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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Bettany Hughes zeichnet ein faszinierendes Panorama der Weltstadt

Hamburg

Kaiser Justinian und Kaiserin Theodora stammten aus einfachen Verhältnissen. Er aus einer Bauernfamilie, sie war Tänzerin und Prostituierte. Als sie im sechsten Jahrhundert den Thron bestiegen, traten sie als Reformer an. Unter ihnen sollte Konstantinopel (das sich bis dato kaum über die heutige Altstadthalbinsel hinaus erstreckte) erblühen. Die Mägen sollten voll sein, Gerechtigkeit sollte das „Neue Rom“ bestimmen. Bis heute sind die Überreste von Justinians Herrschaft im Stadtbild präsent. Doch dann wagten unzufriedene Teile der Bevölkerung den Aufstand gegen das eigentlich beliebte Herrscherpaar. Als Justinian sich in die Ecke gedrängt fühlte und um seine Macht fürchtete, ließ er Zehntausende Aufständische niedermetzeln.

Rund 1300 Jahre später verwandelte Sultan Abdulhamid Istanbul in einen Sumpf aus Spitzeln, vor denen niemand mehr sicher war. Hinter jeder Ecke fürchtete der Neurotiker Feinde, und in seinen Kerkern war bald kein Platz mehr frei. Am Untergang des Osmanischen Reiches hatte dieser erratische Herrscher einen beträchtlichen Anteil.

Ob Justinian oder Abdulhamid oder Recep Tayyip Erdogan – die Stadt am Bosporus hat viele größenwahnsinnige Despoten überlebt. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie haben dem Stadtbild ihren Stempel aufgedrückt. Wobei Erdogans Megalomanie in der Geschichte ihresgleichen sucht. Besonders absurd ist dabei sein Rückgriff auf ein verkitschtes Neo-Osmanentum, das mit den vorgeblichen historischen Vorbildern so gar nichts gemein hat – das lässt sich schon an der Stadtgestaltung festmachen. Während den Osmanen ihre blühenden Gärten und grünen Oasen inmitten der Metropole heilig waren, planiert Sultan Erdogan alles, was der Bauindustrie im Weg steht. Er verwandelt die schönste Stadt der Welt in eine Betonwüste.

„Der Himmel dreht sich vergeblich um die Welt, er wird nirgends eine Stadt wie Istanbul finden“, schrieb Nabi Efendi im 18. Jahrhundert. Besucher aus aller Welt hielten ähnliche staunende und ehrfürchtige Sätze über Byzantium / Konstantiniye / Istanbul in ihren Tagebüchern, Berichten, Gedichten, Romanen fest. Jeder einzelne klingt übertrieben. Jeder einzelne stimmt.

In der türkischen Lyrik findet sich bis heute oft das Bild von Istanbul als einer widerspenstigen, unerreichbaren Geliebten, der der Dichter für den Rest seines Lebens hoffnungslos verfällt: Eine, mit der er nicht leben kann, von der er aber nie richtig loskommt. Wer ist diese Stadt? Dieser Frage widmet sich die renommierte britische Historikerin Bettany Hughes in ihrem monumentalen Buch „Istanbul. Die Biografie einer Weltstadt“. Es wäre nicht übertrieben gewesen, lautete der Untertitel „Biografie DER Weltstadt“. Im Original lautet er allerdings bescheidener, in Anspielung auf Dickens, „A Tale of Three Cities“. (Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Held)

Hughes beginnt am Anfang – ganz am Anfang: Und zwar rund 800.000 Jahre v. Chr. So weit zurück datieren archäologische Funde die ersten Ansiedlungen an der Stelle, an der sich das heutige „Tor zur Glückseligkeit“, wie die Istanbullus ihre Stadt nennen, befindet. Von dort ausgehend nimmt Hughes den Leser mit auf einen atemberaubenden Ritt durch die Geschichte, der nicht zuletzt auch ein Ritt durch die Weltgeschichte ist. Aufgrund ihrer geostrategischen Lage war Istanbul stets ein Zankapfel der großen Mächte und Kulturen, und anhand der Kriege, der religiösen und ökonomischen Konflikte mit unzählbaren Toten ist Istanbul auch ein Fanal für die ganze Erbärmlichkeit der Menschheit – und zugleich ein Monument der Hochkultur, dessen globaler Einfluss nicht zu unterschätzen ist. 

In einem wahnwitzigen Detailreichtum führt Hughes durch Istanbul – und immer wieder greift sie auch aktuelle Bezüge auf, erläutert, was Funde zum Beispiel bei den Ausgrabungen des Marmaray-Tunnels an neuen Erkenntnissen brachten, führt uns zu Jahrhunderte und Jahrtausende alten Überbleibseln, die noch heute existieren; manche geht und für den Tourismus aufbereitet, andere vergessen als unscheinbare Steinreste auf Straßenkreiseln oder hinter verwilderten Gebüschen. Ein faszinierendes Buch voller historischer Anekdoten, die eines deutlich machen: Wer die Geschichte dieser Welt, ihrer Religionen, Mächte und Menschen verstehen will, der muss Istanbul verstehen – oder es zumindest versuchen.

 

Bettany Hughes
Istanbul / Die Biographie einer Weltstadt
Aus dem Englischen von Susanne Held. 92 Abbildungen und Karten, farbiger Tafelteil, Lesebändchen, Goldprägung.
Klett-Cotta
2018 · 940 Seiten · 35,00 Euro
ISBN:
978-3-608-96286-4

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