Mein greises Kinderherz
Der Münchner Aphaia Verlag hat die 141. Nummer seiner Mitlesebücher herausgebracht, dies sind dünne, hochformatige, fadengeheftete Bändchen mit acetoniertem Umschlag, in denen sich Lyrik und bildnerischer Kommentar, wie es heißt, zusammenfügen und gegenseitig ertüchtigen. Bertram Reinecke füllt unter dem Untertitel Nur gries getupfte Reste von Gesängen die schön gesetzten Seiten mit Sonetten, während den zeichnerischen Kommentar keine geringere als Monika Rinck übernimmt. Eine interessante Mischung. Es gibt die Momente ihrer eher illustrativen Kommentierung in knappen Strichen, aber dann die Momente der Intervention, wenn zwischen Shakespeareschen Reverenzen der Rincksche Federzug „I love L Nebel“ sich einmischt zum Beispiel.
In Reineckes Sonetten, die stets Mischungen aus Sprachepochen aufweisen, in der Mehrzahl jedoch sich Rhythmik und Phrasierung „klassischer“ Silbensetzung beugen, geht es in häufig elegischem Tonfall um Abschiede und Näherungen. Auch politische Kommentare zeigen sich. Dazu Ausflüge in eine typische Reineckesche „strenge Montage“, aus Fremdzeilen und Gefundenem wie zum Beispiel Dante oder angesprochen Shakespeare. Die Gedichte beschwören zu Bewahrendes wie Schellackplatten mit Edith Piaf, Jahreszeiten, letzte Farbe, Kinderorte, Lenden und Liebeserregung. Orte mit Grillgockeln und –warten oder die Vorsaison in Prerow fügen sich zu einem vielgestalten Diorama, dessen bewusster Gebrauchssprachenvokabulartausch die Spannung innerhalb der Gedichte aufrechterhält.
„Vorsaison in Prerow
Nun schwelgt der Ort schon wieder wie ein Schlächter,
Vor dem das keusche Lamm, der Tag, verzagt.
Die nichtigen Remisen schallen echter
In deinem Blick. Und aus den Hängen ragtDer Sommer hoch, wie Puppen, die sich strecken
Noch schüchtern, trübe, grad erwacht.
Aber vom Grund, nach alten Winterschrecken
Steigt Wispern auf: als wäre diese PrachtDie Vorhut eines ungeheuren Heeres
Das lachend und mit vollem Magazin,
Sich naht den lichten Ufern dieses MeeresUm, prächtig ausstaffiert mit Tuch und Stangen
Auf karger Heide unverschämt zu prangen,
In Mauve, Beige, Mint und strahlend Karmesin“
Gefolgt von dem Sonett „Still: Nikolaifriedhof 12.1.2015“, in dem es unter anderem heißt:
„Da steht der sächsische Justizminister
Ist der hier, bin ich auf der falschen Demo
In seinem Amt verfälschen die PhilisterStatistik zu Legidagunsten auch
Wenn ich als Zahl selbst nicht einmal auftauch
Bin ich Gespenst ganz, Volk nicht, Niemand, Nemo.“
In einem recht umfangreichen Quasi-Nachwort namens „Poetologische Anmerkungen ad libitum“ nennt Reinecke nicht nur Quellen, vor allem der strengen Montage, sondern äußert sich zu Beweggründen und Absichten oder Querverweisen einzelner Gedichte. Es bleibt dort etwas die Frage, in wie weit hier beinahe eine Verteidigungshaltung der Form (Warum heute noch Sonette?) sich einschiebt und ob nicht erklärungsloses Stehenlassen mit Quellenverweis einem das misstrauenslose „Mitlesen“ freier ermöglichen würde. Doch Reineckes durchscheinende Belesenheit und Eloquenz macht eigentlich gerade diesen Teil in Verbindung mit seinen Gedichten interessant. Er gehört zu dem Band dazu, stellt selbst die Reihe der zeitgenössischen Sonettenschreiber auf, von Cotten bis Kunst, erläutert Anliegen und Möglichkeiten desselben, zum Beispiel „die Schilderung des situativ persönlichen Eindruck eines Moments“ contra „Sperrung in deutscher Tradition“ gegen denselben – das als Bemerkung zum „Still: Nikolaifriedhof“.
Reineckes Eigenwilligkeit durchzieht die Komposition und die Schau der Tonfälle, derer dennoch in der Mehrzahl etwas Klagvolles, Melancholisches anhaftet:
„So wie ein ausgewaschenes Babylätzchen
Das übrig blieb, wir haben es getragen
Uns zeigt, wie eilig wir durchs Leben hetzen“
Die Kinderperspektive, das „greise Kinderherz“ scheint etwas wie ein Kernhort der Sprachschöpfung zu sein. Die Sonette gehen tief zurück, allein durch ihre alte Form, drücken Urempfindsames aus und verwenden eine artifizielle Sprache. Als richteten sie sich um jeden Preis den besonderen Raum ein, wo Alltagssprache, die Falknerschen „Superkurzen Einsatz- und Bereitschaftssprachen“ oder manipulative Sinneswerber- und Verführersprachen partout keinen Zugang haben. Das Besondere ist der Reineckesche Sprachraum.
„Ich zöger noch, mir jenen Kinderort
Der vag im Geist hängt, groß von Sommerfetzen
Durch neue, klare Bilder zu ersetzen
Denn ich war nie aus freien Stücken dortBesonders hängt das Haus mit seinen Räumen
Mit wirren Stiegen, Stuben, Fluren, Kammern
Die sich zu einem Labyrinth verklammern
Noch zauberhaft in meinen tiefen TräumenIst das ein Traum, wie ihn ein Kind gebiert
Damit frühes leiden sich verliert
Hinreisen hieße, diesen Traum vernichtenIch kann, und muss, so hör ich aus Berichten
Auch andrerseits auf diesen Traum verzichten
Wohl oder übel: Das Haus ist längst saniert.“
Man kann sich vielleicht Reineckes Gedichte als Interieurs denken. Eingerichtet aus Fremden, Gezogenem und persönlichen Ersetzungen, Streichungen, Verfremdungen zu einem eigenen Entwurfsanlass. Ein Antiquitätenzimmer in einer offenen Tradition, dass sich dennoch völlig eigensinnig zur dichterischen Sonne reckt. Man muss nicht die Einladung zum Tee annehmen. Aber man kann. Und dann sind all die Gegenstände, all die Worte und Empfindungen, vielleicht auch Codes im Dialog. Sie kennen sich gut und Reinecke weiß was er tut. Ein souveränes Portrait seiner Dichtkunst nebst Erläuterungen, das ist das Mitlesebuch 141.
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