Brief aus Berlin [2]
Madame Schoscha lebt seit Kurzem in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, über die sie sich gegenseitig berichten, sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der mehrfach im Jahr in einem Schöneberger Theater stattfindet, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag. Es scheint sich daraus eine wahre Brieffreundschaft zu entwickeln.
Illustration: Larisa Lauber
Meine liebe Madame Schoscha,
ich gebe gerne zu, dass ich zunächst die naive Hoffnung hatte, mit Ihrem Brief ein wenig Restwärme aus der südlichen Metropole abzubekommen. Wenngleich dies nicht geschehen ist, so haben mich dafür Ihre ungewohnt offenherzigen Worte nicht kalt gelassen. Sie waren schon in der Vergangenheit immer für eine Überraschung gut. Aber diese ist mir besonders lieb.
Ich habe mich ertappt, bei einer romantisierten Vorstellung Ihres selbstgewählten Exils. Aufregend und belebend anders wird wohl alles sein. Gepaart mit Ihrem feinen Sinn für inspirierende Gesellschaft, würden die Verehrer nicht lange auf sich warten lassen. Ich stellte Sie mir vor, wie Lou Andreas-Salomé auf dem Portraitfoto, das für die aktuelle Biographie ausgewählt wurde. Mit diesem Blick, der ein deutlich geringeres Bedürfnis nach Anlehnung ausdrückt, als die gewählte Pose vermuten lässt. Aber wie so häufig erzählt diese Vorstellung tatsächlich mehr über mich als über Sie.
Übrigens fallen Sie mit Ihrer geschilderten Fremdheitserfahrung auch aus sprachhistorischer Sicht nicht aus der Rolle. Bei der Erkundung des Begriffs der Fremde, bin ich auf eine direkte Verbindung zum Elend gestoßen. Das Wort Elend bezeichnete in seiner ursprünglichen Bedeutung, in einem fremden Land zu leben.
Ich werde jedenfalls so gut es geht versuchen, Sie mit tröstlichen Eindrücken aus der Heimat zu versorgen. Die folgenden Eindrücke, die vortrefflich in die aktuelle Jahreszeitstimmung passen, habe ich allerdings beim Zeitgenossen Hellmuth Opitz gefunden:
“PSST! Es ist Herbst,
Madame.
Die Nacht spielt schon ein
kühles Saxophon.
Der Wind wirbelt durch Ihre
Schulterblätter, wenn Sie Atem
holen gehen in dieser
ausgeknipsten Stadt.“
Ich wage mal einen kühnen Versuch vom Besonderen ins Allgemeine und frage auch Sie:
Gibt es so etwas wie eine Grundstimmung der Stadt, einen durchlaufenden Generalbass Berlin?
Meine Befragung von Wahlberlinern aus unterschiedlichen Ländern ergab ein deutliches Meinungsbild. Ja, die Stimmung Berlins sei melancholisch. Eine französische Sängerin erzählte, dass sie über mehrere Wochen täglich mit dem Fahrrad von Steglitz nach Moabit gefahren sei und zu keinem anderen Schluss kommen konnte. Wenn man die Frage außen vor lässt, ob die Route das Bewusstsein oder doch das Bewusstsein die Route bestimmt, so kann ich dem nur zustimmen. Abgesehen von ein paar elektronisch aufgeladenen Flecken, lässt sich Berlin in Schwarzweiß denken.
Schauen Sie sich unbedingt den Film „Oh Boy“ von Jan-Ole Gerster an. Dort ist es eindrucksvoll gelungen.
Als ich vor mehr als 10 Jahren nach Berlin gezogen bin war meine Aufnahmebereitschaft nahezu unbegrenzt. Ich hätte es als Eindrückesammler durchaus mit Frederick, der Maus aus dem gleichnamigen Kinderbuch aufnehmen können. Nur dass ich statt der vielen Farben der Feldblumen eher bunte Vögel und Begegnungen aufgesammelt habe.
Die Bereitschaft mich überraschen zu lassen, hat bei mir über die vielen Jahre spürbar abgenommen. Ich habe in diesen abgehängten Momenten mitunter neidvoll an Sie gedacht und mir vorgeredet, Sie haben immerhin das Meer vor der Haustür. Aber auch das kann einen anschweigen, selbst wenn es braust.
So freue ich mich durch unseren Briefwechsel einen frischen Anstoß bekommen zu haben. Ich durchstreife jetzt wieder häufiger die Straßen und halte Ausschau nach den kleinen Unregelmäßigkeiten, die einige Großstadtbewohner hervorbringen. Ich hoffe, Sie sind einverstanden, dass ich Sie mit dem Nachbeten des Kulturkalenders der letzten Wochen verschonen werde. Vielmehr möchte ich ein leises Straßenkunstprojekt in den Mittelpunkt meiner gesammelten Aufmerksamkeit setzen. Es handelt sich um die bunt bestrickten Straßenpoller in der Nähe des Winterfeldtplatzes. Inzwischen sind Ableger dieser Strick-Art über die ganze Stadt verteilt. Außer einem mit aufgesprungenem Schulprojekt sind die Aktivisten dieser besonderen Klöppelarbeiten bisher nicht bekannt. Sie sind einfach da und gerade das macht sie mir so sympathisch. Vielleicht hat es mit einer langsam aufkommenden Altersmilde zu tun, dass mich diese bemützten Kollegen auf meinem täglichen Weg zur Arbeit so erfreuen. Ich bin mir aber sicher, dass auch Sie bei diesem Anblick mehr als entzückt wären.
Das Schlusswort gehört der von Ihnen sehr geschätzten Dichterin Mascha Kaléko:
“Und alles fragt, wie ich Berlin denn finde? - Wie ich es finde? Ach, ich such es noch!“
Bleiben Sie gesund und mir gewogen
Ihr Herr Altobelli
PS: Beigefügt erhalten Sie eine Illustration der Schöneberger Künstlerin Larisa Lauber. Sie hat u.a. den wunderbar animierten Kurzfilm zu Oscar Wildes Geschichte „Die Nachtigall und die Rose“ gemacht. Wie ich hörte, sind Sie sich durch die Veranstaltungen des Kultursalons inzwischen wohlbekannt.
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