Nachts schreiben, um am Tag nicht verloren zu gehen
Mit Arne Rautenberg und seinem neuen Buch "nulluhrnull" meldet sich dieser Tage eine der wichtigen, ausnahmsweise einmal nicht im lyrischen Nabel der Welt Berlin ansässigen Stimmen der zeitgenössischen deutschen Poesie zurück. Der Kieler Lyriker, der neben seinen Bänden für Erwachsene und seinen transdisziplinären Arbeiten im Zusammenwirken von Versen und bildender Kunst schon seit langem auch passioniert und dezidiert für Kinder schreibt und dafür im vergangenen Jahr mit dem erstmals vergebenen Josef-Guggenmos-Preis geehrt wurde, bleibt sich und seinem lyrischen Duktus insofern treu, als dass es diesen eigentlich so gar nicht wirklich gibt: an allererster Stelle scheint immer wieder das Experiment zu stehen, das - mutmaßlich - anfangs noch nicht weiß, wo es enden wird. Das heißt natürlich nicht, dass das rautenbergsche Schreiben ein beliebiges oder richtungsloses wäre, denn im fertigen Text erscheint der poetische Weg denn doch immer wie vorgezeichnet. Nur im literarischen Sinne berechenbar sind seine Gedichte nicht, weder als abgeschlossene Kompositionen in sich selbst noch in ihrer Zusammenstellung für einen Gedichtband.
Folgerichtig gibt es so auch keine Kapiteleinteilung in "nulluhrnull", die Texte und Themen mäandern locker umeinander herum, womit Rautenberg den Band auf seine ganz eigene Weise strukturiert: oft genügt ein einzelnes Motiv als Brücke zum nächsten Text, etwa von dem Gedicht "stichwunde", was in schlicht kreuzgereimter Popsong-Manier über einen fehlgeschlagenen Annäherungsversuch analog zum finalen Bienenstich in den Fuß beim Folgetext "erscheinungen" führt, oder aber die zunächst ironische Verhandlung des Metaphysischen in "und wolken warn mir ungenau" und dem nachfolgenden "wenn ein mensch gestorben ist", welches eher einen ernsten Charakter aufweist: das Verbindende ist hier das Poesiealbumhaft-Emblematische in der Gestaltung. Zu eng darf der Bezug dann auch wieder nicht sein, das rautenbergsche Konzept beruht nicht zuletzt auf einer Formel, die er im Rahmen seiner Liliencron-Dozentur in einem Vortrag an der Christian-Albrechts-Universität seiner Heimatstadt geäußert hat: Zusammenbringen, was nicht zusammen gehört.
Zu dieser poetischen Melange passt die konsequente Kleinschreibung, die grundsätzlich aller Zeichenhaftigkeit einen gleichberechtigten Wert zuweist. Formal bedient sich Arne Rautenberg überall dort, wo es dem jeweiligen Gedicht nutzt. Er kennt keine Berührungsängste mit Metrum und Reim, verwendet wechselnde Strophenstrukturen, die sinnfällig den Text stützen wie in "sieben frauen", wo zunächst von allen in sieben Versen, von Vieren in vier etc. die Rede ist oder im ironisch-selbstbespiegelnden "draiku", das mit dem japanischen Haiku als Teil eines dreistrophigen Gedichtes spielt:
"draiku // als mein buch erschien / schrieb ich dir etwas rein und / gabs auf den Postweg // als exemplar mit / widmung des autors steht es / nun bei amazon // ich frage mich wie / heißt du verräter und ja / soll ich es kaufen?"
Damit nicht genug, widmet sich Rautenberg auch immer wieder dem visuellen Gedicht, etwa in "teeschale", dessen Anordnung tatsächlich an eine solche erinnert, oder weniger banal in "durchsage im zug", wo die Worte wie eine sich an Weg und Ziel orientierenden Girlande über die Seiten bewegen. In "die warzen von lemmy kilmister" schließlich ergeben die Buchstaben ein stilisiertes grimmiges Gesicht und kommen angesichts des Lebenswandels des jüngst hingeschieden Frontmannes der Speedmetalband "Motörhead" zu dem Schluss:
"sex ist das lustigste was du haben kannst / ohne zu lachen"
Das ist nun freilich schon mehr als nur die Lyrisierung des deutschen Herrenwitzes; es passt in die Gesamtschau des Zusammengetragenen, des Zitathaften, welches das Flapsige aufs Trefflichste mit dem Parlando des Erzählerischen und der poetischen Essenz eines sprachlichen Bildes zu verbinden versteht:
"beim anblick eines kuhauges // und plötzlich gibst du dich / am stacheldraht stehend / dem anblick eines kuhauges hin / den mächtigen wimpernschlag / der feuchten dunklen welt / und tausend tote wespen / ziehen im meer deiner erinnerung / mit der strömung der flut hinaus / ins offene was ist die reise die tags / den bäumen die blüten aufsetzt / was ist die gewalt die nachts / dem himmel die sterne einwirft / du spürst dass da mehr ist / so dick und süß kann blut nie sein / doch wenn du deine augen schließt / ist das wie erdbeermarmelade / die vom löffel fällt"
So sind auch die einzelnen Texte von ganz unterschiedlicher Länge, der kürzeste ist der letzte mit gerade einmal zwei Worten: "hauptgewinn // einfallslos", die längsten erstrecken sich über drei Seiten und stehen den inzwischen nur noch selten anzutreffenden Erzählgedicht nahe, in dem tatsächlich zeitlich und personell deutlich abgrenzbare Strukturen auf die Nähe zur Prosa hindeuten. Auch hier verzichtet Rautenberg allerdings auf Großschreibung und Satzzeichen und behält den linksbündigen Standard-Flattersatz der Lyrik bei, und so er- oder behalten die betreffenden Texte schon rein optisch ihren Gedichtcharakter. Die syntaktische Aufbereitung, die Variationsbreite der Bildsprache und die Rhythmisierung sind allerdings in diesen Langgedichten je nach ihrem Inhalt recht unterschiedlich. Vor allem auch bei Live-Lesungen dürften sie die größte Intensität erzeugen und mit den pointierteren, kürzeren Texten eine reizvolle Mischung eingehen.
Wiederkehrende Motive in Arne Rautenbergs Lyrik sind zum einen das Meer, das in vielen Variationen verarbeitet wird, zum anderen der Mensch als leibliches und metaphysisches Wesen im Allgemeinen, die Dichternatur und das vermeintlich eigene Ich im Besonderen. Rautenberg, der in seinen theoretischen Texten zur Lyrik mit so schönen Begrifflichkeiten wie "Verführung statt Belehrung" jongliert oder Poesie als "berauschendes Wildkraut" klassifiziert, als "zwanglose Verrücktheiten" und "existenzielle Wackelkontakte", thematisiert die eigene lyrische Tätigkeit nicht zuletzt auch zeitlich:
"selbstportrait als nachtarbeiter // sitze am schreibtisch / trinke bier bedien die tastatur / schaue auf die uhr // nulluhrnull im monitor/ erneutes nichts so beginnt der tag / des jüngsten gedichts"
Und so spielt der Autor in "nulluhrnull" konsequent mit Worten, Lauten, mit Visuellem, Sinnhaftem und scheinbar Sinnlosem, mit Ironie und Ernst, mit Tradition und Postmoderne. Jedes seiner Gedichte ist eine eigene Welt, die die verschiedensten Ausprägungen charakterisieren können, ein Beginn, ein Alles-auf-Anfang.
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