Schwerfällig wie die Rallen hausen die Menschen
In der Reihe Volte ist Schnee über Venedig bei Spector Books erschienen, ein Umkreisungsbuch der beiden Textartisten Alexander Kluge und Ben Lerner, die sich treffen, interviewen, einander zitieren, aufeinander antworten und dieses Buch, auch genannt Kluge-Lerner Container, füllen mitsamt Bildender Kunst von Thomas Demand, Gerhard Richter und R.H. Quaytman. Was diese Namen versprechen, hält das Buch, das fast einen Magazincharakter aufweist. Bilder und Texte, Schnipsel und Stills wechseln sich ab, Gedichte im Original und übersetzt, Ausgangspunkt das von Steffen Popp vor Jahren genial übersetzte Lichtenberg Figuren Werk Lerners, das den kontrollierten Sprudler Kluge zu einer erneuten Kosmogonie aus Fakt und Fiktion verlockt, deren Frische man sich nicht entziehen kann.
Die Gespräche der beiden Künstler, zu Venedig stattgefunden inmitten von Ausstellungen und Flocken, sind klug, witzig und konstruktiv. Ein Füllhorn der Einfälle und Überlappung von Wissenschaftsterminologien mit Poesie, auch neuere Gedichte Lerners finden sich ein. Und immer wieder durchbrechen Fotografien der Beteiligten den perfekt layouteten Container, besonders die schneebematschten Aufnahmen Venedigs schaffen eine ephemere Atmosphäre, einen Melencolia-Parcours, durch den sich die biographischen Anknüpfungspunkte wie Halberstadt, Cage, Benjamin, Engel und "lyrische Entgleisungen" als Themen der Erörterung abspalten. Nie gehen die beiden in verrahmte Dachgeschosse, sie stellen ihre Transporter auf und laden genussvoll zum kritischen Denken ein. Alles wirkt leichtfüßig wie eben der Schnee sein kann und streift doch "härteste Tiefen". Das collagehafte Buch ist mehr als die Summe seiner Teile, und von ihnen ist jedes einzelne ein Universum aus irrationalen Zahlen (Fakten), Buchkonzeptionskunst aus der Zukunft: genial.
"THEORY LIKE SWIMMING IN A STORM"
Sturmvögel, auf andere Weise Abkömmlinge von Sauriern als wir, schwimmen, entgegengesetzt zur Richtung der Tiefausläufer, also gegen den Wind, nach Westen über den Atlantik. Dass sie theoriefähig sind zeigt die Eleganz ihrer Flügel. Die Wolke von Plastikteilen, mikroskopisch klein, aber die Lungenbläschen durchschneidend wie Eisen- oder Glassplitter, umfliegen sie weiträumig. Wo liegt der Sitz ihrer souveränen Kenntnis? Was heißt für sie die "poetische Kraft der Theorie"?
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