in einem inferno aus licht
Venedig war und ist DIE Sehnsuchtsstadt für viele Tourist*innen, die das ganze Jahr über in die Serenissima strömen und sich durch die Straßen und Kanäle wälzen. Ihre ganz spezielle Mischkulanz aus Schönheit und morbidem Charme wirkte seit eh auch auf Kunstschaffende verschiedenster Gattungen, die von weit her kamen, sich gern und oft länger hier aufhielten, sie manchmal ins Zentrum ihrer Kunstwerke stellten. Man erinnere etwa Lord Byron, August von Platen oder Goethe, denke an Ernest Hemingway, für den Venedig „die schönste Stadt der Welt“, oder Rainer Maria Rilke, für den die Lagunenstadt „das schöne Gegengewicht der Welt“ war. Venedig spielt die Hauptrolle in Donna Leons Krimis und ist Schauplatz von Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“. Richard Wagner bezeichnete sie einst in einem Brief gar als „die ruhigste“ und „die leiseste Stadt der Welt“ – eine heute kaum mehr nachvollziehbare Zuschreibung –, die „absolut der richtige Ort für mich ist“. Er starb übrigens hier 1883 im Palazzo Vendramin-Calergi.
Wie aber wirkt Venedig heute auf einen Dichter, wie auf einen Mittvierziger, der schon mehrere Lyrikbände publizierte, der nicht als Tourist kommt, sondern nun eigens aus Deutschland hierher reist und sich eine Zeit lang vor Ort aufhält, die Stadt auf sich wirken lässt und seine Eindrücke in Worte fassen möchte? Davon erzählt dieses Buch, davon geben die vorliegenden Texte einen dichten Eindruck, die zudem Andeutungen über das Wo, Wie und Warum des Aufenthalts geben:
Carl-Christian Elze weilte im Sommer 2016 einige Wochen als Stipendiat am Centro Tedesco di Studi Veneziani. Er residierte im Palazzo Barbarigo della Terrazza in San Polo, direkt am Canal Grande. Sein Vorhaben war, sich poetisch mit der Stadt auseinanderzusetzen. Möglicherweise war die Serenissima zuvor auch für Elze eine Sehnsuchtsstadt, darüber gibt das Buch keine Auskunft, wohl aber über seinen Wunsch,
mit einem bundesstipendium
voller hunger nach zeilen
Poesie erblühen zu lassen. Elze demonstriert die eindrückliche Geschichte seines Scheiterns an dieser Stadt, in der „alles schwingt in einem rhythmus von flucht und überfall zugleich“. Alles ist ihm zu groß, zu laut, zu heiß, zu hell,
ein krisengebiet für jede synapse
Und Elze demonstriert die nicht minder eindrückliche Geschichte seiner Flucht in die Kunstwelt, genauer: das Eintauchen in sakrale Kunst, die Betrachtung von Altären und Gemälden, die Stationen rund um Christi Geburt und sein Leiden und Sterben thematisieren. Trypticha und dreiteilige Klappaltäre werden immer wieder von ihm in Gedichtform errichtet, manchmal durchsetzt mit komprimierten oder abgewandelten Bibelzitaten, und auch das Buch selbst ist eine Art Tritychon, denn es ist gegliedert in drei Kapitel, die die Titel caput I, II und III tragen und durch einen Pro- und einen Epilog ergänzt werden.
versuch zu sehen
was niemand sieht
heißt es programmatisch in einem der Texte. Es ist die Beschreibung eines dichterischen Vorhabens und zugleich Befehl des Dichters an sich selbst. Er durchstreift Venedig, stolpert dabei
von palast zu palast, über plätze ohne bäume
in einem flirrenden strahlengang. – all deine sicherungen
brennen durch, all deine sicherheiten. deine augen schwellen an
Er unternimmt immer wieder neue Anläufe, sich Venedig zu erobern und für seine Poesie fruchtbar zu machen, immer wieder neu werden seine Sinne überreizt und überflutet, vor allem seine Augen, das mit Abstand häufigste Nomen dieses Buchs. Wenn er zurückkommt in seine Herberge, jenen Palazzo,
der mir nichts bedeutet // der mich nicht wärmt, der mir seine größe aufdrängt / wie ein impotenter herrscher,
verliert er den Faden, kann seine Eindrücke nicht in Worte fassen. Und er beginnt, an der Kraft des Wortes zu zweifeln.
wie konnte ich glauben, venedig zu bestehen
hadert Elze. Der Ausdruck „auf den Hund gekommen“ drängt sich bei der Lektüre wiederholt auf, vor allem dann, wenn er in Fantasien und Träumen Verwandlungen in jene Vierbeiner imaginiert. Der Dichter sehnt sich nach ungestörter Anschauung und Kontemplation, möchte Ruhe in seinem Kopf. Stattdessen erfüllt ihn Aufruhr und allgegenwärtige Überforderung inmitten all des Gleißens, Flirrens und Dröhnens. Dass er mit sich, der Stadt und ihrer aggressiven Schönheit kämpft, lässt ihn gelegentlich sogar zu martialischem Vokabular greifen und kriegerischen Worten wie Schützengraben, Folterkammern, Raketen, Fliegerstaffeln oder Luftangriff. Und er flieht in Kirchen, beginnt Museen aufzusuchen. Es sind Altarbilder und Gemälde mit biblischen Szenen venezianischer Künstler wie Bellini, Tintoretto und Carpaccio, die er nun eingehend betrachtet, in denen er mit den Blicken herumspaziert, in sie hineinkriecht, Gesehenes abbildet, sie mit dem Heute poetisch in Beziehung setzt und sich selbst ab und zu empathisch kommentierend einbringt. Es sind stumme Begegnungen mit den abgebildeten Menschen, während er sich im realen Venedig kaum mit menschlichen Wesen austauscht.
Was das Buch auszeichnet, ist Elzes genauer, liebevoller Blick auf Details, auf scheinbare Kleinheiten und Winzigkeiten, womit er seinem Vorhaben, nach dem zu suchen, was keiner sieht, aufs Trefflichste gerecht wird. Statt Menschen betrachtet er einer Unzahl von Tieren und lässt seine Fantasie Purzelbäume über die Realität schlagen, erzählt metaphorisch vom Drama eines Taubenjungen, das „vom himmel fiel“, von Kinderschreien „gepresst aus möwenköpfen“, von Fliegen, Eidechsen, Fischen und Wasserschildkröten, von Katzen, Pferden und immer wieder von Hunden. Der Dichter erinnert an andere Künstler, etwa an Richard Wagner, und lässt Thomas Manns Figur Aschenbach in seinen Gedichten auftreten. Nicht zuletzt durch die betrachteten Kunstwerke findet er zur Ruhe und wenn er auch offensichtlich keinen Frieden mit der Stadt schließt, so entdeckt er doch ein paar ihm gemäßere Plätze in Venedig, etwa die Insel Sant’Erasmo, die ihm ihre „goldbarren zeigt: frische küken“ und reich bestückte Äcker, „ein tintorettotraum von auberginen und tomaten“, stille Ecken abseits der Touristenströme, die ihn zur Ruhe kommen lassen und „glücklich atmen“, und sei es beim Blick aus seinem Fenster ins „müllparadies eines schachts“ oder beim Spaziergang durch „ein labyrinth aus urin und grasbüscheln“, fern jeder lauten „Idylle“, doch endlich ganz bei sich.
Anmerkungen:
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Das Werk liegt zweisprachig vor. Die Übersetzungen stammen von Daniele Vecchiato, sind gedruckt auf gelbem Papier, setzen sich daher auch farblich ab und bilden den zweiten Teil des Buchs.
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Wie im Verlagshaus Berlin üblich, sind dem Buch Illustrationen beigefügt, die von der Zeichnerin Lilli Gärtner stammen. Ich bin keine Fachfrau, maße mir daher auch kein Urteil an, möchte bloß anmerken, dass sie mich nicht ansprechen.
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