Brief aus Berlin [8]
Madame Schoscha lebt seit Kurzem in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, über die sie sich gegenseitig berichten, sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madama Schoscha, der am 25.06. wieder in einem Schöneberger Theater stattfinden wird, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag. Es scheint sich daraus eine wahre Brieffreundschaft zu entwickeln. Den Juni verbringt Madame Schoscha in Berlin und wird im Juli wieder aus Barcelona schreiben.
Bonjour Madame,
ich bin einer privaten Einladung in den Südwesten Frankreichs gefolgt und schreibe Ihnen diesmal aus der wunderbaren Landschaft des Périgord. Diese sattgrüne Region lockt mit ihrer guten Küche und ihren sprichwörtlichen 1000 Schlössern. Die reichhaltigen tierischen Fette der Ente beim Confit de canard sprechen für sich und sind ein Klassiker geworden. Vegetarier werden hier eine Randgruppe darstellen und sollten klugerweise erst zur Trüffelzeit anreisen.
Bereits bei der Hinfahrt durch dieses Auenland ahnt man beim Blick durch die Autoscheibe, dass die überreizte Großstadtseele hier zur Ruhe kommen kann. Beim Passieren der historischen Bauernhäuser aus ockerfarbenem Sandstein, bekommt man vereinzelt einheimische Menschen zu Gesicht. Es sind fast ausschließlich Alte in Begleitung von Tieren. „Eine Katze aus/Licht räkelt sich/Unter den Weiden.“ (Sarah Kirsch)
Die Gesichter der Katzen und Menschen sehen nicht unglücklich aus. Hier scheint sich keiner neu erfinden zu müssen.
Von Berlin aus war ich jedenfalls mit der saisonalen Überlegung aufgebrochen, was der Monat Mai wohl alles neu machen würde. Das alte Lied erwartet schließlich nicht weniger als das der „Widerschein der Schöpfung“ uns dann erneuernd im Gemüt blühen möge.
Um die dramatische Fallhöhe dieser Forderung nach unten zu korrigieren, habe ich mich nach einem etwas moderneren Leitmotiv umgesehen und bin beim Songwriter Sam Beam von Iron & Wine fündig geworden. Auf seinem aktuellen Album Ghost on Ghost heißt es in einem Refrain: „I love you and you love me and there’s new fruit humming in the old fruit tree.”
Da Sie mich in Ihrem letzten Brief mit Ihrer intimen Hitliste beschenkt haben bin ich frisch motiviert, Sie weiterhin mit neuen Empfehlungen zu versorgen. Die zart suchende Stimme des vorgenannten Liedermachers möchte ich Ihnen dringend ans Herz legen und bin gespannt, ob Sie ihn in Ihren Bestand aufnehmen werden.
Die Liste Ihrer enttarnten Liebeslieder habe ich im Postskriptum angehängt. Bei der damit verbundenen Vorfreude auf unser baldiges Wiedersehen in Berlin ist mir folgende Idee gekommen. Was halten Sie davon wenn Sie mich nicht als Gast zum Kultursalon am 25.06. einladen, sondern als Co-Moderator wie in guten alten Zeiten? Ich kann mir keine bessere Gelegenheit ausmalen als zum Thema „beziehungs weise“ wieder mit Ihnen zusammen auf der Bühne zu stehen.
Wenn ich mir vor Augen führe, dass seit der Entstehung dieser Veranstaltung die Katze sich als Leitfigur eingeschlichen hat, dann könnte das folgenden triftigen Grund haben:
„Gedichte also sind/Sonderbare kleine/Katzen denen gerade/Die Augen aufgehn“ (Sarah Kirsch)
Zurück zu meinen Ausflügen im Nachbarland. Auch in der Höhle von Lascaux bei Montignac gibt es viele Gründe, warum einem die Augen aufgehen können. Wenn man sich von der kleinen Enttäuschung erholt hat, dass man in Lascaux II aus Schutz vor der zerstörerischen Wirkung der menschlichen Atemluft nur eine originalgetreue Kopie der berühmten Felsmalereien zu sehen bekommt, kann man absteigen in die ca. 17.000 Jahre alten Bilderwelten der Steinzeitmenschen. Was mag unsere Vorfahren dazu bewogen haben, bekannte Tiere oder Symbolzeichen auf diese beeindruckende Weise festzuhalten? Die Erklärungsansätze sind vielfältig und reichen von bloßen Markierungen des Territoriums bis hin zu rituellen Beschwörungen, um die kommende Jagdsaison günstig zu beeinflussen. Teilweise wurden einige Stellen vermutlich von unterschiedlichen Generationen hintereinander mehrfach übermalt. Beim Betrachten dieser Bildschichtungen erinnerte ich mich echohaft an die markanten Fragen einer umtriebigen Berliner Theaterdramaturgin:
“Was macht man mit dem Wunsch, sich immer wieder neu zu entwerfen? Wie gelingt das? Nicht fertig zu werden mit sich.“
Diese Fragestellung scheint eher auf den modernen Menschen zugeschnitten zu sein, dem die großen Zusammenhänge und Gewissheiten wegbröckeln. Aber wer weiß schon, was ein früher Vorfahre von uns gedacht haben mag, der irgendwann feststellten musste, dass er wesentlich mehr Talent zum Malen als zum Jagen hatte.
Bei einem weiteren Ausflug habe ich mich auf Spurensuche nach Cyrano de Bergerac begeben. In der gleichnamigen Stadt an der Dordogne erfahre ich, dass der wortgewandte Haudegen hier zwar als Statue verewigt wurde, aber dort nie gelebt haben soll. Gewirkt haben wird er hier sicherlich. Die Wirkungsmacht seiner gesammelten Briefe ist zweifellos an keinen Ort gebunden.
Ein Künstler der Jetztzeit steht wie kein anderer für Neuentwurf und Metamorphose: Robert Allen Zimmerman, der beschloss als Bob Dylan in der Welt herumzutingeln. Über den Wandel von Bob Dylan ist schon alles und nichts geschrieben worden. Wer sich nicht davon irritieren ließ, hatte sein Angebot verstanden: “I’ll let you be in my dreams if I can be in yours.“
Mein Onkel Joe schenkte mir vor 13 Jahren das komplette Songtexte-Buch mit folgender handschriftlichen Widmung: „Bob Dylan ist ein Puzzle mit 100.000 Teilen und keine Randstücke.“ Vielleicht stellt man im Laufe des Lebens fest, dass es gar nicht schlimm ist, wenn man die Randstücke weglässt. Solange man nicht aufhört, irgendwo anzulegen.
All diejenigen, denen das zu verwegen vorkommen sollte, seien noch einmal mit Sarah Kirschs Worten bedacht:“ (…) wenn die Geduld/durch den alten Teppich der Wiese/Wieder den Faden zieht das beliebte/Muster vom Vorjahr entsteht. Solange/Das Leben sein eigenes Spiegel-/Bild ist erschrecken wir nicht.“
Sie wollten abschließend noch wissen, für wen ich derzeit am liebsten tanze? Das erzähle ich Ihnen gerne, wenn Sie mich in Ihre Träume lassen.
In vorfreudiger Erwartung unserer baldigen Zusammenkunft in Berlin
Ihr Herr Altobelli
PS: Beigefügt erhalten Sie wieder eine Illustration der Schöneberger Künstlerin Larisa Lauber. Sie wird auch in diesem Jahr meine Briefe an Sie um eine wunderbare Dimension erweitern.
PPS: Ihre Liebesliederliste vom letzten Brief:
1. Eins und eins, das macht zwei (Hildegard Knef)
2. Inside out (Feist)
3. Uhlala (Mia)
4. For you (Tracy Chapman)
5. One (U2)
6. Denkmal (Wir Sind Helden)
7. Etwas verrückt/Foxtrot (Michael Jary Tanzorchester)
8. Hindue Blues (Kevin Johansen)
9. Can’t take my eyes off of you (Damien Rice)
10. House of cards (Radiohead)
11. Flume (Bon Iver)
12. Heartbeats (Jose Gonzales)
13. Lady Jane (Rolling Stones)
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