Tokyo Fragmente

Tokyo Fragmente 15

 

Von Hotel... Erstmal wollte ich gar nichts notieren auf dieser Reise, auch nicht die Begegnung mit dem dürren Männchen aus Nagasaki, das weit über achtzig war und im hellgrauen Trainingsanzug – wie Fidel Castro, sein Altersgenosse: den Vergleich habe ich für mich behalten –, eine leichte Sporttasche in der Hand, seine Reisespuren quer über den den Globus zog und sie auf einer Homepage dokumentierte, deren Adresse er mir auf einen Zettel schrieb und die zu besuchen ich nicht die Absicht habe (den Zettel mit der krakeligen lateinischen Schrift habe ich aufbewahrt). Siebenundsiebzig Länder hatte er besucht, und jetzt war er auf dem Weg nach Mexiko, wo er zwei Tage zu verweilen gedachte, und nach Kuba. Und Narita, dieser Flughafen im Sechzigerjahrestil, über Jahrzehnte hinweg blankpoliert und trotzdem ein wenig eingedunkelt, stumpf glänzend, ein wenig bedrückend, mich an bestimmte Winkel im unterirdischen Umeda (Osaka) erinnernd... Nein, nichts davon hier. Erst in Mexiko habe ich mit den Aufzeichnungen begonnen, und auch da nicht gleich, sondern erst, nachdem mir jemand eines dieser winzigen roten Heftchen mit leeren Seiten und knallrotem Cover in die Hand gedrückt hatte, Aufschrift #somos lectores. Wieso #? Ja, genau! Grüße aus dem Reino Unido, dem Vereinigten Königreich. Also, wir sind Leser, wir könnten auch Schreiber sein. Besser lesen, nicht schreiben, oder wenig, denn die Lesekunst gilt es hochzuhalten, schreiben ### kann jeder.

 

...zu Hotel Immer noch trage ich den Glanz auf den Schuhen, die mir Timoteo Mansilla vor anderthalb Monaten daraufgezaubert hat. Ob er abstrahlt, sich auf anderes legt? Eher nicht. Es ist ein selbstgenügsamer, unauffälliger, perfekter Glanz, der keine Bewunderer braucht. Ich trage ihn durch Tokyo, über den rissigen Asphalt der schmalen Wege in der Provinz, okuno hosomichi, einmal sogar, unbeabsichtigt, durch ein abgeerntetes Reisfeld. Vielleicht strahlt er nach innen, dieser Glanz. Nicht wahr, Meister Basho?

Es el mejor bolero del mundo, hatte der alte grauhaarige Mann gesagt, der auf einem einfachen Gartenstuhl tief unten neben meinem Thron saß. Welcher Bolero war der beste der Welt? Cielito lindo? Das Lied fiel mir augenblicklich ein, aus dem einfachen Grund, weil es in einer Erzählung von José Emilio Pacheco vorkommt, die ich vor einem Vierteljahrhundert übersetzt habe. Cielito lindo, einer der beliebtesten Boleros, glaube ich. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, daß der Alte nicht von Musik sprach, sondern von dem Mann, der meine Schuhe begutachtete, um über die rechte Strategie zu ihrer Behandlung zu entscheiden. Bolero, so nennt man in Guadalajara anscheinend die Schuhputzer. Und ja, er putzte, Timoteo, ein Lächeln im Gesicht, das wahrscheinlich nur selten verschwand – ich hatte mir ja nie viel aus Schuhglanz gemacht. War es nicht überhaupt das erste Mal, daß ich auf so einem Thron saß? Jetzt aber paßte er, als hätte man ihn nur für mich hingestellt.

„Keine hiesigen Schuhe“, bemerkte Timoteo; es war keine Frage.
Woran er das erkannte?
„Sie sind irgendwie – feiner.“

Fein? Ich dachte an meine hellbraunen Stiefeletten zu Hause, die ich in den neunziger Jahren in Puebla gekauft hatte. Fein waren sie mir vorgekommen, doch als ich die Verkäuferin fragte, wie man sie putzt, sah sie mich verwundert an: „Mit einem nassen Fetzen.“ So eine Frage hatte noch nie jemand an sie gestellt. Diese Schuhe hier aber, gekauft im Gemischtwarenladen einer Soldatenschule auf der Insel Etajima, Präfektur Hiroshima, sollten fein sein? Ich hatte damals einen jungen Soldaten, der zufällig neben mir stand, gefragt, ob sie gut seien und ob die Soldaten sie tatsächlich trügen. „Klar“, sagte er, „hervorragende Schuhe, wir tragen sie vor allem beim Arbeiten auf dem Schiff.“

Also Arbeitsschuhe, wasserabweisend, schwarz, grüne Schnürsenkel, Eisenstaub vorne an der Wölbung (ähnlich Doc-Martens-Stiefeln, aber nicht so..., Eisen, die Härte spüre ich beim Tragen, obwohl die Schuhe relativ leicht sind. Timoteo fand sie fein, er mußte es wissen, der beste Bolero der Welt. Er redete, während er polierte (bolierte?), redete, stellte mir aber auch Fragen, zeigte seine Neugier, und so stellten wir eine Menge Gemeinsamkeiten fest. So viele, daß ich ihn schließlich „Herzensbruder“ nannte, hermano del corazón, auf diesen Titel haben in meinem Reich nur wenige Menschen ein Anrecht, ich kann sie an einer Hand abzählen. Timoteo Mansilla war in Monterrey aufgewachsen, einer Stadt, die ich kenne, an die ich vor allem eine Erinnerung habe, die Erinnerung an einen einzelnen Regentropfen, der die Luft über einer Wüstenlandschaft, einem Hochtal im Gebirge fern der Stadt (und doch in Stadtnähe, von den Anhöhen konnte man die Häusermeerzungen sehen) auf mich zugeflogen kam, wie in Zeitlupe, langsam wie die Kugel in Borges' Erzählung vom geheimen Wunder. Ich habe überlebt, Bruder; wir haben überlebt.

 

Der beste Bolero der Welt Timoteo hat überlebt. Seine Operation nämlich. Im Unterschied zu dem Kämpfer, dem Ringer, luchador, dem man wegen seiner blendenden körperlichen Verfassung ein langes Leben prophezeite, der aber zwei Tage nach der Operation starb. Timoteo Mansilla hingegen hatte man Erfolgschancen von 40 Prozent gegeben. Das war jetzt sieben Jahre her, und Timoteo erfreute sich guter Gesundheit. Er hob sein rotes T-Shirt über der Brust, zeigte mir die rispenförmige Narbe. Ich zeigte ihm meine, nicht so toll, auch die japanische Chrirurgie ist feiner als die mexikanische, aber immerhin: eine Narbe, Bruder. Nach der Operation übersiedelte Timoteo nach Jalisco, weil hier das Klima besser ist. Grüne, fruchtbare Landschaften, Mais und Getreide, Bäume für Möbel, Maguey für Tequila. Und er lebt, Timoteo erfreut sich des Lebens, weiß die Dinge besser zu schätzen als vorher, vor dem prophezeiten, dem wahrscheinlichen Ende; er schätzt und hütet die kleinen Dinge, vor allem aber seine Frau, ihr Dasein, das Zusammensein mit ihr.

Seine Frau? Ich stellte mir vor, wie er früher an seiner Ehe gezweifelt hatte. Hatte er Kinder? Davon erzählte er nicht, und ich vergaß zu fragen. Alle Männer zweifeln, alle Männer denken manchmal, oft, immer, daß sie eigentlich mit einer anderen zusammensein sollte. Aber, Herzensbruder, jetzt, wo unser Leben schon fortgeschritten ist, haben wir zu der Überzeugung gefunden, daß wir es gut getroffen haben. Wir sind, weil wir noch leben, die Bevorzugten des Lebens.

So oder ähnlich habe ich geredet, ein paar Sätze, mehr nicht. Empfand plötzlich Sehnsucht nach meiner Frau, den Formen ihres Körpers, den Linien der Wangen, der Schenkel (von der Seite her gesehen). Während Timoteo Mansilla mir – oder sich? – versicherte, daß in Guadalajara seine Nase nur selten blute. In Monterrey blutete sie die ganze Zeit. Trug er deshalb rote T-Shirts als Arbeitskleidung, für den Fall, daß sie zu bluten begann, die Nase?

 

Der Nebenmann Hat es in Japan je Schuhputzer gegeben? Ich glaube nicht. Jedenfalls keine öffentlichen Schuhputzer auf den Straßen. In früheren Zeiten war das Schuhwerk für eine solche Arbeit auch nicht recht geeignet: Geta, Holzsandalen auf kleinen Stelzen, die die Frauen immer noch zum Kimono tragen. Hübsche, mit Blumenmustern verzierte Riemchen, aber nichts, das man blankbolieren könnte.

Auch keine Feste in Japan? Früher schon. Liest man das Kopfkissenbuch jener Hofdame, spürt man eine regelrechte Festlichkeitsbegierde, sie macht einen Gutteil naiver Lebensfreude aus. Und die matsuri heute: ja, fleißige Organisation, Verkaufsstände, Imbisse verzehren, dazu kommen die Massen. Es ist nicht das mehr oder minder spontane Feiern. Wie in Mexiko. So ist auch die Buchmesse in Guadalajara ein großes Fest, wo sich die Schüler und Studenten scheinbar mit Freuden zwischen gewöhnlichen Besuchern und freiwilligen Helfern in roten T-Shirts tummeln. So hat man es mir in Jamay gesagt, einem kleinen Städtchen anderthalb Autostunden von Guadalajara entfernt, am Gebirgsrand über einer weitem Wasserfläche gelegen, dem Chapala-See. „Wir nützen die Gelegenheiten zum Feiern“, sagt der Schulleiter, und ein paar Schüler nicken.

 

Casa del Indio Fernández Und die Feste in Coyoacán, im Haus des Indio Fernández. Von keinem japanischen Schriftsteller oder Maler oder Filmregisseur habe ich dergleichen gehört, nicht einmal von den Pop-Musikern. Emilio Fernández, genannt el Indio, war Revolutionssoldat, floh aus dem Gefängnis nach Kalifornien, war als Maurer in der Nähe der Filmstudios von Hollywood tätig, begegnete später in Mexiko Sergei Eisenstein, während dieser seinen Film ¡Viva México! drehte, und betätigte sich schließlich mit großem Erfolg als Schauspieler und Filmregisseur. José Juan de Avila, Journalist bei El Universal und verkappter Schriftsteller, bewohnt zwei oder drei Zimmer (genau läßt sich das nicht sagen) im Haus des Indio; er hat mir einige dieser Geschichten erzählt.

 

Tumba del Indio Fernández Dieses Haus ist eigentlich eine von Mauern umgebene Festung, aus mehreren Bauten Gärten Teichen bestehend, mit den unregelmäßigen Stockwerken eines kleinen Schlosses in der Mitte. Mauern Wege Terrassen aus Lavagestein und entsprechend dunkel, aber von einer leuchtenden Natur – Jacarandá-Bäume, Bougainvillehecken... – umringt und erhellt. Der Indio war eigentlich arm, behauptet José Juan. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein armer Mann eine solche Anlage errichten konnte, schon gar nicht im Alleingang, er muß viele Helfer gehabt haben. Nach dem Tod des Indios wohnte seine Tochter hier, die Schriftstellerin Adela Fernández y Fernández; es heißt, sie habe José Juan zwei oder drei Zimmer überlassen, weil sie ihn sympathisch fand (le cayó bien). Mir gegenüber schwärmt José Juan von Adelas Kochkünsten. Die Ironie des Schicksals will es, daß sie vor zwei Jahren an den Folgen einer Darmverstopfung starb. Jetzt ruht sie an der Seite ihres Vater in einer Ecke des Gartens, den man von hier oben, durch ein Balkonfenster der ehemaligen Bar, wo José Juan seine Bücher gestapelt hat, sehen kann. Im Tabernakel des Grabmals steht eine volle Whiskyflasche als Opfergabe, in der Wiese und an den Teichen indianische Skulpturen verschiedener Herkunft.

 

Calavera Catrina In einem Schuppen hat ein junger Bildhauer sein Atelier eingerichtet, und gegenüber, auf der anderen Seite des Hauptplatzes, sind vermietbare Wohnungen geschaffen worden. José Juan führt mich zur hinteren Wand des Ateliers und hebt eine Plastikplane hoch. Was erscheint, ist ein farbiges, gut erhaltenes Mosaik, nackte Frauen, eine Badeszene oder etwas in dieser Art. Diego Rivera soll es geschaffen haben, der wenige Häuserblocks entfernt wohnte, zusammen mit Frida Kahlo, die José Juan zufolge nicht zu den Festen zugelassen war, die der Indio hier mit seinen Freunden und Frauen feierte. Im Hauptgebäude der Festung hängt ein Ölbild, das die nackte Frida zeigt: stümperhaftes Machwerk eines jungen kubanischen Künstlers, der eine Zeitlang hier wohnen durfte; viele Besucher halten es für ein Selbstporträt der leidgeplagten Malerin. Im selben Salon stehen mehrere Calaveras in Menschengröße, bunt gekleidete und geschminkte Totengerippe, die alljährlich für das Totenfest Anfang November von Leuten aus der Nachbarschaft hergestellt werden und jetzt, im Dezember, nicht mehr recht wissen, was sie miteinander anfangen sollen. Später, ein oder zwei Stockwerke höher, stehen wir an der Theke – eher: Durchreiche – der Bar und reden über Roberto Bolaño, der vor vierzig Jahren im Café Havanna in der Calle Bucareli (unweit von meinem Hotel) saß und Gedichte schrieb oder mit Freunden redete, platicando (wie wir jetzt) über... sagen wir: Allen Ginsberg. José Juan geht zu einem Bücherstapel und zieht mit sicherer Hand ein Buch heraus: Muchachos desnudos bajo el arcoiris de fuego, eine Anthologie infrarealistischer Dichter, im Jahr 1979 herausgegeben von  Roberto Bolaño. Nackte Jungs unterm Feuerregenbogen... Titel hatten die damals!

 

Frida Kahlo, unversehrt Von Coyoacán bin ich mit der U-Bahn in die Colonia Cuauhtémoc zurückgefahren. Das war die bessere, weitaus billigere und raschere Fortbewegungsweise. Ich weiß nicht, warum mir in Mexiko alle empfehlen, ein Taxi zu nehmen. Bei der Hinfahrt hatte ich eines von der Firma genommen, die einen Standplatz vor meinem Hotel unterhält. Höchste Sicherheitsstufe vermutlich, man unterscheidet in Mexiko zuerst einmal zwischen sicheren und unsicheren Taxis. Da saß ein dürres weißhaariges Männchen am Steuer, ähnlich dem, das mir in Guadalajara die Qualität des besten Boleros der Welt versichert hatte.  José Juan hatte mir auf einem Zettel die genaue Adresse der Casa del Indio Fernández aufgeschrieben, die dort in der Umgebung jedermann kenne. Auf dem Rücksitz genoß ich eine Zeitlang die Aussicht über die breiten Avenidas, doch dann wurde ich langsam stutzig, weil das Männchen ein ums andere Mal das auf dem Beifahrersitz liegende Blatt Papier zwischen die Finger der rechten Hand nahm und aufmerksam studierte, als handelte es sich um eine Geheimschrift, eine Offenbarung, ein Aleph wie in Borges' Erzählung. In einer Halterung auf dem Armaturenbrett steckte ein Handy, von dem er mit unruhigen Blicken die Position seines Wagens und den vorgezeichneten Weg nach Coyoacán abzulesen versuchte. Aber das Positionierungssystem versagte seinen Dienst, verwirrte sich, verwirrte den Fahrer, der vielleicht bloß nicht imstande war, es richtig zu interpretieren.

 

Zielort Ich hätte eine stille Fahrt vorgezogen, aber jetzt schien es mir notwendig, den Mann darauf hinzuweisen, daß er mich an einen der bekanntesten Orte der Stadt zu bringen habe, nämlich Coyoacán, weiß doch jedes Kind (irgendwer hatte mir gesagt, zuerst müsse man lange auf der Avenida Independencia fahren).

„Vielleicht gibt es noch ein anderes Coyoacán?“, fragte das Männchen verunsichert.
„Möglich, aber da will ich nicht hin.“

Vielleicht hatte er in dem Zettel tatsächlich ein Aleph erblickt, das ihm in der Mulde des Beifahrersitzes sämtliche Coyoacáns dieser Erde zeigte, was für den Betrachter wunderbar sein mochte, mich aber nicht an das ersehnte Ziel brachte, sondern eher davon entfernen würde. Recht bedacht war es unwahrscheinlich, daß es auf dieser Erde einen zweiten Ort des nämlichen Namens gab. Wo außer in Mexiko-Stadt und Umgebung spricht man Náhuatl?

Zeitweise kehrten die Informationen des GPS zurück – behauptete jedenfalls das Männchen und bog wieder einmal rechtwinkelig ab, um einen ganz anderen Weg zu nehmen. So ging es eine Weile hin und her in der riesigen Stadt Mexiko, wie auf einem Boot, das willenlos im Meer treibt, den Winden ausgeliefert wie wir den Einflüsterungen dieses intelligenten Systems. Irgendwann fuhr er an den Straßenrand, um jemanden nach dem Weg zu fragen, wie ich vermutete. Doch der Lenker brauchte nur eine Verschnaufpause, ehe er sich wieder der schwierigen Aufgabe der Informationsentschlüsselung widmen konnte.

Wir waren längst über eine Stunde unterwegs (der Preis war im vorhinein festgelegt), als ich in der Ferne das unverwechselbare Hauptgebäude der Ciudad Universitaria an seinen Wandgemälden erkannte. Eigentlich mußten wir doch schon in Coyoacán sein?

„Ja, ich glaube“, sagte das Männchen. Am Ende der Fahrt wußte er sogar Bescheid, las ein paar Namen von Straßenschildern ab, allmählich erinnerte er sich an das echte Coyoacán, vielleicht war er hier sogar aufgewachsen. Die fremde Intelligenz, der er sich wie jedermann auslieferte, hatte nicht nur seine Wahrnehmung, sondern auch sein Denken und Erinnern behindert.

Ich gebe zu, daß gerade in einer Stadt wie Mexiko bestimmte Dienstleistungen, die nur das Internet bieten kann, nützlich sind. So zum Beispiel, wenn man jederzeit von jedem Ort ein Taxiunternehmen anrufen kann, das seinen Stammkunden in Sekundenschnelle Auskunft darüber gibt, wo sich das nächste Taxi befindet und zu welchem Zeitpunkt es an dem gewünschten Ort eintreffen könne. Trotzdem bereitet mir die Erfahrung mit dem Taxi-Aleph ein mulmiges Gefühl. Eigentlich können wir künftig, in Mexiko genauso wie in Wien oder Tokyo, auf Taxilenkerprüfungen verzichten. Das Wissen der Straßennamen, das Erinnern der Straßenansichten ist überflüssig geworden. Es geht ausschließlich darum, das intelligente System bedienen zu können, und dazu braucht man nicht viele Fertigkeiten.

Vor dem Haus des Indio Fernández, also vor der hohen Mauer aus schwärzlichen Basaltsteinen, wußte ich erst recht nicht, was tun. Ich drückte einen in einer Nische wie verloren wirkenden Klingelknopf und bekam erwartungsgemäß keine Antwort. Wenige Augenblicke später kam mir auf der schattigen Straße José Juan entgegen, ein Plastikfaß mit Trinkwasser geschultert. Ehe er mich begrüßte, plauderte er ein paar Worte mit den beiden indias, die auf einem hölzernen Wägelchen Tücher und Teppiche zum Verkauf liegen hatten. Unscheinbare, wiewohl bunt gekleidete Gestalten, ich hatte sie gar nicht bemerkt.

 

Augen auf Basalt Auf dem Ciudadela-Markt, wo Kunsthandwerk, Kleider und Tücher verkauft werden, unterhalte ich mich lange mit dem Verkäufer in einem kleinen, zellenartigen Raum, wo aus dem vasistas ein wäßeriges Licht auf die gestampfte Erde fällt. Der junge Mann, ruhig und selbstsicher wirkend, betont, er sei kein Indio, doch offensichtlich schätzt er ihre Kultur. Sein Chef ist ein Eingeborener, er hat viele der ausgestellten Werke – Schmuck und Skulpturen – geschaffen, und vor noch nicht langer Zeit hat auch sein Gehilfe begonnen, selbst welche zu machen (eines der Objekte zeigt er mir mit verhaltenem Stolz). Die niedrigen, kaktusartigen, blaugrünen Gewächse am Eingang ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich. „Verbotene Pflanzen“, erklärt er, die seien halluzinogen. „Irgendwoher müssen die Künstler ja ihre Inspiration nehmen.“ Die Indios würden seit jeher solche Substanzen einnehmen.

Wir haben unsere Namen nicht ausgetauscht, und beim Weggehen habe ich das Gefühl, das sei recht so.
„Bis nächstes Jahr, oder irgendwann...“

 

Namenloser Künstler Bei einer Lesung wurde ich gefragt, was mein Eindruck von Mexiko sei. In jenem Augenblick hielt ich mich erst seit wenige Stunden in der Stadt auf, so daß ich allenfalls um den Brei herumreden konnte. Dann fiel mir doch noch eine Antwort ein. Mein erster Eindruck, kaum daß ich mich am Morgen zum Frühstück hingesetzt und aus dem Fenster geblickt hatte: Das Gebäude da draußen ist schief. Eben diese Schiefheit war mein anhaltendes, bis zuletzt nicht vergehendes Raumgefühl während meiner beiden Aufenthalte in Mexiko-Stadt Mitte der neunziger Jahrf. Ich habe einige Zeit damit verbracht, mich nach den Gründen zu fragen, und auch darüber geschrieben. Schiefheit ist das Hauptmotiv in der damals entstandenen Erzählung Babylon Babel. Die Stadt ist ins Wasser und auf Sand gebaut, sie versinkt und zieht sich gleichzeitig empor, verhindert so den selbstverschuldeten Untergang. Die Gebäude neigen sich, die Dinge gehen zur Neige, bis jemand kommt, der... Aber es kommt kein besserer Gott.

Der zweite, geduldigere Blick belehrte mich eines Besseren. Die Schiefheit, die ich an dem ziemlich neuen Hochhaus am Paseo de la Reforma ausgemacht hatte, war nur das im 21. Jahrhundert weltweit beliebte Täuschungsspiel irgendeines (vermutlich „berühmten“) Architekten. Auch Mexiko ist also in den letzten zwanzig Jahren begradigt worden? Ja, aber... Vergiß nicht, daß du damals, vor zwanzig Jahren, nur einen Häuserblock von der Kathedrale entfernt gewohnt hast und dich in den vormodernen Gegende rund um den Zócalo herumgetrieben hast. Selten am Paseo de la Reforma, wo die Massen heute in abgeschirmte, glanzvolle Einkaufszentren strömen.

 

Schief? Und die Erdbeben? Bei meinem ersten Aufenthalt lag das große Beben von 1985 keine zehn Jahre zurück. Aber die Schiefheit Mexikos ist nicht die Wirkung plötzlicher Ereignisse, sondern eines langsamen Neigens und Sinkens. Ich denke an Tokyo, an die Geradlinigkeit, die breiten Straßen von Ginza, Nihonbashi, der Gegend um den Hauptbahnhof; an die vertikalen Linien der zahllosen Türme, die künstlichen Inseln, Formen der Erneuerung nach erlittener oder gewollter Auslöschung... Nein. Auch Tokyo besteht wenigstens zur Hälfte aus verwinkelten Gassen, klapperigen Hütten, rostigen Blechwänden, schiefen Strommasten. Trotzdem herrscht die Schiefheit dort nicht, dieses Sinken und Schweben, in dem man die Dinge beläßt – ein Stein auf oder neben dem anderen –, bis sie eines Tages dann doch, von niemand bemerkt, verschwunden sein werden.

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