Hung-min Krämer
Die Kolumne Neue Schulen soll Lyrikerinnen über 35, die aus dem Raster der klassischen Literaturförderung herausfallen, einen Raum bieten, in dem sie nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre Erfahrungen und Gedanken zum zeitgenössischen Literaturbetrieb beschreiben. In unterschiedlichen Formaten wie Besprechung, Kommentar, Essay oder Interview werden im zweiwöchentlichen Rhythmus Texte und Erfahrungen der Autorinnen präsentiert. Yevgeniy Breyger, Olga Galicka und Grit Krüger freuen sich laufend über neue Einsendungen unter .
Pirouetten
In jeder Wiederholung liegt ein Sehnen. Wir wenden uns der Welt zu, wieder und wieder – zumindest die meisten von uns, sofern sie sich nicht bewusst dagegen entschieden haben. Denn die Welt drängt nach unserer Aufmerksamkeit und diesem Drängen ist nur schwer etwas entgegenzusetzen. Kaum haben wir uns einmal umgewandt, lauert dort, zwischen der ersten und zweiten Wendung, eine Gewissheit: Das 'Ich', das dem Drängen nachgegeben, seine Aufmerksamkeit geschenkt und sich im Erkennen versucht hat, ist vergangen, sobald es etwas wieder-erkennt. Ein Zurückwenden ist unmöglich. Jeder Versuch endet in einer spiralförmigen Bewegung, deren Richtung sich dadurch entwickelt, wohin es im Gegenzug uns drängt, bewusst oder unbewusst – wonach wir uns sehnen.
Die Tage
vergehen, vergehen, vergehen.
Dann sind es Jahre und Tage.
Und Tage und Tage.
Und dann kommt dein Herz aus dem Tritt.
Und ich brühe den Tee auf,
als wäre es gestern gewesen,
und ich räume die Küche auf,
als kämst Du
gleich zurück.
Als kämst Du
je zurück.
Unsere Fähigkeit, diese Bewegung bei uns zu beobachten, ist allzu oft vom Schwindel gedämpft. Wir finden uns in einem Spiralnebel wieder, in dem wir nach leuchtenden Punkten suchen. Aus Hung-min Krämers Texten können wir die Gewissheit entnehmen, dass dieser Spiralnebel eine Mitte hat.
Die Tage formt sich in einer klaren Sprache, zeitlos, rhythmisch, die uns wieder und wieder zu sich einholt. Ihre Gedichte verlangen, dass wir darin den filigranen Bewegungen der Wiederholung folgen, ihrem Sehnen nachspüren, auf dass sich etwas durch diese Sprache öffnet: in uns, im Gedicht. Damit es zu einem leuchtenden Punkt wird, der uns Orientierung ermöglicht, wenn wir uns in der Welt wenden und wieder wenden.
Was hast du, Welt?
Was ich nicht erkenne?
Wovon mir das Kielwasser des Mopedfahrers vor mir
eine knatternde, leicht verwirbelte, Ahnung zuweht?
Ein zehnjähriger Junge, der grundlos Pirouetten
mit dem Kickboard an der Ampel dreht und bei Grün,
emsig tretend und gleitend entlang des Waldwegs,
ahnungslos in seine hoffnungsvolle Zukunft verschwindet.
Die Fahrradfahrer in Montur, einer nach dem anderen,
die dunklen Sonnenbrillen reflektieren strahlend
das Sonnenlicht, und das übrige Sonnenlicht ruht wärmend
auf den Konturen ihrer Muskeln.
Selbst der Fabrikschornstein trägt ungebeten, eifrig qualmend,
zum Szenario bei und wird heute dafür nicht gescholten.
Unirritiert blau dehnt sich der Himmel über allem und alle.
Was hast du, Welt, was alle fraglos verstehen, nur ich nicht?
In jedem Sehnen liegt ein Gedicht. In Was hast du, Welt? manifestiert das Sehnen sich im Drängen nach einem Dialog. Das 'Ich' findet sich im Schwindel wieder, will etwas in einem 'Du' erkennen und wendet sich dafür mit einer Frage der Welt zu. Dabei spannt sich in den Bildern des Textes ein unerwartetes Wiedererkennen auf, das einfachen Beobachtungen Weite und Würde verleiht. Im Kielwasser des Mopedfahrers zerfließt der Horizont einer begrenzten Gegenwart; es öffnet die Aufmerksamkeit auf eine Ferne hin. In den Pirouetten eines Jungen erkennen wir, dass die spiralförmige Bewegung des Wendens und wieder Wendens von außen betrachtet zum Tanz werden kann – zu etwas, dessen Grund wir nicht kennen, aber dessen Anmut wir schätzen.
Hung-min Krämer schafft es, den hingabevollen Prozess des Beobachtens zu artikulieren. Dieser Prozess ist ein einsamer, in dem wir immer wieder auf uns selbst zurückgeworfen werden. Die Frage, mit dem das 'Ich' sich der Welt zuwendet, vereinzelt; sie spannt sich in der Kluft zu 'allen'. Sie wird jedoch von einer vorgebracht, die es wagt, am Rande der Kluft den Blick zu heben:
„Unirritiert blau dehnt sich der Himmel über allem und alle.“
Bei diesem Wagemut Hung-min Krämers jedoch auch die Sorgfalt bemerkenswert, mit der Rhythmus und Bilder in ihren Gedichten ineinandergelegt werden. An ihr können wir unsere Beobachtungsfähigkeit schärfen und mit ihr unserer Bewegung Klarheit verschaffen. In den Texten manifestiert sich die Gelassenheit einer Erkenntnis gegenüber: Uns bleibt nur, unsere Frage wieder und wieder zu stellen. Das 'Du', das antworten kann, ist nur auf Distanz zu erkennen. Wir sehnen uns nach ihm, nehmen es in die Mitte unserer Wendungen. In der Einsamkeit dieser Bewegung leistet uns die Sprache Gesellschaft.
Hung-min Krämers Gedichte eröffnen uns, wie wir auch in der uns eigenen Bewegung, mit deren Grund nur wir allein vertraut sind, die Anmut einer Pirouette wiedererkennen können. Der Sprache wird Raum gewährt, genug um zu gleiten, um Ahnungen wirbeln zu lassen. Sie beginnt dabei jedoch sehr nahe bei uns: eine Küche, ein Schornstein. Ein Szenario der Ruhe – darin eine Haltung der Vorwurfslosigkeit und Hingabe. Davon ausgehend faltet sie sich mit einer Leichtigkeit in die Ferne und öffnet damit dem vergehenden und wieder vergehenden 'Ich', das sich so sehr um Erkenntnis und mehr noch um Nähe bemüht, einen Horizont und eine Zukunft für sein Sehnen.
Es ist Sonntagmorgen.
Ich stehe am Fenster und knöpfe die Knöpfe
deines Hemdes zu, das vor mir auf dem
Wäscheständer liegt.
Ich tue das in aller Ruhe und genieße das Licht,
das von der weißen Attika des Gartenhauses
und vom Frost auf den Dächern
ins Zimmer geworfen wird.
Einen und den Nächsten und wieder den Nächsten.
Ich glätte den Stoff mit den Händen,
falte es fast normgerecht
und ziehe es noch ein wenig parat,
bevor ich es in den Schrank legen werde.
Ich möchte angekommen sein bei Dir;
aber Du bist ein schlafender Vagabund.
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