Tokyo Fragmente

Tokyo Fragmente 9

 

Die Aufmerksamkeit ist anders gerichtet, anders disponiert, wenn man mit einem Kind unterwegs ist. Der Bewegungsrhythmus ein ganz anderer… Das Gehen-Photographieren-Lesen kannst du vergessen. Am besten, du folgst gleich dem Rhythmus des Kindes, so wirst du neue, ungeahnte Entdeckungen machen.

Die Aufmerksamkeit ist noch einmal anders, wenn das Kind krank wird. In diesem Fall läßt du es nicht aus den Augen, beobachtest seinen wechselnden Gesichtsausdruck, seine Körperreaktionen, greifst ihm an die Stirn, an den Hals; hältst das Plasticksackerl bereit, nimmst es hoch, rennst mit ihm durch den Gang des vollbesetzten Waggons, reißt die Klotür auf: gerade noch rechtzeitig, die beige Soße ergießt sich in die chromblitzende Muschel. Danach geht es dem Kind besser, vorläufig besser, dein Blick wendet sich zur Fensterluke, aber dahinter ist nicht viel mehr als Hell-Dunkel, ein paar Schemen, Girlanden von Teepflanzungen, Naturgeometrie, distanzierte Welt.

“Was hat Ihre Tochter denn?” fragt der Mann vor mir, der eigens den Kopf umgewandt hat. Selten wird man im Shinkansen auf diese Art angesprochen. Ist der Mann Arzt? Seine Stimme klingt ehrlich besorgt.

“Ihr ist schlecht”, antworte ich und frage mich immer noch, ob sie wie üblich das Gerumpel und Geschaukel nicht verträgt oder ob sie ernstlich krank ist. Gekotzt hat sie an diesem Morgen das erste Mal, nachdem wir aus dem Taxi gestiegen waren. Oft genügen zehn Minuten in so einem Gefährt, damit sie sich elend fühlt. Den Magen erleichtern, dann ist es überstanden, eine Sache von wenigen Minuten. Aber den schwungvollen luftigen Shinkansen auf schnurgerader Strecke hat sie bisher immer vertragen.

2. Abendfahrt

Unsere Unterkunft hat diesmal fast etwas Herrschaftliches, wenigstens in den Augen Mayukos, mit den zwei Stockwerken, dem Duplex, der großzügigen Treppe und dem Holzgeländer oben wirkt es fast wie ein Häuschen. Kaum angekommen, ergreift sie Maßnahmen, um den Ort zu gestalten, hier kommen die Schuhe hin, hier die Kleider, dort ist der Platz zum Spielen… Das Unwohlsein, denke ich, ist überstanden, und ich packe die paar Dinge aus, die wir unten bei Seijoishi gekauft haben, einem Importwarengeschäft. Französischer Käse – ein Fehler, wie sich herausstellen wird, aber Mayuko liebt diesen Käse, ich liebe ihn auch, Selles-sur-Cher, ein Fehler, den ich schon einmal gemacht habe, als ich… Davon (vielleicht) später. Das Übelkeitsgefühl packte sie. von neuem, auch Schwindel, Mayuko stöhnte, rang nach Luft, wir gingen ins Freie. Wenn sie so stöhnt, eher leise, auf eine bestimmte Art, die zu beschreiben mir schwerfällt, dann weiß ich, daß etwas geschehen muß.

Welches Krankenhaus? Einfach das nächste. Aber wo ist es, und wie kommen wir hin? Mit der Rettung? So schlimm ist es doch nicht…

Ein Nachbar suchte das Touritsu-Spital in Hiroo heraus, das ist nicht weit, kann man zu Fuß gehen? Ja, vielleicht dreißig Minuten, aber wenn man den Weg nicht kennt, bei den verwinkelten Gassen… Mayuko ist von der Taxifahrt heute morgen traumatisiert. Auf keinen Fall mit dem Taxi! Also gehen wir los, Mayuko, ich trage dich. Aber 24 Kilo bis Hiroo, das werde ich nicht schaffen. Am Ende haben wir doch ein Taxi genommen, zum Glück ein schickes, großes, das weniger holpert. Zum Glück ist noch nicht Sommer, da dürfen wir die Fenster öffnen, anstelle der Klimaanlage. Mayuko hält ihr Gesicht vor die Öffnung, die Stadt zieht an ihr vorbei, ich sitze starr neben meiner Tochter, ein neues Plastiksackerl bereit.

3. Nächtlicher Bambus

Alles gut gegangen. Mayuko wankt ein wenig, als wir vor dem Haupteingang stehen. Immerhin hat der Taxilenker keine Miene verzogen und uns einsteigen lassen. In Paris, vor zwanzig Jahren, als ich mich auf dem Gehsteig krümmte, hat mich kein einziges Taxi aufgenommen, die hatten Angst um ihre schönen Bezüge, die gute Luft in der edlen Kiste. Und jetzt gehen wir zur Notaufnahme, dieses Spital hat eine große Kinderabteilung, die wenigen Patienten jetzt am Abend sind ausschließlich Kinder in Begleitung ihrer Eltern, genau wie wir beide, Mayuko und ich. Meine Krankenversicherungskarte habe ich dabei, nicht aber die meiner Tochter, daran hatte ich nicht gedacht. Nun ja, sie ist ohnehin durch mich versichert, oder durch meinen Arbeitgeber, meine Arbeitskraft, falls ich sowas besitze, jedenfalls schreibt sich ein kleines Mädchen nicht selbst bei einer Versicherungsanstalt ein. Zumindest brauchen die am Schalter ihren Namen, und den kann ich ihnen nicht geben. Richtig, denn wie ich meine Tochter rufe, sagt noch nichts, jedenfalls nicht genug über den bürgerlichen Namen, unter dem der Staat sie führt. Ihren Familiennamen kann ich schreiben, nicht aber den Vornamen (shitanonamae , den unteren Namen), und für “Mayuko” gibt es mindestens fünf Schreibweisen und ebensoviele Bedeutungen.

Ich kann erklären, die Bedeutung andeuten: schöne Wahrheit, wahre Schönheit, etwas in der Art, wie kalos k’agathos bei den alten Griechen, das ist doch was – aber nein, mit den korrekten chinesischen Zeichen schreiben kann ich “Mayuko” nicht, und sie selbst kann es auch nicht, “klar”, höre ich einen der Beamten, “erstes Schuljahr, wie soll sie es da können.” Am Ende, später, morgen, werden wir das Problem lösen, meine Frau wird ein Fax mit der Kopie eines Krankenversicherungszettels schicken, das wird genügen, aber es wird einer ganzen Reihe von Zweifeln, Nachfragen, Stockungen bedürfen, bis die mit der Angelegenheit befaßten Personen es hinnehmen, daß man eine Kopie aus Hiroshima schicken kann, um die Identität einer Person, an der im übrigen ohnehin niemand zweifelt, sicherzustellen. Ich bin an solche Abläufe gewöhnt, beobachte sie und kommentiere sie (spärlich) mit einem verständnisvollen Lächeln, aber im Grunde meines Herzens schäme ich mich, daß ich immer noch nicht imstande bin, den Vornamen meiner Tochter korrekt zu schreiben, obwohl ich ihn doch geübt habe, wenigstens hundertmal geschrieben, allerdings vor sieben Jahren, und dann noch einmal vor vier oder fünf, denn gewöhnlich komme ich nicht in die Lage, den Namen meiner Tochter schreiben zu müssen, der auf den Kleidern und Schulsachen, die sie in der Schule braucht, in Hiragana steht, nicht mit Kanji. Hiragana, das könnte ich auch, aber wie gesagt, das genügt nicht, da bleiben den armen Beamten Zweifel, schließlich gibt es mindestens fünf Möglichkeiten, den Namen zu schreiben.

4. Herzstück

Der Arzt, der sie untersucht, hat ein dunkelviolettes Ohr und wirkt erfahren, obwohl er noch nicht alt ist. “Ein Virus”, sagt er, “sie bekommt eine Infusion, danach wird sie müde, in zwei Stunden, wenn alles gutgeht, können Sie sie nach Hause mitnehmen.” Nach Hause… Dreimal steckt er die Nadel in Mayukos Handrücken, bis sie endlich eine Vene erreicht hat.

“Ich habe mir gesagt, es gibt Schlimmeres”, wird sie später sagen, um zu erklären, wie sie es geschafft hat, die Tortur ohne Tränen auszuhalten. Der Satz könnte von mir sein, die Methode hat sie mir abgeluchst.

Während sie schläft, schaue ich mich um, gehe durch die zumeist leeren Gänge, kaufe Tee und Sandwiches im Konbini, das sich im Untergeschoß versteckt. Sitze wieder da, so ein Krankenhaus nach der Öffnungszeit bietet wenig Anlaß zu Inspektionen. Schaue über den liegenden Körper meiner Tochter hinweg: der Vorhang zum eigentlichen Behandlungsraum ist nicht zugezogen, ein verstörtes Kind hockt zwischen ratlosen Eltern, später wird ein nacktes, untergewichtiges, schreiendes Baby hereingetragen, sein Körper rot angelaufen. Ruhig und konzentriert verrichtet der Arzt mit dem violetten Ohr an der kleinen Kreatur seine Arbeit. Das Elend der Welt ist nicht auszurotten, die ärztliche Tätigkeit ein Sisyphoskampf. Obwohl in diesem Land niemand mehr sterben will… Tagsüber schlurfen Hundertjährige durch die blitzblanken Gänge.

Irgendwann wird der Trennvorhang mit einem Ruck zugezogen. Ich habe zuviel geschaut, mein Schauen ist auffällig geworden. Ich greife der schlafenden Mayuko an den Hals, berühre die Haut über dem Schlüsselbein. Der Körper ist so heiß, daß ich eine Krankenschwester verständigen muß. Temperatur 39, 5… Also doch ein Virus. Mayuko wird die nächsten zwei Tage im Krankenhaus verbringen, in einem Einzelzimmer, weil angeblich Ansteckungsgefahr besteht. Als sie in ihr Bett gehievt wird, schlägt sie die Augen auf und gibt Antwort, ich bin aber nicht sicher, daß sie behält, was ich ihr sage. Auf die erste der vier kopierten Seiten mit Anweisungen an die Besucher schreibe ich ihr einen kurzen Brief, damit sie nach dem Aufwachen weiß, was geschehen ist und daß ich bald wieder bei ihr sein werde. Gut, daß sie schon lesen kann. Große, deutlich geschriebene Druckbuchstaben. Herzchen und Blume, das Übliche.

5. Enoteca in Hiroo

Auch Hiroo scheint ein lebendiges Viertel zu sein, hat man einmal, vom Toritsu-Krankenhaus kommend, die breite Häuserschlucht mit den hohen Wohnblocks rechts und links überwunden, die mich, wie letztes Jahr im Winter in der Hafengegend, an europäische Ostblockstädte erinnert. Aber schon die kleinen Geschäfte in den Untergeschoßen der Blocks sind ulkig, ein Hundeschönheitssalon, ein Biokonbini, eine Elviskneipe, vor der tatsächlich ein riesiger Straßenkreuzer steht, dem ein wahrhaftiger Elvisklon entsteigt. Bei der U-Bahnstation häufen sich Kneipen, Cafés und Geschäfte, Bäckereien mit europäischen Namen, eine Enoteca mit Stehbar, Tagesempfehlung Ribera del Duero.

Danach ein Park, der sich einen der zahllosen Stadthügel hinaufzieht, mit gestalteter, simulierter Landschaft, kultivierte Wildnis im Herzen der Stadt, ein Bach mit kleinen Wasserfällen und buschigen Ufern, der in zwei Teiche mündet, die Seen darstellen wollen. Nach einem kurzen Anstieg habe ich den Park hinter mir, stoße auf ein anderes Krankenhaus, Vorkriegsarchitektur (selten), blühende Kirschbäume an der Ausfahrt, hinter der Umfriedung. Ich beschließe, zu Fuß nach Azabu zu gehen, und orientiere mich an den Türmen, den hohen Gebäuden, erstmal in Richtung Mushroom-Building, von dort hinunter in ein neues Tal, und wieder hinauf zum Mori-Building in den Hügeln von Roppongi. Ziemlich rasches Tempo, keine Zeit für Notizen, kurz entschlossene Fotos, trotzdem Staunen, Neues, Ungesehenes. Spazieren eilen, mit einer Art Gier, Anblicksgier… Neue Fortbewegungsform, warum nicht. Alles ungesehen bis(hier)her.

6. Wildnis im Herzen

Auf dem Damm in Yotsuya, neben der Universität, wo es, auf der anderen Seite, tief hinuntergeht zu den Bahngeleisen und Tennisplätzen, die ersten Kirschblüten, umschwärmt von – nicht Bienen, nicht von menschlichen Betrachtern, sondern Photographierenden, Leuten mit vor die Augen gehaltenen Handys, Posierenden, Pärchen. Und in der Bibliothek kompliziert sich von neuem das Leben, die Agenten der Organisation komplizieren es, drei an der Zahl, einer genügt nicht, ein Türsteher, Rauswerfer vor dem Hort der Schrift. Die Kontrolldame neben der Absperrung, eine gepflegte Frau mit unaufdringlichem Duft (passend zur Kirschblüte), sieht mich zweifelnd an und nimmt mit gespreizten Fingern das Kärtchen entgegen, das mich als Angehörigen einer anderen Universität ausweisen soll: “Wenn Sie bitte einen Augenblick warten wollen.”

Ich beobachte, wie sie um den Schaltertisch herumgeht, dann jenseits der Absperrung zu einem anderen Schalter, wo sie sich mit einer anderen Dame bespricht, die meine Identitätskarte in die Hand nimmt und den Weg, den die Empfangsdame gegangen ist, in die andere Richtung zurücklegt, um in der bibliothekarischen Unübersichtlichkeit zu verschwinden. Neuerlich werde ich, von der zurückgekehrten Gutbürgerlichen, zu warten gebeten: eine amerikanische Gepflogenheit, diese ständigen Entschuldigungen und Bedankungen, weil man ein bißchen warten muß: selbst dann, wenn es sich nur um Sekunden handelt oderman das Warten als Geschenk von Gott Chronos empfindet, kommt dieses Thankyouforwaiting pflichteifrig hervorgeschossen. Danke, daß Sie mich warten lassen, wirklich nett von Ihnen. Also warte ich und schaue, aber in der Bibliothek gibt es nichts zu sehen, jedenfalls nicht aus dieser Entfernung, an so einem Ort will mein Blick über Buchrücken streifen oder über die fein behaarten Nacken von über aufgeschlagene Bücher gebeugten Studentinnen. Eine Bibliothek ist ja ein höchst erotischer Ort…

Nach einer Weile kommt ein dritter Bibliotheksangestellter zur Absperrung, diesmal männlichen Geschlechts, er hält meine Plastikkarte wie einen Talisman vor sich und übergibt ihn mir, wobei die freie Hand die haltende Hand unterstützt. Sein Bescheid ist kurz und bündig, und der Mann läßt nicht mit sich reden: Ich darf hier nicht hinein. Es sei denn… Er zählt mir eine Liste von Regeln auf, erwähnt Ansuchen, Formulare und Bestätigungsschreiben, zu deren Erledigung Monate erforderlich wären. Ich winke ab; ich werde keinerlei Ansuchen stellen. Danke für Ihre Bemühung!

7. Krankenhausterrasse, vierter Stock. Das kranke Mädchen hinter dem Fenster

Im Krankenhaus, wenn ich die Krankenwache für dreißig, vierzig Minuten unterbreche, sitze ich lieber mit Dosenkaffee und grüner Teeschokolade auf einer der Holzbänke der pflanzenbewachsenen Terrasse der Kinderabteilung, lieber als im Starbucks, das ich zwei Stockwerke tiefer entdeckt habe, beim Small-Size-Kaffee, der zu big ist für meinen Geschmack. Holzquadrate, schon etwas brüchig, morsch, bilden den Boden, und wenn ich den Kopf hebe, sehe ich auf das Fenster, hinter dem meine Tochter liegt. Jetzt gerade erkenne ich die Umrisse der Krankenschwester aus Kurose – nein, nicht aus Kurose, sondern aus Tokyo, aber in Kurose (in der Nähe von Kure) hat sie an der Hochschule studiert, wo ich ein paar Mal Deutsch unterrichtet habe, oder was man so nennt, unterrichten: habe mich ein bißchen, in mehreren Sprachen, mit den angehenden Krankenschwestern, Altenpflegern, Physiotherapeuten dort unterhalten.

Kleine Böen von Zeit zu Zeit. Spatzen, die auf Blumenkistchen hocken. Frühlingsidylle, immer wieder unterbrochen von Säuglingsgeschrei. Duft der Büsche, aus denen weiße Arme hervorgreifen – ich kenne den Namen der Pflanze nicht und liebe ihren Duft, seit ich ein Kindergartenkind war. Über die Namenlosigkeit habe ich mit Mayuko gesprochen, man erträgt sie nicht leicht, unweigerlich wird man schöpferisch, jedenfalls Kinder, sie werden schöpferisch, sobald etwas fehlt, und stellen es her. “Schneeflöckchen”, hat Mayuko vorgeschlagen. Warum nicht… Schneeflöckchen und Goldregen, so kommen wir tief in den Frühling hinein. Von wegen Kirschblüten, diese Helden der Unbeständigkeit.

8. Hier ist nichts kaputt (Hiroo)

Ich senke den Kopf, ein paar Seiten darf ich lesen, in letzter Zeit muß ich mir jede Seite erkämpfen. Tokyo sebun rozu, der Titel ist nichts anderes als eine Japanisierung von Tokyo Seven Roses; in keinem Buch habe ich bisher so viele Einzelheiten über Tokyo erfahren, durch keines so sehr ein Gefühl für die Topographie der Stadt bekommen. Es ist ein kaputtes Tokyo, noch nicht ganz kaputt, die Zerstörung ist gerade in Gang, ein Viertel liegt schon in Schutt und Asche, während das andere noch zur Hälfte steht; ein Teil der Familie wird von den Bomben ausgelöscht, der andere Teil überlebt. Hiroshima, Nagasaki, die Atombombe – entsetzlich, der Anfang vom Ende der Menschheit… Aber fern von Japan vergißt man, daß die Zerstörungen durch amerikanische Bomben in anderen Städten viel größer waren, Osaka, Nagoya, Tokyo, alle mehr oder weniger dem Erdboden gleichgemacht, auch deshalb die einförmige Hochhaussuppe, die man, solange man sich nicht auf Einzelheiten einläßt, hier vor Augen hat. Im Buch ist die Rede von der Bürgerwehr von Meguro, drei vier Kilometer von Hiroo entfernt, zu Fuß erreichbar, zwei U-Bahnstationen. Die Tenno-Parole lautete 1945, das Volk solle mit der Armee zusammen siegen oder untergehen. Dumme, bluternste Flausen, an die viele glaubten. Andere hingegen, wahrscheinlich die Mehrheit, unterliefen die Befehle und Verordnungen, dachten nur ans eigene Überleben, an die nächsten Angehörigen, wie der Kamikazeflieger Miyabe in dem jüngst erschienenen Kriegsfilm Eien no Zero, der siebzig Jahre danach die Herzen der Nation erweicht. Die Bürgerwehr von Meguro, erfahre ich aus Tokyo Sebun Rozu , bestand aus Frauen, die mit Polizisten verheiratet waren, und sie war in zwei Lager gespalten, ein pro- und ein antikommunistisches.

Stille… Ich glaube, jetzt hat schon lange kein Baby mehr geschrien. Keine Stille, sondern Windpfeifen, manchmal. Und das Großstadtrauschen, der Grundtonteppich, der zur Idylle gehört. Das Krankenhaus als Insel im Meer. Windstille. Dann ein regelmäßiges Geräusch, das ich zuerst nicht bestimmen kann. Ein Zischeln, ja… sanftes Klatschen, Tätscheln… Und jetzt das Bild dazu: eine Mutter klopft ihrem vielleicht zweijährigen Kind, das sie vor der Brust trägt, auf die Windel.

9. Draußen, später

Am Kopfende von Mayukos Bett liegt der Zettel mit den paar Worten, die ich ihr hinterlassen hatte, neben Wuffi, ihrem Kuschelhund. In der Nacht hatte sie zeitweise hohes Fieber und Alpträume, ich glaube, zum ersten Mal in ihrem Leben. Die Nachtschwester kam, tröstete sie. Danach las sie mein Briefchen, schaute die Herzchen an, schlief wieder ein. Ihr Zustand ist jetzt besser, aber sie wirkt erschöpft. “Papa, erzähl mir etwas von früher.” Und… gut, was soll ich erzählen, von den letzten Zugpferden im Dorf, von der Kapelle, die Maria Theresia nach einem Kutschenunfall bauen ließ, von den Spaziergängen auf der noch nicht eröffneten Autobahn, von den Pilzen im Wald. Dann wieder, die Zeit ist lang, lese ich ihr ein paar Seiten von Mio, mein Mio vor, endlich haben wir einmal Gelegenheit, mit dieser Geschichte bis zum Ende zu kommen. Mayuko wundert sich über den Extremismus der Erzählung: wenn etwas Wichtiges passiert oder vorkommt, wird es mit Superlativen beschrieben. Der Arzt tritt ins Zimmer, derselbe wie gestern abend, der mit dem violetten Ohr: Alles in Ordnung, heute muß sie noch bleiben, übermorgen, vielleicht sogar morgen, darf sie nach Hause. Nach Hause? “Warum hat der Doktor ein violettes Ohr?” fragt Mayuko, nachdem wir zwei Seiten weitergelesen haben.

10. Segafredo-Café

Das Lokal mit Segafredo-Kaffee und Segafredo-Einrichtung an der Ecke unweit der U-Bahnstation, kurz vor dem Tor zum Arisuga-Park. Hier und in anderen Cafés in der Nähe sitzen viele Leute draußen, nicht wie in Italien, eher wie in Paris, links und rechts vom Rundtischchen, das Gesicht der Straße zugewandt. Zwei heftig plaudernde Italienerinnen; ein Hündchen mit Schleife im Haar, vor ihm ein Aschenbecher mit Wasser; eine Frau beim Lesen von Paris Match . In Japan gibt es keine Draußensitzkultur, in Teehäusern und Tempeln saß (sitzt?) man vor der geöffneten Schiebetür und schaut hinaus. Ich habe mich daran gewöhnt, bin selber froh über die luftgekühlten Räume im Sommer. Unerträglich die Hitze, wer will da draußen sitzen? Und vor dem Sommer die lange Regenzeit, wer will im Regen sitzen? Und wenn der milde Herbst kommt, denkt man nicht mehr an die Möglichkeit des Draußensitzens. Jetzt entdecke ich sie wieder, hier in Hiroo, unter Ausländern, Meinesgleichen. Wie schön, sich von der Luft umwehen zu lassen und das Schauspiel der Vorübergehenden zu genießen. Genügsamkeit dessen was ist, was geht, was vergeht.

Ich habe nach Martini gefragt, junge Frau hinter der Theke wußte, was das ist. Im Segafredo-Café gab es früher welchen, jetzt nicht mehr.
“Ich bin der einzige, der den noch trinkt.”
“Sagen Sie das nicht…”
“Mit mir wird dieses Getränk aus der Welt verschwinden.”
“Na, da bleibt uns ja noch lange Zeit.”

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