpärchen ganz entspannt mit etwas Unordnung umgehen können. Ich muß ihnen ja nicht auf die Nase binden, daß das nicht stimmt.
Meine Freude hielt sich jedenfalls in nachvollziehbaren Grenzen, als neulich meine Eltern unangekündigt und mit sehr ernsten Gesichtern vor der Tür standen. Mutter sagte:
„Wir müssen Dir leider etwas mitteilen.“
„Was denn, ist die Oma gestorben?“
„Nein. Wir haben beschlossen, Dich abzutreiben.“
„Aber Mutti, ich bin 42.“
„Das wissen wir. Um genau zu sein, ist es bereits der fünfhundertfünfzehnte Monat. Wir haben uns die Entscheidung ja auch nicht leicht gemacht.“
„Wie?“
„Ich bin natürlich zu der obligatorischen Beratung gegangen.“
„Was?, findest du nicht, daß es für eine Abtreibung jetzt nicht etwas zu spät ist?“
„Mag sein. Aber glaubst du, ich treffe so eine Entscheidung einfach aus dem Bauch heraus. Wir haben lange darüber nachgedacht. Vor deiner Geburt war eben noch nicht abzusehen, was aus dir wird.“
„Was heißt denn das.“
„Na ja, hätte ich früher gewußt, wie Du dich entwickelst, hätte ich bestimmt nicht so lange damit gewartet.“
„Also … - okay ich schreibe Gedichte und ich verdiene kaum Geld, aber ich bin wenigstens kein Mörder oder wähle die AFD.“
„Man findet immer Beispiele, die schlimmer sind.“
„Ich hab sogar mein Studium abgeschlossen.“
„Ohne daß du was daraus gemacht hast, wir hätten uns wenigstens gewünscht, wenn du deinen Doktor fertig gemacht hättest.
„Dafür war ich am Literaturinstitut.“
„Ein sinnloses Zweitstudium, brotlos.“
„Ich hab Preise, Stipendien, selbst sachsen-anhaltische Meister im Poetry Sl …
„Also bitte, mach Dich nicht lächerlich.“
„Na gut, unter den Blinden ist der einäugige Landesmeister. Aber die Kolumnen auf Fixpoetry sind doch nicht schlecht?“
„Mich hat schon immer gestört, daß alle familiären Gespräche im Internet erscheinen.“
„Das ist doch nun mal die Arbeit eines Kolumnisten.“
„Arbeit, so nennst Du das also. Mir wäre lieber, du würdest dein Zimmer aufräumen. Der Roman, von dem du seit Jahren erzählst, wird ja sowieso nicht fertig. Abgesehen davon, alle meine Kolleginnen haben Enkelkinder, nur ich nicht.“
„Ja gut, aber das wird doch jetzt nicht wahrscheinlicher, wenn du mich abtreibst.“
„Mir fehlt einfach fröhliches Kinderlachen im Haus.“
„Es gibt großartige CDs mit ganz echtem Kinderlachen drauf, also dein Geburtstag ist doch bald …
„Das ist doch nicht dasselbe. Und darum werde ich dich jetzt abtreiben. Und dann adoptieren dein Vater und ich uns ein Enkelkind.“
„Was hast Du immer mit diesem Enkelkind, ein Haustier tut es doch auch. Außerdem können Enkelkinder krank werden oder eine versteckte Behinderung haben. Bei einem Hamster wäre das nur halb so schlimm.“
„Na warte,“ sagte meine Mutter und holte einen riesigen Gummi-Pömpel aus der Handtasche, womit man sonst verstopfte Abflüsse freikriegt.
Gut, an dieser Stelle will ich zugeben, daß ich ein bißchen übertrieben habe. Manchmal kann ich meine Eltern ja auch verstehen. Man hat Wünsche, Hoffnungen, Träume, und dann kommt so was raus wie ich.
Nun bin ich allerdings schon in einem Alter, um auch mal auf der anderen Seite zu landen. Zwar hab ich keine eigenen Kinder, aber meine katholische Freundin hat eine Tochter, und die ist inzwischen erwachsen geworden. Wer weiß, was sie denkt, wenn wir sie in ihrer WG besuchen? Dort stehen übrigens keine Flaschen rum. Das Geschirr ist abgewaschen. Kein Fleck auf dem Fußboden. Da fragt man sich natürlich, was haben wir bloß falsch gemacht. Zu Weihnachten ist es längst Tradition, daß die Tochter meiner Freundin, bevor ich den Baum aufstelle, erstmal unser Wohnzimmer saugt. Ich habe versucht, ihr das auszureden, daß sei voll spießig. Sie macht es trotzdem. Eltern und Kinder passen offenkundig von Natur aus nicht zusammen.
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